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Archie saß auf dem Boden des Geschenkladens, umgeben von Zeitschriften, die Newsweek offen im Schoß. Bilder von Gretchen lächelten ringsum zu ihm herauf. Er hatte insgesamt siebenundzwanzig Artikel über sie gefunden. Den in Newsweek hatte er zuerst gelesen. Er war voller Entschuldigungen. Sie konnte nichts dafür. Es lag an der Gesellschaft.
Archie konnte sich nicht erinnern, dass ihm die Gesellschaft ein Skalpell in die Brust gedrückt hatte.
Es gab auch Fotos von ihm. Wie er an einem Tatort stand. Das Krankenhaus verließ. Der Mann, den sie zweimal zu töten versucht hatte. Sie zeichneten ihn als eine Art Held. Es verkaufte sich wohl besser, nahm Archie an, als die Wahrheit. Die Einzelheiten über ihren letzten Zusammenstoß waren skizzenhaft. Henry war es gelungen, die konkreten Umstände, die dazu geführt hatten, dass Archie sich ein weiteres Mal Gretchens Gnade ausgeliefert sah, unter Verschluss zu halten. Er erholte sich von seinen Verletzungen. Sie war auf der Flucht.
Die Wirklichkeit war düsterer.
Archie berührte ihr Foto in Newsweek. Es war vor dem Gerichtsgebäude aufgenommen worden. Sie hatte sich abgewandt in ihrer blauen Gefängniskleidung, die Hände in Handschellen, das Haar lose, ein perfektes Profil, wie ein Bild von einer Münze. Als er die Hand wegnahm, blieb auf der Seite ein Fingerabdruck zurück.
Er drehte seine Hände herum und betrachtete die Handflächen. Er schwitzte wieder.
Gott, wie gern hätte er ein Vicodin geschluckt.
Er wischte sich die Hände an der Vorderseite seiner Hose ab und spürte das Mobiltelefon in der Tasche. Er zog es heraus. Keine neuen Nachrichten.
»Falls Sie sich für sie interessieren, wir haben das Buch«, sagte die alte Frau hinter dem Ladentisch. Archie blickte auf. Sie hatte mehrere Engel aus einem Karton geräumt, vor sich auf dem Tisch aufgereiht und spähte nun über sie hinweg.
Archie sah sich selbst in diesem Augenblick, wie er aussehen musste, auf dem Boden, umgeben von Zeitschriften, die bei Artikel über Gretchen aufgeschlagen waren. Er steckte das Handy wieder in die Tasche.
Die alte Frau neigte den Kopf in Richtung Schaufensterauslage, wo sich ein Stapel von Das letzte Opfer neben einem Dutzend Exemplaren von Die fünf Menschen, die dir im Himmel begegnen türmte.
Archie schlug die Newsweek zu, stand auf und stellte sie ins Regal hinter ihm zurück. »Ich habe schon eins«, sagte er.
Er machte sich daran, die Hefte vom Boden aufzusammeln, um sie ins Regal zurückzustellen, und warf dabei einen Blick zu der alten Frau. Hinter ihr lief immer noch das kleine Fernsehgerät, und Archie glaubte für einen Moment, Gretchens Gesicht auf dem Schirm gesehen zu haben. Er stand in halb gebückter Haltung da, überzeugt, sich alles nur einzubilden, als Schriftzeichen auf den Bildschirm wirbelten und die Zeile BEAUTY KILLER AUF DER FLUCHT: TAG 76 bildeten.
Die Schriftzeichen gingen in Flammen auf.
Archie richtete sich auf. »Machen Sie lauter«, sagte er.
Die alte Frau sah ihn skeptisch an. Sie drehte sich langsam zum Fernsehschirm um, dann blickte sie wieder zu ihm und auf die Zeitschriften zu seinen Füßen.
»Machen Sie lauter«, wiederholte Archie. Er ging auf den Ladentisch und den Fernseher zu.
Sie zog die Stirn kraus, hielt inne, nahm noch einen Engel aus der Schachtel, um ihn auf den Tisch zu stellen, und dann holte sie eine Fernbedienung aus der Tasche ihres Kittels und drückte auf einen Knopf.
Ein Sprecher in einem metallisch blauen Regenmantel des Senders KGW tauchte mit einem Mikrofon in der Hand auf, im Hintergrund war Pittock Mansion zu sehen. Auf dem Gelände war ein menschlicher Kopf gefunden worden. Dann gab es einen Schnitt zu einem anderen Sprecher in einem weiteren blauen KGW-Mantel, der vor einem mit Brettern verschlagenen Haus stand. In dem Haus hatte man eine Leiche gefunden. Die Polizei gab keine Einzelheiten bekannt.
In einer Weitwinkeleinstellung sah Archie für einen Moment, wie Henry in das Haus ging.
Archie langte nach dem Handy, das normalerweise am Gürtel seiner Hose befestigt war, und fand keins. Sein Handy hatte man auf der Station weggesperrt.
Aber er hatte noch eins.
Er ließ die Hand in die Tasche gleiten, aber er zog das Gerät nicht heraus.
Die alte Frau verfolgte inzwischen mit gefurchter Stirn die Fernsehsendung, eine Hand hatte sie immer noch um die Statue eines knienden Engels mit Heiligenschein auf dem Kopf geschlossen.
»Darf ich Ihr Telefon benutzen?«, fragte Archie.
Sie hatte keinen Grund, es ihm zu erlauben, aber sie streckte die Hand nach einem beigefarbenen Telefon auf dem Tisch aus und gab es Archie. »Sie müssen eine Neun vorwählen«, sagte sie.
Archie wählt die Neun und dann Henrys Handynummer. Henry meldete sich nach dem dritten Läuten.
»Was ist los?«, fragte Archie.
»Von wo rufst du an?«, fragte Henry.
»Vom Geschenkladen im Krankenhaus.«
Er spürte, wie Henry zögerte. Archie war beurlaubt. Er hatte kein Recht, Informationen über eine polizeiliche Ermittlung zu erfahren. »Susan Ward hat einen Tipp bekommen und eine Leiche in einem leer stehenden Haus in North Fargo gefunden«, sagte Henry. »Und jemand hat einen Kopf über den Zaun oben beim Pittock Mansion geworfen.«
Sie hatten eins von Gretchens Opfern in den Gartenanlagen beim Pittock Mansion gefunden, nur wenige Monate bevor sie gefasst worden war. Sie hatte sich bisher nie wiederholt. Aber es konnte kein Zufall sein. »Augen?«, fragte Archie.
»Der Kopf ist zu stark verwest, als dass es sich feststellen ließe«, sagte Henry. »Robbins sieht ihn sich gerade an. Die Leiche im Haus hat Augen. Ist noch frisch. Der Mann wurde irgendwann in der Nacht getötet.«
Archie warf einen Blick zum Bildschirm zurück, wo KGW-Moderatorin Charlene Wood nun am Tatort stand und einen Zuschauer interviewte. »Ist es Gretchen?«, sagte Archie.
Henry schnaufte. »Neben der Leiche sind Herzen an die Wand gemalt«, sagte er. »Wie auf dem Parkplatz. Susan hat die Zeitung angerufen. Die Neuigkeit hat sich sofort verbreitet. Überall sind Reporter.«
Archie schnürte es wieder die Kehle zu. »Geht es Susan gut?«, fragte er.
»Sie nervt gewaltig«, sagte Henry. »Will die Quelle nicht verraten, von der sie den Hinweis hat.«
Archie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Parker wäre stolz auf sie.«
»Ja, toll, dass sie so viel Mumm als Journalistin entwickelt, aber das hilft mir bei der Verbrechensbekämpfung leider nicht weiter«, sagte Henry. »Es sieht aus, als würde die Milz des Opfers fehlen. Das ist noch nicht öffentlich«, fügte er an. »Wird es aber bald sein.«
Die alte Frau packte einen weiteren Engel aus.
»Ich kann dir einen Wagen schicken«, sagte Henry.
Archie drehte sich um und sah in den Flur hinaus. Er überlegte, ob er Henry alles erzählen sollte, aber das konnte er nicht, ohne das Handy aufzugeben. Und was sollte er überhaupt sagen? Ich glaube, sie hat jemanden im Krankenhaus, der mich ausspioniert? Ich habe so ein Gefühl?
Er würde wie ein Verrückter klingen.
»Ich fühle mich noch nicht in der Lage dazu«, sagte Archie. Er brauchte sie nicht zu finden. Sie würde ihn finden, davon war er überzeugt.
»Kommt deine Familie trotzdem heute Abend?«, fragte Henry.
Debbie brachte die Kinder jeden Mittwoch vorbei. Es war etwas, worauf sich Archie normalerweise freute, aber bei all der Aufregung hatte er ganz vergessen, welcher Tag war. »Sie kommen trotzdem«, sagte er und rieb sich die Augen.
»Sag einen schönen Gruß.« Henry zögerte und fügte dann in einem Tonfall, als würde er möglicherweise spüren, dass etwas nicht stimmte, hinzu: »Ich schaue später mal vorbei.«
»Ist gut«, sagte Archie. Er legte das Telefon auf die Feststation zurück und warf einen Blick zum Fernseher. Dort lief bereits wieder Perry Mason.
»Das sind Sie, nicht wahr?« Die alte Frau neigte den Kopf wieder in Richtung Schaufensterauslage.
»Nein«, sagte Archie.
Die Frau nickte. »Sie sind dieser Detective.«
Sie hob einen Engel auf und hielt ihn ihm hin. Zu den Füßen des Engels war eine Messingplakette mit einer hübschen Inschrift. Zwei Worte. Behüte mich.
Sie legte ihm den Engel in die Hand.