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Jeremy hatte Archies Wunden verbunden und ihm ein Handtuch gegeben, auf dem er sitzen konnte. Archie saß nackt im Schneidersitz gegenüber von Jeremy, der ebenfalls nackt in der gleichen Stellung saß. Zwischen ihnen auf dem Boden stand ein Skalpellkoffer.
»Könnte ich mich eventuell wieder anziehen?«, fragte Archie.
»Ich muss dich sehen können«, sagte Jeremy.
Er hob das Skalpell auf und hielt es in der Weise, wie es ihm Archie in dem Keller gezeigt hatte, wie ein Speisemesser, und die andere Hand streckte er aus und fuhr mit den Fingern über die herzförmige Narbe auf Archies Brust.
Jeremys Brust war vollkommen zerfleischt. Zum Teil sah das Narbengewebe sehr alt aus, blass und gedehnt, als würde er sich schon seit Jahren auf diese Weise verletzen. Schnittspuren zogen sich an seinen Rippen hinauf und quer über seinen Bauch, und eine dünne Narbe lief auf der rechten Seite am unteren Rippenbogen entlang – wo sich der Einschnitt für eine Entfernung der Milz befinden mochte. Sie war nicht dick genug, um von mehr als einem oberflächlichen Kratzer zu stammen. Jeremy wollte so aussehen, als hätte man ihm die Milz entfernt. Er wollte so aussehen wie Archie.
Seine Beine und die Innenseiten der Oberschenkel waren über und über von demselben Dreiecksmuster bedeckt, das sie bei Isabel gefunden hatten. Manche der Narben waren kaum wahrnehmbar, andere waren frisch. Er verstümmelte sich schon sehr lange.
Jeremy bewegte die Finger von Archies Herz weg und fuhr die zwölf Zentimeter lange, senkrechte Narbe in der Mitte seines Rumpfs nach. »Was ist das für eine?«, fragte er.
Es war die einzige Narbe, die ihm nicht Gretchen beigebracht hatte, eine kräftige, funktionale Linie, die sich wie eine andere Handschrift von den übrigen Narben unterschied. »Ich hatte innere Blutungen, als man mich ins Krankenhaus brachte«, sagte Archie. »Sie mussten mich noch einmal aufmachen und den Schaden beseitigen, den Gretchen bei der Entfernung der Milz angerichtet hatte.« Es war die Narbe, zu der Archie am wenigsten Bezug hatte, denn anders als bei denen, die von Gretchen stammten, hatte er keine Erinnerung daran.
»Fintan hätte es so oder so gemacht«, sagte Jeremy. »Er hätte es selbst gemacht.«
Archie blickte auf das Skalpell in Jeremys Hand. Er musste ihn hinhalten. »Du hast Fintan English im Ferienlager kennengelernt«, sagte er.
Jeremys Gesicht war schlaff, sein Blick ging ins Leere. »Wir waren zusammen auf der Highschool«, sagte er. »Fintan war genauso kaputt wie ich.« Er bewegte die freie Hand zum Oberarm und rieb geistesabwesend an den dreieckigen Narben, als wären sie die Quelle eines alten Juckreizes. In der anderen Hand hielt er immer noch das Skalpell, das Handgelenk ruhte auf seinem Knie. »Er wollte seine Milz raushaben«, sagte Jeremy. »Er sprach von nichts anderem. Niemand nahm ihn ernst. Außer mir. Ich habe ein paar Bücher gelesen. Und im Internet recherchiert. Ich habe Anweisungen ausgedruckt.«
Archie dachte an die Ziegenmilz, die sie in der Parkplatztoilette gefunden hatten. »Ihr habt mit Ziegen geübt.«
»Ihre Milz hat in etwa dieselbe Größe«, sagte Jeremy. »Das habe ich ebenfalls im Internet gelesen.«
»Wie ist es den Ziegen ergangen?«, fragte Archie.
»Sie sind alle gestorben«, sagte Jeremy. Er beugte sich vor, so weit, dass Archie seinen Atem auf dem Gesicht spüren konnte, und er brachte seinen Mund dicht an Archies Ohr. »Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt, sie zu sein«, sagte er. »Gretchen Lowell zu sein.« Seine Lippen strichen über Archies Ohr. »Und es hat mir gefallen. Es hat mir gefallen, ihn aufzuschneiden. In seinen Körper zu greifen. Ich mochte den Geruch.« Jeremy hielt inne. »Es hat mich an Isabel erinnert.«
Archie strengte sich an, nicht zu reagieren. Jeremy stellte ihn auf die Probe.
Jeremy lehnte sich zurück und sah Archie lange an. »Du kannst gehen«, sagte er.
Archie nickte. »Ich weiß.«
»Aber du bist noch hier.«
»Weil ich an dir interessiert bin, Jeremy.«
Jeremy blickte auf das Skalpell hinab. »Du warst nett zu mir, als ich jünger war«, sagte er. »Meinen Vater und meinen Bruder habe ich nur daran erinnert, was mit Isabel passiert ist – ich habe es in ihren Gesichtern gesehen, wenn sie mich anschauten.«
Jeremys Oberlippe begann zu zucken, und Archie konnte das Kind, das er vor langer Zeit kennengelernt hatte, in dem jungen Mann sehen, der vor ihm saß. Verloren, beschädigt, wütend. Jeremy kniff die Augen zusammen. »Ich habe mir gewünscht, dass du mich wegholst«, sagte er. Seine Mundwinkel gingen nach unten, und seine Lippen zitterten, während er gegen Tränen kämpfte. »Du weißt, was sie treiben.« Er hob die Stimme. »Sie sind Kriminelle.« Seine Miene war so voller Schmerz, dass es Archie das Herz brach. »Warum hast du mich nicht geholt?«
Archie hatte nie daran gedacht. Er war so darauf konzentriert gewesen, den Beauty Killer zu fangen, den Mord an Isabel aufzuklären und Jeremy vor der Presse zu schützen, dass er nie daran gedacht hatte, ihn vor seinem Vater zu schützen. »Es tut mir leid«, sagte Archie. Es war wirklich alles, was er sagen konnte.
Jeremy begann zu weinen. Er weinte wie ein Kind, schaukelte mit laufender Nase vor und zurück, das Gesicht rosa und hässlich. Gretchen hatte Archie versaut, aber Jeremy Reynolds hatte sie zerstört.
Jeremy schluchzte tief auf, saß einen Augenblick lang vollkommen still und hob dann ruhig das Skalpell, um es unter seiner linken Brustwarze in die Brust zu drücken.
»Tu es nicht«, sagte Archie. »Bitte.« Er beobachtete, wie Jeremy die Klinge über die Herznarbe zog, die sich dort befand, um sie der Narbe auf Archies eigener Brust ähnlicher zu machen. Aber Jeremy drückte zu fest, und die Haut platzte auf und teilte sich, Blut sickerte aus dem massiven Schnitt.
Archie packte Jeremys Handgelenk. »Das ist zu tief, Jeremy«, sagte er. Der Junge zitterte, sein Gesicht war fiebrig, und das Skalpell glitt immer noch durch Haut und Muskeln. Archie musste das Skalpell aus Jeremys Fingern bekommen. »Was hältst du davon, wenn ich mich so schneide, dass ich wie du aussehe?«, sagte er.
Jeremy erstarrte und blickte auf. Es war das erste Mal, dass Archie etwas wie Klarheit und Festigkeit in seinem Blick sah. Es war noch nicht zu spät.
Archie streckte die Hand aus, Handfläche nach oben. »Gib es mir«, sagte er.
Jeremy zog das Skalpell aus seinem Fleisch und sah es blinzelnd an. Dann wischte er die blutige Klinge am Rand des Handtuchs ab, auf dem er saß, und gab Archie das Skalpell.
Und wartete.
»Okay«, sagte Archie.
Jeremy war nahe. Archie hatte das Gefühl, sein Vertrauen gewonnen zu haben. Seinen Test bestanden zu haben. Jetzt konnte er auch das tun. Er hatte zehn Tage Folter in den Händen von Gretchen Lowell überlebt. Was waren da ein paar Narben mehr?
Er blickte auf Jeremys Arme und Oberschenkel, auf die dreieckigen Narben, die Narben, die Gretchen Isabel zugefügt hatte und keinem ihrer übrigen Opfer.
Er ließ die Klinge auf seinen Oberschenkel sinken, auf die Innenseite, direkt über dem linken Knie, und zog das Skalpell über die Haut. Es war leicht. Die Klinge war scharf, und es tat nicht weh. Sofort bildete sich eine zwei Zentimeter lange Linie aus Blut.
»Sie hatte einen Socken mit einem Ziegel darin, und damit schlug sie Isabel immer auf den Kopf«, sagte Jeremy.
Archie blickte auf.
Jeremy erinnerte sich tatsächlich.
Und obwohl Archie wusste, dass er an Jeremys fragile Psyche denken sollte, daran, den Fall abzuschließen und noch mehr Beweise gegen Gretchen zusammenzutragen, war er nur zu einem Gedanken fähig: Ich bin nicht allein.
Und er war froh. Darum ging es ihm im Grunde, nicht wahr? Er wollte, dass sich Jeremy erinnerte, weil es bedeuten würde, dass es noch jemanden gab, der Bescheid wusste. Jemanden, der überlebt hatte. Jemand, der so beschädigt war wie Archie.
Er wollte nicht allein sein.
Sie beide wollten es nicht.
Jeremy starrte an ihm vorbei. Das halb geschnittene Herz auf seiner Brust blutete immer noch, und Jeremy musste Blut an seine Hände bekommen haben, denn es war über sein Gesicht und auf dem Arm verschmiert.
»Sie schwang den Socken mit Wucht«, sagte er. »Er traf sie hier.« Er berührte seinen Schädel hinter dem linken Ohr. Archie erinnerte sich an Isabels Autopsiebericht. Es stimmte mit der Stelle einer kleinen Fraktur überein, die der Gerichtsmediziner gefunden hatte. »Dann hat sie sie gefesselt.«
Jeremy hielt inne und sah Archie an, sein Blick huschte zu dem kleinen Schnitt, den Archie an seinem Oberschenkel zuwege gebracht hatte.
Archie hob das Skalpell wieder und zog eine weitere Linie Blut in seinen Oberschenkel. Er tat es langsam diesmal. Er musste vorsichtig sein. Wenn er nur den leisesten Druck ausübte, würde das Skalpell zu tief schneiden.
Jeremy fuhr fort. »Isabel war auf dem Rücksitz. Ich war auf dem Beifahrersitz. Sie hat mich nicht gefesselt. Wir haben nicht geredet. Sie fuhr in den Wald mit uns.« Seine Stimme war jetzt ausdruckslos, distanziert, als würde jemand die Einzelheiten eines Traums berichten. Archie wischte sein Blut vom Skalpell auf das Handtuch.
»Es muss eine Forststraße gewesen sein«, sagte Jeremy. »Sie musste aussteigen und eins von diesen Gattern öffnen. Wir fuhren sehr lange. Sie sagte nichts. Isabel wachte auf und weinte auf dem Rücksitz. Ich konnte sie hören, aber ich traute mich nicht, mich umzudrehen oder etwas zu sagen.«
Archie drückte die Klinge wieder in sein Fleisch. Vier Kinder wurden als mutmaßliche Opfer von Gretchen geführt, alle waren gefoltert worden und trugen ihre Herz-Signatur auf der Brust. Archie hatte Gretchen nie dazu bringen können, sich zu einem davon zu bekennen. Sie hielt sie als den letzten Preis zurück, immer gerade außer Reichweite.
»Wir hielten am Rand des Wegs«, sagte Jeremy. »Und Gretchen stieg zu meiner Schwester auf den Rücksitz.«
Archie drückte die Klinge fester hinein. Er wollte es spüren. Er hatte es verdient. Gretchen hatte die Kinder wie Bonbons vor ihnen baumeln lassen. Aber Archie hatte nie gewollt, dass sie gestand, denn er hätte ihre Geständnisse anhören müssen, hätte hören müssen, was sie ihnen angetan hatte, und es mit all den Nächten in Beziehung setzen müssen, die er mit seinem Glied in der Hand an sie gedacht hatte.
»Sie schnitt sie mit einem Schablonenmesser«, sagte Jeremy. »Sie hatte eine Packung Klingen, und wenn eine stumpf wurde, ersetzte sie sie durch eine neue. Isabel schrie. Sie sah so verängstigt aus. Gretchen schnitt eine ihrer Brüste ab. Sie sagte, Amazonen hätten sich eine Brust abgeschnitten, weil sie dann leichter mit einem Bogen schießen konnten. Als sie die Brust vom Muskel abgetrennt hatte, warf sie sie aus dem Fenster und sagte: ›Jetzt ist sie eine Amazone.«‹
Archie fühlte etwas. Aber es war nicht Schmerz – es war Abscheu. Und zum ersten Mal seit Jahren war er nicht nach innen gerichtet. Er verabscheute Gretchen. Er wollte, dass Jeremy weitererzählte. Er wollte jedes blutige Detail wissen. Weil er sie mit jedem Schrecken, den sie begangen hatte, nur noch mehr hasste. Die Wut pulsierte wie Endorphine durch seine Blutbahn.
»Ich weiß nicht, wie lange es dauerte«, sagte Jeremy. »Stunden. Nach einer Weile wurden Isabels Augen glasig, und sie wurde sehr bleich und schlaff. Gretchen setzte eine neue Klinge ein und schnitt ihr die Kehle durch. Sie zeigte mir, wie man es macht. Sie sagte, es sei etwas, das jeder wissen sollte. Kleine Blutblasen kamen aus Isabels Hals. Nachdem sie tot war, schnitt Gretchen ein Herz in sie. Erst da wusste ich, wer sie war. Der Beauty Killer. Ich hatte ein paar von den Berichten in den Nachrichten gesehen. Wir saßen lange da. Es wurde dunkel. Ich fing zu weinen an, und Gretchen hielt mich im Arm und strich mir über das Haar. Sie sagte danach nichts mehr. Ich glaubte, sie sei wütend auf mich. Wir saßen den ganzen nächsten Tag und die Nacht in dem Auto. Ich stieg aus, um zu pinkeln. Und dann stieg ich wieder ein. Sie stieg auch ein paarmal aus. Am zweiten Tag sagte ich, ich sei hungrig, und sie ließ den Wagen an und fuhr in die Stadt zurück. Sie parkte, stieg aus und ging weg. Ich wusste nicht, ob sie zurückkommen würde. Ich wusste nicht, ob sie erwartete, dass ich ihr folge. Also wartete ich. Und nach einer Weile schlief ich wieder ein.«
Archie legte das blutige Skalpell auf die Schale.
Jeremy saß da und schüttelte den Kopf. »Warum hat sie mich nicht getötet?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Archie.
»Sie hat sich um mich gekümmert.«
»Sie hat dich gefoltert«, sagte Archie sanft. »Ebenso sehr, wie sie deine Schwester gefoltert hat. Nur musstest du damit leben. Es gab keinen Grund.« Er sprach genauso zu sich selbst wie zu Jeremy. »Du warst ihr egal. Du schuldest ihr nichts.«
Jeremy begann zu weinen. »Es tut mir leid«, schluchzte er. »Ich habe diese Leute getötet. Ich habe einen Mann getötet, den ich schlafend im Park vorgefunden habe, und ein Mädchen, das ich als Anhalterin mitgenommen habe. Einen anderen Mann habe ich in mein Auto gelockt, indem ich ihm Arbeit anbot. Ich habe sie getötet und ihre Augen aufbewahrt. Weil sie mich an Isabels Augen erinnerten. Tote Augen, wie ihre.«
»Du hast sie an Gretchens Tatorten platziert.«
»Ich wollte, dass sie mich bemerkt.«
Archie sah Jeremy an – den Müll, den Gretchen in den Rinnstein geworfen hatte – und gelobte sich, alles für ihn zu tun, was er konnte. »Du steckst in Schwierigkeiten«, sagte Archie. »Leute sind tot. Du hast eine Journalistin gestochen …« Er fuhr nicht fort, da Jeremy nicht in der Verfassung zu sein schien, den Anklagepunkt unerlaubtes Vornehmen medizinischer Eingriffe zu erörtern.
»Hilf mir«, flehte Jeremy.
»Dein Vater wird dir einen guten Strafverteidiger besorgen«, sagte Archie. Sie waren beide beschädigt. Wie sie sich so gegenübersaßen mit ihren nackten, verwüsteten Oberkörpern, hatte Archie das Gefühl, in einen Spiegel zu schauen. »Das kommt wieder in Ordnung«, sagte Archie. »Du wirst Hilfe bekommen. Alles wird gut.«
Die Lichter flackerten.
Archie blickte auf. Etwas stimmte nicht.
Die Decke des Raums schien sich ihm entgegenzuwölben, und Archie schüttelte den Kopf und sah Jeremy an, um festzustellen, ob der es ebenfalls gesehen hatte. Doch Jeremy schaute nicht zur Decke hinauf. Er sah Archie an, und ein leises Lächeln spielte um seine Lippen.
»Wir sollten hier verschwinden«, sagte Archie. Ihm wurde warm, sein Kopf schwamm. Vielleicht war sein Blutdruck von der Hängeprozedur noch im Keller. Er versuchte aufzustehen, aber sein Magen machte einen Satz, als würde sich der Boden rasch auf und ab bewegen oder als wären sie in einem Boot bei starkem Wellengang, und er fiel auf die Knie.
Er schaute zu Jeremy, ob er es diesmal bemerkt hatte, aber Jeremy hatte sich nicht gerührt. Er saß immer noch da wie ein Mönch und beobachtete ihn. Dann gingen seine Augen zu der Flasche mit dem Zuckerwasser.
»Was hast du getan?«, fragte Archie. Ein warmes Kribbeln lief an seinem Rückgrat nach oben und an seinen Armen hinab, und er versuchte erneut aufzustehen, aber seine Beine versagten den Dienst.
Es kam ihm alles entsetzlich bekannt vor.
Archie versuchte, einen Arm zu heben, nach Jeremy auszustrecken, aber sein Gesichtsfeld schloss sich bereits, und in seinem Kopf drehte sich alles. Er fiel nach vorn in Jeremys Arme. Er hörte ein fleischiges Schmatzen und begriff nach einer Weile, dass es das Geräusch gewesen war, mit dem sein eigener Kiefer an Jeremys knochige Schulter geknallt war. Archies Gesicht rutschte ein Stück nach unten und kam an Jeremys haarloser und von Narben übersäter Brust zur Ruhe. Archie schmeckte Blut aus Jeremys Wunde, vermischt mit seinem eigenen Speichel, er hörte Jeremys Herzschlag, während sich sein eigener Puls unnatürlich verlangsamte. Es erforderte seine ganze Energie, nur ein einziges Wort zu sagen, das als kaum wahrnehmbares Krächzen über seine Lippen kam: »Phentobomin.«
»Ja«, sagte Jeremy. Er hielt Archie im Arm und wiegte ihn. Archie konnte es nicht spüren, er spürte überhaupt nichts mehr, aber er nahm die Bewegung durch ein stecknadelgroßes Guckloch aus Licht und Farbe wahr. »Es ist das, womit Gretchen dich betäubt hat, als sie dich entführte«, sagte Jeremy. »Ich habe es in Das letzte Opfer gelesen.« Er schlüpfte unter Archies Gewicht hervor und rollte ihn sanft auf den Rücken. »Die Wirkung lässt in einer halben Stunde etwa nach«, sagte Jeremy. Es schien ihm aufrichtig leidzutun. Was in keiner Weise wiedergutmachte, dass er Archie nackt und betäubt auf einem Betonboden zurückließ.
»Geh nicht weg«, sagte Archie. Es kam allerdings als »Gench« heraus.
Jeremy entfernte sich ins Dunkel. »Ich will nicht ins Gefängnis«, hörte ihn Archie sagen. »Dorthin darf ich meine Spielsachen nicht mitnehmen.«
Archie versuchte, wieder zu sprechen. Aber seine Zunge war viel zu groß, zu dick, sein Mund zu trocken, und dann war Jeremy verschwunden.
Es war nur ein Satz. Drei Worte. Aber er konnte sie nicht bilden.
Dreh mich um.
Gretchen Lowell war Krankenschwester gewesen. Sie wusste, wie man Phentobomin einsetzte. Jeremy hatte es wahrscheinlich über das Internet bestellt. Er hatte Angst. Er kannte sich nicht aus.
Er wusste nicht, dass er Archie nicht auf dem Rücken liegen lassen sollte. Dass Archie bewegungsunfähig war. Dass er den Speichel, der sich in seinem Rachen sammelte, nicht entfernen konnte.
Die Lichter flackerten, während Archie dem Rasseln seines mühsamen Atems lauschte. Er bemühte sich, die Lungen langsam auszudehnen, so viel Sauerstoff wie möglich aufzunehmen. Aber sein Körper ließ ihn im Stich. Sein Puls erhöhte sich. Er konzentrierte sich darauf, zählte Herzschläge, versuchte, weitere zwanzig Schläge am Leben zu bleiben, weitere zehn. Seine Lungen schmerzten. Das Rasseln verwandelte sich in ein hässliches Brummen. Jede Zelle seines Körpers sehnte sich danach, ausgiebig Luft zu holen, aber er konnte nichts tun, als dazuliegen und an seiner eigenen Spucke zu ersticken.
Ein angenehmer schwarzer Strudel hüllte ihn ein, als seine Lungen den letzten Vorrat an Sauerstoff preisgaben.
Archie wehrte sich dagegen. Er befahl seinem Körper zu atmen, nur noch ein paar Minuten länger am Leben zu bleiben. Er kämpfte und strengte sich an und zwang seine Lungen, einen dünnen Luftstrahl einzusaugen.
Und während er das tat, drückte ein Händepaar an seinen Körper und drehte ihn auf die Seite.