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Detective Henry Sobol hob den Beweismittelbeutel aus dem Waschbecken der Parkplatztoilette. Sein Inhalt, vier Handvoll abgetrenntes Fleisch, von denen drei aus der Toilette gefischt worden waren, glänzte unter dem durchsichtigen Plastik. Es war schwerer, als es aussah, dunkel, beinahe purpurn, und die großen Fleischmedaillons waren ausgefranst, wie mit einer gezahnten Klinge abgeschnitten. Blut und Toilettenwasser bildeten in einer Ecke des Beutels ein rosa Saftdreieck. Es hatte nicht das keimfreie Aussehen von einem Stück rosa Fleisch unter Frischhaltefolie im Supermarkt; für das hier war etwas getötet worden. Oder jemand hatte versucht, ein Kebab aus etwas zu machen, das er überfahren hatte.
»Wo haben Sie das noch mal gefunden?«, fragte Henry.
Der Polizist, der ihn angerufen hatte, stand mit seinem Hut in der Hand neben Henry. Das Neonlicht in der Toilette verlieh seiner Haut einen hellgrünen Schein. »Im Klo«, sagte der Streifenbeamte und nickte in Richtung einer offenen Kabine. »Wir haben einen Notruf erhalten. Eine Familie meldete Blut in der Toilette. Ich fuhr her.« Er zuckte mit den Achseln. »Hab sie mit dem Saugnapf bearbeitet. Das hier kam raus.« Vielleicht liegt es nicht an der Beleuchtung, dachte Henry. Vielleicht sieht der Mann grün aus, weil ihm speiübel ist. Der Polizist schluckte heftig. »Der Gerichtsmediziner hält es für eine Milz.«
Der Gerichtsmediziner des Hood River County sah Henry an und nickte leicht. Er trug ein T-Shirt und Cargoshorts und hatte die wettergegerbte Haut, die anscheinend alle Leute in Hood River hatten, vom Snowboardfahren, Windsurfen und was sie sonst noch alles trieben hier draußen.
Henry kratzte sich mit der freien Hand den rasierten Schädel.
»Für mich sieht das nicht nach einer Milz aus.«
Claire Masland erschien neben ihm, die goldene Dienstmarke an einem Riemen um den Hals. Vor zwei Stunden waren sie in seiner Wohnung gewesen. Claire hatte da weniger Kleidung am Leib gehabt.
Der Pathologe zog die Hände zu den Hüften hoch. »Verzeihung«, sagte er. »Lassen Sie mich klarstellen.« Er machte eine Hackbewegung mit einer Hand. »Es ist eine Milz, die auseinandergeschnitten wurde. Und dann in eine Toilette gestopft.«
Henry legte das blutige Päckchen in das Waschbecken zurück.
Seit zwei Monaten ging das nun schon so, seit Gretchen Lowell, der Beauty Killer, geflohen war. Die Task Force Beauty Killer arbeitete rund um die Uhr und ging Hinweisen nach. Sie hatten beim ersten Mal zehn Jahre gebraucht, um sie zu fassen. Dieses Mal wussten sie, wie sie aussah. Die Task Force hatte sich verdoppelt. Und trotzdem war sich Henry nicht sicher, ob sie Gretchen erwischen würden. Sie verschwendeten zu viel Zeit damit, falschen Spuren zu folgen. Ein Selbstmord im Fluss. Schüsse aus einem fahrenden Auto in North Portland. Was es auch war, die Leute vermuteten Gretchen Lowell dahinter.
Henry wusste, dass es Hysterie war. Gretchen hatte kein Opferprofil. Sie behauptete, zweihundert Leute getötet zu haben. Man hatte sie für den Mord an sechsundzwanzig verurteilt und die Liste um weitere zwanzig ergänzen können, nachdem sie in Haft gewesen war. Männer, Frauen, Schwarze, Weiße, es spielte keine Rolle. Gretchen war eine Serienmörderin der Chancengleichheit. Außerdem war sie größenwahnsinnig, und sie hinterließ immer eine Signatur.
Claire entfernte sich. Henry dachte bereits ans Nachhausekommen. Um elf lief Co-Ed Confidential im Fernsehen, und Claire hatte gesagt, sie würde es sich mit ihm ansehen. Er räusperte sich. »Wahrscheinlich haben ein paar Jugendliche ein Organ in der Fleischerei gekauft«, sagte er, »um irgendwen zu Tode zu erschrecken.«
»Vielleicht«, sagte der Gerichtsmediziner. »Das kann ich erst feststellen, wenn ich es im Labor habe. Aber von der Größe her könnte es menschlich sein.«
Der Streifenpolizist packte seinen Hut ein wenig fester. »Wir dachten, wir sollten Sie lieber verständigen«, sagte er.
Gretchen hatte einigen ihrer Opfer die Milz entfernt. Sowohl vor als auch nach deren Tod. Aber sie hatte Leichen auf ihrem Weg zurückgelassen, keine Organe. »Das war nicht Gretchen Lowell«, sagte Henry. Es passte nicht. Keine Leiche. Keine Signatur. »Es ist nicht ihr Stil.«
»Henry«, sagte Claire. »Sieh dir das an.«
Henry drehte sich zu ihr um. Sie stand mit dem Gesicht zur gegenüberliegenden Wand, hinter den Kabinen. Auf dem Boden hatte sich Wasser gesammelt, wo die Toilette übergelaufen war, und Henry musste darum herumgehen. Seine Aufmerksamkeit wechselte zwischen seinen neuen schwarzen Cowboystiefeln und dem Spiegelbild seiner mächtigen Gestalt in der Pfütze. Als er bei Claire ankam, blickte er auf.
Das Graffito war neu. Andere gekritzelte oder gekratzte Betrachtungen waren von den sauber ausgeführten, dicken roten Linien überdeckt worden. Dieselbe Form, ein ums andere Mal. Henrys Nackenhaare sträubten sich, er straffte die Schultern. »Scheiße«, sagte er.
»Wir müssen es Archie sagen«, drängte Claire leise.
»Archie Sheridan?«, fragte der Polizist. Er trat vor, seine schwarzen Stiefel patschten durch die Pfütze.
Archie hatte die Task Force geleitet, die Gretchen gejagt hatte. Es hatte ihn zum berühmtesten Polizisten im Bundesstaat gemacht, im Guten wie im Schlechten.
»Ich habe gehört, er wird stationär behandelt«, sagte der Gerichtsmediziner vom Waschbecken her.
Stationäre Behandlung, dachte Henry. Was für ein hübscher Euphemismus. »Offiziell ist er Zivilist, bis sein Geisteszustand für unbedenklich erklärt wird«, sagte Henry.
»Wir müssen ihn anrufen«, wiederholte Claire.
Henry blickte wieder zu der Wand. Hunderte winziger Herzen, mit einem roten Filzstift exakt ausgeführt. Sie bedeckten alles, löschten alles aus. Das Herz war Gretchens Signatur. Sie meißelte es allen ihren Opfern ein. Sie hatte es Archie eingemeißelt.
Und jetzt war sie wieder da.