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Sie hatten das Blut auf dem Boden im Pausenraum aufgewischt. Archie konnte das Bleichmittel immer noch riechen. Auf der Station hieß es, der Psychologe habe genäht werden müssen, Courtenay nicht. Sie war wieder in ihrem Zimmer, eingesperrt. Sie hatte den ganzen Nachmittag dasselbe Lied gesungen. »High Hopes« von Frank Sinatra. Man hörte es über den ganzen Flur.
He’s got high hopes … high apple pie, in the sky hopes.
Archie hoffte, dass es lustig gemeint war.
»Meine Schwester kommt zu Besuch«, sagte Frank von der Couch her.
»Ja, Frank«, sagte Archie.
Archie hatte nach dem Abendessen geduscht, sich umgezogen und die Zähne geputzt. Sie aßen um fünf, wie alte Leute. Jetzt trank er Kaffee aus einer Tasse, auf der die gezeichneten Buchstaben für MONTAG auf einer Psychiatercouch liegen. In einer Sprechblase sagt Montag: »Alle hassen mich.«
Archie trank einen Schluck und sah zur Uhr. Halb sieben. Debbie war immer pünktlich. Er beobachtete, wie sich die Zeiger der Uhr am unteren Rand trafen, dann blickte er zum Eingang des Aufenthaltsraums. Debbie stand dort an die Tür gelehnt und lächelte ihm zu. Die Sommerbräune, die sie von der Gartenarbeit bekommen hatte, war verblasst. Es gab keinen Garten in ihrer sicheren Wohnung in Vancouver. Trotzdem war sie schöner denn je. Kurzes, dunkles Haar, ein schwarzes Sommerkleid, die nackten Arme über Kreuz, silberne Armringe an den Handgelenken. Sie sah jünger aus, beinahe glücklich.
Ben und Sara stürmten an ihr vorbei in den Raum und liefen zu Archie. Je älter sie wurden, desto ähnlicher sahen sie ihr. Ihre Sommersprossen. Das feine, glatte Haar. Die langen Gliedmaßen. Es machte Archie glücklich, so wenig von sich selbst in ihnen zu erkennen; vielleicht würde ihnen beträchtliches Leid erspart bleiben. Er umarmte sie beide, atmete den süßen Duft des Shampoos in ihrem dunklen Haar ein, hielt sie beide eine Sekunde länger fest, als sie es wollten.
Sie wechselten im Herbst die Schule. Aber selbst wenn Debbie nicht umgezogen wäre, hätte sie ihnen niemals erlaubt, in ihre alte Grundschule zurückzukehren. Nicht nach allem, was dort passiert war. Es war der erste Ort gewesen, an den Gretchen nach ihrer Flucht gegangen war.
»Lasst euren Vater und mich einen Moment allein«, sagte Debbie. Die Kinder sahen sie an, und Archie nickte und küsste sie beide auf den Kopf. Sie gingen und setzten sich auf die Couch vor dem Fernsehgerät.
Sara streifte ihre Turnschuhe ab, zog die Beine unter sich auf die Couch und setzte sich neben Frank. Es war nach dem Abendessen, und alle außer Frank und Archie waren draußen zum Rauchen. Freizeit.
Tierarztnotruf lief immer noch. Es musste eine Dauersendung sein.
»Ist das, wo die Katze stirbt?«, fragte Sara.
»Die Folge mit dem Frettchen«, sagte Frank.
»Gut«, sagte Sara.
Debbie wartete einen Moment, bis die Kinder in der Sendung versunken waren, dann ging sie zu Archie. »Was ist los?«, fragte sie. Sie hatte die Arme noch immer verschränkt. Er konnte sie riechen. Dasselbe Shampoo wie die Kinder, aber andere Gerüche mischten sich hinein – eine Moschuslotion und ein Parfüm, das er nicht kannte.
Sie hatten sich vor fast zwanzig Jahren im College ineinander verliebt. Es fiel ihm immer noch schwer, sich ein Leben ohne sie vorzustellen. Aber er achtete darauf, dass sie es nicht sah. Er wollte nicht alles noch schwieriger machen, als es bereits war.
»Was meinst du?«, sagte er und dachte an das Telefon in seiner Tasche.
»Sie ist wieder da«, sagte Debbie.
»Sie ist eine Serienmörderin«, sagte Archie. »Es war nur eine Frage der Zeit, bis es wieder losgehen würde.«
»Ich dachte, sie wäre geflohen«, sagte Debbie. »Sie sei weit weg.« Sie machte eine hilflose Geste. »Irgendwo auf einer Eisscholle.«
»Es wird sie wohl gelangweilt haben, Eskimos umzubringen«, sagte Archie.
Die Balkontür ging auf, zwei Frauen kamen herein und setzten sich an einen Tisch in der Nähe des Fernsehers. Eine der Frauen war während Courtenays Zusammenbruch im Flur gewesen.
»Wann wird das enden?«, sagte Debbie und schloss die Augen.
»Wenn sie tot ist«, erwiderte Archie schlicht.
Debbie öffnete die Augen und sah ihn an. Dann schaute sie zu den Kindern hinüber. Die Tierärzte im Fernsehen operierten ein Frettchen, das ein Matchboxpolizeiauto geschluckt hatte. Sara und Ben saßen gebannt nebeneinander.
»Ich bringe das in Ordnung«, sagte Archie ruhig. »Egal, was dazu nötig ist.«
Debbie wandte den Kopf langsam zu ihm zurück. »Wie willst du es in Ordnung bringen?«, sagte sie. »Du bist in einem Nervenkrankenhaus.«
»Ich bezeichne es lieber als Klapsmühle«, sagte Archie.
»Die Medien belagern mein Haus«, sagte Debbie. Sie setzte sich gegenüber von ihm an den Tisch, wo Henry am Morgen gesessen hatte. »Diese Charlene Wood von Channel 8 ist aufgetaucht und begann mit einer Live-Übertragung vor unserem Gebäude«, sagte sie. Sie warf erneut einen Blick zu den Kindern und senkte die Stimme. »Wie beim Vorbericht zu einem Spiel. Als würde Gretchen zur Anstoßzeit dort auftauchen.«
»Sie wird euch diesmal nicht belästigen«, sagte Archie.
Debbie zuckte, biss sich auf die Zähne und kniff die Augen zusammen. »Ich habe vergessen, wie gut du sie kennst«, sagte sie. Kennst. Das Wort stand hässlich zwischen ihnen. Er verdiente es. Er verdiente jedes Gift, das sie über ihm ausschüttete. Sein Betrug war ungeheuerlich gewesen.
Debbie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid«, sagte sie.
»Ich bin der Ehebrecher«, sagte Archie. Er wusste, er konnte froh sein, dass sie ihn die Kinder überhaupt sehen ließ. »Ich wollte nur sagen, dass ich weiß, wie sie denkt.«
»Dann geh zurück an die Arbeit. Sie ist seit zwei Monaten auf der Flucht. Sie kriegen sie ohne dich anscheinend nicht.«
Ein Krankenhausangestellter kam herein. Er sah Archie nicht an. Er sah überhaupt niemanden an. Er ging zum Kühlschrank, nahm einen Karton mit Essen aus einem Imbiss heraus und setzte sich zwei Tische entfernt. Archie erkannte ihn – es war der Psychologe, den Courtenay verletzt hatte.
»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Debbie.
Hinter ihr kam ein weiterer Angestellter durch die Tür, der einen Mopp vor sich her schob. Es war George, der Pfleger. Debbie drehte sich um, um zu sehen, worauf Archie blickte. »Was ist?«, fragte sie.
Archie spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten, und dieses Gefühl, beobachtet zu werden, war wieder da. Er sah sich im Raum um. Minuten zuvor waren sie allein gewesen. Er versuchte, an andere Besuche zurückzudenken, und erkannte, dass das immer passierte, wenn die Kinder da waren – Leute lungerten in Hörweite herum. Er war so dumm. Wenn Gretchen ihn im Auge behielt, würde sie nicht einfach jemanden im Krankenhaus haben – sie würde jemanden auf der Station haben.
Debbie strich ihm eine Haarsträhne hinter das Ohr und zog ihre Hand wieder zurück. »Du brauchst einen Haarschnitt«, sagte sie.
Archie lächelte sie zerstreut an. »Ich lasse mir einen Pferdeschwanz wachsen«, sagte er.
»Wenn du das tust«, erwiderte sie, »bringe ich dich eigenhändig um.«
»Dafür würdest du nur dann mildernde Umstände bekommen, wenn wir noch verheiratet wären«, sagte Archie.
»Ich bin bereit, dafür zu sitzen«, sagte sie.
Er beobachtete, wie sie zu den Kindern ging, sie auf die Stirn küsste und sich verabschiedete. Er suchte die Gesichter im Raum nach einer Reaktion ab, nach einem Hinweis auf zu viel Interesse.
Er könnte das ausnutzen. Er konnte seine Kinder als Köder einsetzen, um zu sehen, wer unter einem Vorwand zu nahe kam, wer zu lange im Pausenraum blieb.
Debbie war zur Tür gegangen und blieb dort stehen, um einen Blick auf ihn zurückzuwerfen. Das schwarze Sommerkleid war dünn, und er konnte den Umriss ihrer Oberschenkel durch den Stoff sehen.
Debbie lauschte einen Moment und neigte das Ohr in die Richtung, wo Courtenays Zimmer lag. »Ist das …?«, fragte sie.
»High Hopes«, sagte Archie.
»Die müssen euch auf gute Medikamente gesetzt haben hier«, sagte sie.
Sara kreischte. Mit dem Frettchen auf dem Operationstisch war etwas schiefgegangen.
Frank nahm Saras Hand.
»Warte«, sagte Archie zu Debbie.
Er ging zu ihr, nahm sie am Arm und brachte sein Gesicht an ihres, als wollte er sie auf die Wange küssen. Stattdessen flüsterte er ihr ins Ohr. »Lass die Kinder nicht da.«
Sie zuckte zusammen.
Archie zog den Kopf zurück, seine Miene war ausdruckslos, er hielt sie weiter am Arm.
Debbie sah ihn stirnrunzelnd an. Dann ließ sie den Blick langsam im Raum herumwandern.
Jemand anderer hätte Archie vielleicht für verrückt gehalten. Aber Debbie wusste, wozu Gretchen fähig war.
Ihr Blick kehrte zu ihm zurück, und er sah einen Funken Angst in ihren Augen. Gut. Sie nahm ihn ernst.
»Macht einen Ausflug«, flüsterte er.
Debbie nickte kaum merklich, und er ließ ihren Arm los.
»Euer Vater fühlt sich nicht wohl«, rief sie den Kindern zu. »Wollt ihr euch einen Film ansehen?«