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Susan sank tief in den Fahrersitz und wartete, wie es ihr Henry befohlen hatte. Sie hatte das Glas größtenteils von ihrem Sitz geräumt und ein paar verirrte Brocken von ihrem Top geschüttelt. Es war dunkel unter der Brücke. Susan wünschte, sie hätte in der Nähe einer Laterne geparkt. Der Wagen wackelte, wenn oben ein LKW vorbeifuhr. Beinahe war sie dankbar, als sie das Heulen der Sirenen hörte, das sich näherte.
Susan reckte den Kopf. Polizisten fielen über das Lagerhaus her wie Kunden am ersten Tag des Schlussverkaufs über ein Billigkaufhaus. Sie gingen durch alle Türen gleichzeitig rein.
Sie rutschte wieder tiefer, bis ihr Kopf auf Höhe der Gangschaltung war. Sie griff sich eine alte Papierserviette, die seit zwei Wochen auf dem Wagenboden lag, und drückte sie an ihre Wange. Sie roch nach Ketchup.
Noch mehr Sirenen waren zu hören. In Susans Rückspiegel blinkte es rot, weiß und blau.
»Bleiben Sie in Ihrem Wagen, bis ich da bin«, hatte Henry zu ihr gesagt. »Versprechen Sie es.«
Susan fummelte am Türgriff.
Aber alle diese Polizisten wussten nicht, wo Archie war. Sie schon.
Was also tun? Einfach ins Gebäude rennen und die ganze Sache erklären? Sie versuchte, sich das Szenario vorzustellen. Es endete damit, dass sowohl sie als auch Archie wegen unerlaubten Betretens verhaftet wurden. Und was, wenn Archie den Kerl am Ende tatsächlich geschnitten hatte? Wie würden sie das erklären?
Scheiße.
Sie blickte auf das Telefon in ihrer Hand. Sie hatte die Polizei von dem Handy aus angerufen, das Archie von einem Drogendealer bekommen hatte.
Vielleicht nicht der schlaueste Schachzug.
Sie griff in das Handschuhfach und kramte das andere Gerät hervor, das sie Archie dort hatte verstauen sehen.
Das rote Nachrichtenlicht blinkte. Wozu brauchte Archie zwei Handys? Vielleicht war es nicht seins. Vielleicht bewahrte er es für jemanden auf. Sie selbst stahl immer versehentlich die Handys anderer Leute. Wahrscheinlich lagen drei oder vier davon auf dem Rücksitz herum. Wahrscheinlich gab es auf ihrem Rücksitz noch Telefone mit Wählscheibe, so lange war es her, seit sie ihren Wagen zuletzt sauber gemacht hatte.
Sie drückte auf die Annahmetaste, und eine SMS erschien.
»WIE GEHT ES DIR, LIEBLING?«
Susan schnürte es die Kehle zu.
Sie konnte ihren Daumen nur mit Mühe ruhig genug halten, um durch das Verzeichnis der Mitteilungen zu scrollen.
Es gab Hunderte von SMS. Alle vom selben Anrufer. Alle mit derselben Nachricht.
»WIE GEHT ES DIR, LIEBLING?«
»WIE GEHT ES DIR, LIEBLING?«
»WIE GEHT ES DIR, LIEBLING?«
Liebling. So nannte Gretchen Archie.
Sie versuchte, Kontakt mit ihm aufzunehmen.
Susan schaute in das Verzeichnis der hinausgehenden Anrufe. Es gab einen an die Nummer, von der die SMS geschickt worden waren. Er hatte sie angerufen.
Es klopfte am Wagenfenster, und Susan hätte das Handy beinahe fallen lassen. Sie blickte auf und sah Henry.
Sie ließ das Handy in ihre Tasche gleiten.
»Ich habe im Wagen gewartet«, sagte sie.
»Zeigen Sie mir, wo er ist«, sagte Henry.
Susan stieg aus und schlug die Tür hinter sich zu. Henry war bereits fünf Schritte voraus, und sie musste laufen, um ihn einzuholen. Die Straßen im Großmarktbezirk waren breit, mit alten Eisenbahnschienen darin. Ein weiterer Streifenwagen kam angesaust und hielt schräg vor dem Lagerhaus.
»Wenn man die Notrufnummer wählt, schicken sie echt die Armee«, sagte Susan.
»Ich habe Unterstützung angefordert«, sagte Henry. »Ich will Sie ja nicht desillusionieren, aber in der Notrufzentrale hat man Ihre Meldung von einem wahnsinnigen, maskierten Piercer als nicht sehr glaubwürdig eingestuft.«
Sie hatte sich wohl schlecht ausgedrückt. Aber sie hatte panische Angst gehabt. »Oh.«
Claire kam angetrabt. »Sie haben den Keller durchsucht«, sagte sie. »Konnten niemanden finden. Aber sie haben das hier entdeckt.« Sie hielt eine Beweismitteltüte mit einer Pistole darin in die Höhe. »Und das hier.« Sie hielt Susans rote Handtasche hoch.
Susan nahm die Handtasche.
Henry warf ihr einen misstrauischen Blick zu. »Haben Sie die Waffe schon mal gesehen?«, fragte er.
Es war die Waffe, die Archie von Jack Reynolds bekommen hatte, dessen war sie sich sicher. »Ich kenne mich mit Waffen nicht sehr gut aus«, sagte sie. Sie wandte sich an Claire. »Was soll das heißen, sie haben niemanden gefunden?«
»Sie haben die Waffe in dem Raum gefunden, von dem Sie gesprochen haben – dem alten Kesselraum«, sagte Claire. »Aber da ist niemand. Sie durchsuchen den Keller weiter. Dann gehen wir Stockwerk für Stockwerk durch. Wir haben das Gebäude abgeriegelt, falls sich also noch jemand darin befindet, kommt er nicht raus.«
»Haben Sie jemanden gehen sehen?«, fragte Henry.
»Ich habe mich in meinem Wagen versteckt«, sagte sie. Sie war wütend auf sich selbst. Sie hätte das Gebäude im Auge behalten sollen. Henry hatte gesagt, sie solle im Wagen warten. Er hatte nicht gesagt, sie solle sich darin verstecken. Gretchens kranke Freunde wussten, dass sie Hilfe holen würde. Natürlich hatten sie sich aus dem Staub gemacht.
»Susan«, sagte Henry. Er fasste sie an den Schultern. »Das ist jetzt wichtig.« Sie konnte sehen, wie er um die richtige Formulierung rang. »Ist er mit ihnen weggegangen?«, fragte er schließlich. »Oder haben sie ihn verschleppt?«
Es war eine naheliegende Frage. Archie war früher schon freiwillig mit Verrückten gegangen. Aber er hatte sie selbst aus dem Keller geschafft. Er hatte gewusst, dass die Leute gefährlich waren. »Ich weiß nicht«, sagte Susan. Sie wusste nicht mehr, wozu Archie in der Lage war.
»So oder so«, sagte Henry, »halte ich Archie fürs Erste aus der Sache raus.«
»Es könnte sein, dass er mit ihnen gegangen ist«, sagte Susan. »Falls sie versprachen, ihn zu Jeremy zu bringen.«
»Jeremy?«, sagte Henry.
»Jeremy Reynolds.«
Henry holte tief Luft und wechselte einen Blick mit Claire. »Jeremy Reynolds hat mit dieser Geschichte zu tun?«
»Archie hat ein Bild von ihm in Fintan Englishs Wohnung gesehen«, sagte Susan.
Henry schüttelte den Kopf. »Er hat Jack Reynolds besucht«, sagte er.
Susan zuckte nichtssagend die Achseln.
»Werden wir Archies Fingerabdrücke auf dieser Waffe finden?«, fragte Henry.
Susan schaute auf ihre Füße und nickte.
Wäre Henry eine Zeichentrickfigur gewesen, aus seinen Ohren wären jetzt Dampfwolken gekommen.
Claire senkte die Stimme. »Geh an deinen Glücksort«, sagte sie.
Henry stemmte die Hände in die Hüften und blickte zum Nachthimmel hinauf.
Susan dachte, dass sie jetzt ebenso gut alles erzählen konnte. »Die Leute von dieser Sekte, die sagten, Jeremy erinnert sich, was passiert ist. Mit Gretchen, Sie wissen schon.«
Henry fuhr zu ihr herum. »Das ist Blödsinn.«
»Archie ist nicht dieser Meinung«, sagte Susan. »Einer der Typen hatte diese Narben auf der Brust. Schnittspuren. Ein Herz. Und dieses komische Dreiecksmuster. Er sagte, Jeremy hat es gemacht.«
»Woher konnte er von den Dreiecken wissen?«, sagte Henry an niemand Bestimmten gerichtet.
Ein rothaariger Streifenbeamter mit einem Dienstausweis, auf dem WHATLEY stand, tauchte neben Henry auf. »Verzeihen Sie, Detective«, sagte er. »Welches Verbrechen untersuchen wir hier?«
Henry wies mit einem Nicken auf Susan. »Tätlicher Angriff.«
Whatley sah Susan bedächtig an. Sie hatte die Serviette im Wagen gelassen. Ihre Wange blutete nicht mehr. Sie kam sich schlecht vor. Als würde sie jemanden enttäuschen.
»Sie müssen eine große Nummer sein«, sagte Whatley und kratzte sich am Kinn. »Das ist ein Riesenaufwand für einen tätlichen Angriff.«
Susan lächelte ihn strahlend an. »Es ist wirklich tröstlich, dass unsere Polizei so geballt reagiert«, sagte sie.
»Gehen Sie wieder an die Arbeit«, sagte Claire.
»Schon gut«, erwiderte Whatley, machte kehrt und ging ins Lagerhaus zurück.
Henry neigte den Kopf nahe zu Susan. Er war nicht rasiert, und sein Kopf und sein Kinn wiesen denselben Anflug von Haarwuchs auf. »Wo ich heute auch hingekommen bin«, sagte er, »überall habe ich Sie angetroffen, bis zu Ihren purpurnen Haar spitzen in Gefahr.«
»Die wollten Archie und mich da reinziehen«, sagte Susan. »Sie haben das alles inszeniert.«
Henry warf frustriert die Hände hoch. »Gretchen ist da draußen und bringt Leute um. Im Augenblick kümmern mich Fintan English oder Jeremy Reynolds einen feuchten Dreck. Und Sie sollten sich auch nicht mit ihnen befassen.«
»Was, wenn es zusammenhängt?«, fragte Susan.
»Sie haben Blut am Kinn«, sagte er.
Susan wischte mit dem Finger über den Fleck, sah ihn an und steckte den Finger in den Mund. Es schmeckte süßsauer. »Ketchup«, sagte sie.