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Als Archie aufwachte, glaubte er einen Moment lang, alles sei nur ein Traum gewesen. Dann sah er Henry auf dem Plastikstuhl neben seinem Bett sitzen. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber der Himmel hatte einen hübschen, zart violetten Ton.
»Du bist hier hereingekrochen und eingeschlafen«, sagte Henry. »Du warst völlig weg.«
Archie rieb sich das Gesicht und schaute zu Franks Bett hinüber. Er war fort. »Es muss an dem Schlafmittel liegen«, sagte er. Er erinnerte sich nicht einmal mehr daran, wie er in sein Zimmer gekommen war.
»George Hay ist tot«, sagte Henry. »Eine Überdosis Vicodin.« Er sah Archie an. »Netter Zug, was?«
»Er muss mehr genommen haben als ich«, sagte Archie.
Henry sah Archie ohne eine Spur von Erheiterung an. Er hatte die Lesebrille in die Stirn geschoben und schnippte sie jetzt wieder auf die Nase, um einen Blick in sein Notizbuch zu werfen, das offen in seinem Schoß lag. »Wir haben uns die Bänder der Überwachungskamera angesehen«, sagte er. »Hay ging um 20.48 Uhr in ihr Zimmer und um 20.52 wieder hinaus.« Vier Minuten, mehr brauchte es nicht, um ein Leben auszulöschen. Henry fuhr fort: »Sie hatte um 20.30 ihr Beruhigungsmittel bekommen. Sie lag auf dem Bauch. Die Überwachungskamera in ihrem Zimmer ging um 20.46 aus. Er muss sie unbrauchbar gemacht haben, ehe er hineinging.« Henry fuchtelte mit der Hand, ohne aufzublicken. »Anscheinend fallen sie manchmal vorübergehend aus, weshalb die Schwestern nicht weiter beunruhigt waren.« Er überflog eine neue Seite in seinem Notizbuch. »Wie es aussieht, hat der erste Schnitt ihr Rückenmark durchtrennt, weshalb sie nicht geschrien hat. Er hat ihr mehrmals in den Rücken gestochen, und dann muss er sie umgedreht und die Decke über sie gezogen haben. Sie ist ziemlich schnell verblutet.«
»Und dann blieb er einfach die ganze Zeit hier?«, fragte Archie. Courtenay war um neun tot gewesen, aber ihre Leiche wurde erst Stunden später entdeckt. Hay hätte jede Menge Zeit gehabt zu fliehen. Stattdessen war er einer der Ersten gewesen, die auf den Schrei der Schwester reagiert hatten.
Henry nahm die Brille ab und legte sie auf das Notizbuch. »Ein kriminelles Genie war er wohl nicht gerade.«
Archie schwang die Füße auf den Boden und stützte den Kopf in die Hände. »Wie ist Gretchen an ihn herangekommen?« Er versuchte, sich an jede Interaktion mit George zu erinnern, und fragte sich, an welchem Punkt sich Gretchen an ihn herangemacht hatte.
»Wir gehen seine Telefonverbindungen durch, befragen Nachbarn, Freunde. Er wurde vor Kurzem geschieden. Keine Kinder. Seine Exfrau sagt, er hatte angefangen, jemanden zu treffen, aber sie wusste nicht, wen, und niemand hat sie je gesehen.«
Wie immer.
Wie viele Männer hatte sie dazu gebracht, für sie zu töten? Archie hatte ihre Leichen gesehen, wenn sie mit ihnen fertig war. Aber wie viele von ihren schlafenden Agenten waren noch da draußen und warteten, bereit zu tun, was sie verlangte?
»Sie hat ihn offenbar benutzt, um dich im Auge zu behalten«, fuhr Henry fort. Er sah Archie an. »Gibt es etwas, was du mir sagen willst?«
Archie ließ die Hände sinken und blickte auf. Das Handy. Verdammt. Was hatte er mit dem Handy gemacht? Er erinnerte sich, es bei sich gehabt zu haben, als er einschlief. Dann musste er es liegen gelassen haben, als er zu Courtenays Zimmer ging. Was hatte er damit gemacht, als er wieder zu Bett gegangen war? Er versuchte, die Panik zu verschleiern, die sich ohne Frage auf seinem Gesicht breitmachte, und sich auf die Unterhaltung zu konzentrieren. »Wann, glaubt seine Exfrau, hat die Beziehung angefangen?«
»Vor zwei Monaten«, sagte Henry.
Sie hatten gedacht, sie sei geflohen, habe das Land verlassen. Aber sie war die ganze Zeit hier gewesen. Sie waren nie sicher gewesen. »Sie hat die Stadt gar nicht verlassen«, sagte Archie.
»Warum tötet sie Courtenay Taggart?«, fragte Henry.
Archie sah aus dem Fenster. Hätte er Courtenay nicht dazu überredet, das Stück Furnier herzugeben, würde sie noch leben. Sie hätte sich nichts angetan, nicht damit. Sie hatte sich die Adern quer aufgeschnitten, verdammt noch mal. Sie wollte nur, dass man sie beachtete. Aber er hatte den Helden spielen müssen. Und es hatte Courtenay das Leben gekostet. »Ich war nett zu ihr«, sagte er leise.
»Archie«, bat Henry. »Du musst jetzt reinen Tisch machen. Hat Gretchen mit dir Kontakt aufgenommen?«
Archie blickte zu Boden, um zu sehen, ob das Handy aus dem Bett gefallen war. Es war nicht da. »Nein«, sagte er.
Henry nagte an seiner Unterlippe, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Das Plastik ächzte unter seinem Gewicht. »Debbie ist gestern Abend abgereist«, sagte er und taxierte Archie mit hochgezogenen Augenbrauen. »Sie und die Kinder. Zu einem ausgedehnten Urlaub. Sie hat mich vom Flughafen aus angerufen.«
»Sie konnte einen Urlaub gebrauchen«, sagte Archie.
»Klar«, sagte Henry. »Es ist reiner Zufall, dass sie unmittelbar nach einem Besuch bei dir abgehauen ist.« Er zögerte und kratzte sich im Nacken. »Was ich nicht verstehe, ist, dass nicht alles für dich ist.« Er sah Archie an. »Was immer sie da draußen treibt. Es gibt keinen Zusammenhang.«
Natürlich. Archie war so auf die Ereignisse auf der Station konzentriert gewesen, dass er den größeren Zusammenhang aus den Augen verloren hatte. Der Parkplatz. Pittock Mansion. Das leer stehende Haus. Augäpfel und alte Leichen. Gretchen tat nichts ohne Plan. Vielleicht sollte Archie hinter diesen Plan kommen. Vielleicht bestand darin das Spiel.
»Habt ihr den Kopf schon identifiziert?«, fragte Archie.
»Nein«, sagte Henry. »Männlich. Man hat ihm die Augen entfernt. Der DNA-Test wird ein paar Tage dauern, aber die Blutgruppe stimmt mit einem der Augenpaare von dem Parkplatz überein. Robbins glaubt, dass der Bursche schon ein paar Jahre tot war. Er glaubt, irgendwer hat seine Augen in Formaldehyd aufbewahrt.«
Es ergab keinen Sinn.
»Der unbekannte Tote, den Susan gestern gefunden hat.« Henry hielt inne. »Robbins hat mich angerufen. Seine Augen wurden entfernt und ersetzt. Die in seinen Augenhöhlen waren anscheinend ein paar Jahre alt.«
»Lass mich raten«, sagte Archie. »Sie waren in Formaldehyd eingelegt.«
»Gretchen hat offenbar eine kleine Augapfelsammlung. Die Leute sammeln alles Mögliche, Einhörner, Gürtelschnallen …« Er spreizte die Finger. »Du hast Glück, dass sie dir nur die Milz genommen hat.«
»Stimmt«, sagte Archie. »Sie hätte auch mein Einhorn nehmen können.«
Henry lachte nicht.
Archie konnte jetzt die Sonne von seinem Bett aus sehen, ein orangefarbenes Kreissegment über dem Horizont. »Sie wollen, dass ich verschwinde, nicht wahr?«, sagte Archie.
Henry stand auf. »Sie sind um die Sicherheit der Patienten besorgt. Dich eingeschlossen.« Er klappte seine Brille zu, hakte sie im Hemdkragen ein und ließ das Notizbuch in die Tasche seiner Jeans gleiten. »Du kannst bei mir wohnen. Vorübergehend. Bis uns etwas anderes eingefallen ist.«
Eine hübsche gepolsterte Zelle in New Hampshire vielleicht.
Henry trat vor Archie und schielte auf ihn hinab. Seine breite Brust hob sich mit einem tiefen Seufzer. »Sag mir, dass wir ihr nicht direkt in die Hände spielen.«
Archie wusste, was er meinte: Gretchen bringt George dazu, Courtenay zu töten, weil sie weiß, dass das Krankenhaus dann Archie auffordern muss zu gehen.
»Ich bin nicht derjenige, der in Gefahr ist«, sagte Archie.
»Gut«, antwortete Henry. »Ich kann dich nämlich nicht beschützen.« Er verschränkte die Arme und warf einen langen finsteren Blick auf Archie. »Wenn du Kontakt zu Gretchen hättest – wenn sie einen Weg gefunden hätte, mit dir zu kommunizieren, oder wenn du andere Informationen hättest, die für die Ermittlung nützlich sein könnten« – er senkte das Kinn und zog eine Augenbraue in die Höhe – »könnte ich einige Ressourcen vielleicht neu verteilen.«
Archie nickte. Er kannte Henry seit fünfzehn Jahren. Henry hatte mitgeholfen, ihn wieder gesund zu pflegen, hatte über seinen Tablettenkonsum hinweggesehen und ihn überredet, wieder zu arbeiten. Er war derjenige gewesen, der Archie in die Psychiatrie gefahren hatte und während der Aufnahme bei ihm gesessen war. Er hatte sich mit viel mehr herumgeschlagen, als gut für ihn war, und Archie wusste es. Dennoch sagte er nichts.
Henry sah auf die Uhr und schaute dann einen Moment aus dem Fenster. »Ich muss ein paar Anrufe erledigen«, sagte er. »Rosenberg ist unterwegs hierher, um deine frisch gewonnene geistige Klarheit amtlich zu besiegeln.«
Einfach so. Zurück ins Leben. »Was unternehmt ihr, um Gretchen zu finden?«, fragte Archie.
»Wenn du deinen ganzen persönlichen Scheißdreck hinter dir lassen und wieder Polizist sein willst, werde ich dich mit Freuden ins Bild setzen«, sagte Henry. »Bis dahin bist du Zivilist. Und deine Aufgabe besteht darin, am Leben zu bleiben.« Er begann wegzugehen, dann schien er es sich anders zu überlegen und drehte sich noch einmal um. »Ich weiß, du verheimlichst mir etwas«, sagte er.
Archie bewegte sich nicht.
Henry sah ihn noch einen Moment an, dann machte er kehrt und verließ den Raum.
Im nächsten Moment ließ sich Archie auf Hände und Knie fallen und schaute unter sein Bett. Kein Handy. Er stand auf und strich mit der Handfläche über den Bettbezug, um einen verräterischen Buckel zu erspüren. Nichts.
Es war fort.
Archie sank am Fuß des Betts auf den Boden. Seine einzige Verbindung zu Gretchen, und er hatte sie verloren.
Er saß immer noch auf dem Boden, als Frank mit einem Fleck Eidotter auf dem Pyjama ins Zimmer geschlurft kam.
Er sah Archie nicht an. Sagte nicht Hallo. Erwähnte den Umstand nicht, dass zwei Leute vor wenigen Stunden auf der Station gestorben waren.
Frank.
Archie stand auf und ging an Franks Bett vorbei in ihr gemeinsames Badezimmer. In dem Bad gab es nichts außer einer Dusche, einem an die Wand geschraubten Waschbecken, einer Toilette und einem Metallspiegel. Keine Badewanne. Debbie hätte es gehasst.
Archie stand eine Minute mit den Händen in den Hüften und klopfendem Herzen im Badezimmer und wartete. Dann schaute er zu dem Metallspiegel auf und sagte zu seinem eigenen verzerrten Spiegelbild. »Hey, Frank. Schau dir das mal an.«
Frank war ein großer, schwerer Kerl, aber er war schlaff. Sobald er ins Bad spaziert kam, schlug Archie die Tür mit einem Fußtritt zu, packte ihn an den Schultern und stieß ihn gegen die Wand. Frank verdrehte die Augen in Richtung Tür.
Es gab keine Überwachungskameras in den Badezimmern. Es würde ein paar Minuten dauern, bis jemand nachschauen kam. Vielleicht länger.
Archie drückte mit seinem ganzen Gewicht gegen Frank und senkte die Stimme zu einem Knurren. »Wo ist es?«, sagte er.
Auf Franks Stirn standen bereits Schweißperlen. Er zog das Kinn ein kleines Stück zurück. »Was?«, fragte er.
»Das Telefon«, zischte Archie. »Es war in meinem Bett. Und jetzt ist es weg.« Er beugte einen Ellbogen und drückte den Unterarm gegen den Dotterfleck auf Franks Brust. »Was hast du damit gemacht?«
Franks Mund ging auf, und die Zungenspitze presste sich zwischen den Lippen hindurch. »Ich kriege keine Luft«, sagte er.
Er hatte echte Angst, und Archie ließ ein bisschen locker. Er wollte Frank einschüchtern, aber keinen Anfall auslösen. Archie schob den Mund direkt an Franks Ohr. »Ich brauche dieses Handy«, sagte er. »Es ist wichtig.«
Frank sah ihn ängstlich an. »Ich wollte nur meine Schwester anrufen«, sagte er. Er gestikulierte in Richtung Badezimmertür. »Es ist in meiner untersten Schublade«, sagte er. »Nimm es.«
Archie ließ ihn los, und Frank rutschte ein Stück an der Wand entlang.
»Es tut mir leid«, sagte Archie.
Er ging zu Franks Kommode und fand das Handy unter einem Stapel ordentlich gefalteter Unterhosen. Archie sah zu der Sicherheitskamera hinauf. Sie kümmerte ihn nicht. Man würde ihm das Handy nicht wegnehmen. Er ging sowieso.
Dann ging Archie zum Eingang des Badezimmers zurück.
Frank lag zusammengerollt auf dem Boden.
»Hast du überhaupt eine Schwester, Frank?«, fragte Archie.
Frank antwortete nicht.