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Das Haus in der North Fargo Street lag im Dunkeln. Es gab zwei Straßenlaternen in dem Block, an jeder Ecke eine. Das leer stehende Haus stand in der Mitte des Blocks, mit zwei unbebauten Grundstücken auf beiden Seiten und einem neuen Schild im Garten: ZU VERKAUFEN. Eine Werbefirma hatte eine Werbetafel auf dem Grundstück ganz links, in Richtung der Freeway-Ausfahrt aufgestellt. Darauf war das Bild einer joggenden Frau geklebt. SPORT KANN IHR LEBEN RETTEN lautete der Slogan darunter.
»Zwölfhundert Menschen sterben jeden Monat beim Joggen«, sagte Susan.
Archie hatte Henrys Waffe im Schoß. Das Haus war von Absperrband an Holzpflöcken umgeben. Die Eingangstür war sicherlich mit weiterem Absperrband versiegelt. Archie konnte es allerdings nicht sehen, es war zu dunkel.
»Wie sind Sie beim ersten Mal hineingekommen?«, fragte er.
»Durch ein eingeschlagenes Kellerfenster«, sagte Susan.
Er sah sie stirnrunzelnd an.
»Ich war es nicht«, sagte sie.
»Zeigen Sie es mir.«
Sie stiegen aus dem Wagen. Susans Saab war das einzige Auto in der Straße. Archie hielt die Waffe seitlich am Körper, aber er entsicherte sie. Sie war da drin. Er konnte sie spüren.
Susan dirigierte ihn die mit Moos bewachsenen Betonstufen hinauf und durch den verwilderten Garten zur Seite des Hauses. Obwohl er sie führen ließ, blieb er immer einen halben Schritt voraus, mit einem ausgestreckten Arm vor ihrem Körper, als würde dieser kleine Versuch, sie zu schützen, im Ernstfall etwas bewirken.
Sie kamen zu dem Fenster. Es war frisch mit Sperrholz abgedeckt worden. Archie sank in der weichen Erde vor dem Fenster auf die Knie.
Die Sperrholzplatte war festgeschraubt, unmöglich aufzustemmen. Wahrscheinlich hatte man alle Fenster verstärkt, und vor der Haustür hing sicherlich ein Vorhängeschloss.
»Moment«, sagte Susan. Sie kniete sich neben ihn, wühlte in ihrer Tasche und zog ein Schweizermesser hervor. Dann klappte sie den Schraubenzieher heraus und machte sich daran, die Schrauben herauszudrehen, mit denen die Sperrholzplatte befestigt war.
Archie staunte, wie rasch sie die Schrauben löste und dann die Platte zur Seite hob.
Susans Gesicht war plötzlich in Farbe getaucht, und ihr Haar leuchtete purpurn. In dem Keller brannte Licht. Archie schob Susan links neben das Fenster, wo sie niemand mehr sehen konnte, und hielt das Sperrholz wieder vor die Öffnung.
»Sie ist hier«, flüsterte Susan im Dunkeln.
Archie streckte die Hand aus und legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen.
Er wartete kurz, bis sich sein Herzschlag verlangsamt hatte. Dann entfernte er das Sperrholz wieder und spähte in das Fenster. Er konnte zerbrochenes Glas auf dem Kellerboden sehen. Das Licht kam nicht vom Hauptraum. Es gab noch einen zweiten, hinter der Kellertreppe. Einen Heizraum.
Archie steckte die Waffe in den Hosenbund, legte die Hände an beide Seiten des Fensters und ließ sich hinunter.
Das Glas knirschte unter seinen Füßen. Er blickte zu Susan zurück, deren besorgtes Gesicht vom Fenster eingerahmt wurde, und machte ihr Zeichen, dort zu bleiben, wo sie war. Dann zog er die Waffe und bewegte sich auf das Licht zu.
Die Tür zu dem alten Heizkesselraum war offen, und das Licht daraus ergoss sich als verzerrtes Rechteck auf den Betonboden. Der Raum war groß, vielleicht ein Viertel der Kellerfläche. Heizkessel gab es längst keinen mehr, an seiner Stelle stand ein staubiger Brennofen. Es gab Anschlüsse für Waschmaschine, Trockner und Warmwasserboiler. Eine Wäscheleine war über eine Ecke gespannt, mit ordentlich aufgereihten hölzernen Wäscheklammern daran.
In der Mitte des Raums hing Jeremy nackt an seinen eigenen Haken. Die Haken durchbohrten seine Brust, den Rumpf und die Beine, sodass er flach, mit dem Gesicht nach oben in Tischhöhe über dem Boden schwebte, wie eine Probe, die seziert werden sollte. Seine Hände waren mit Klebeband auf den Rücken gefesselt.
»Koma-Position«, hatte es Jeremy genannt.
Die Haut spannte sich über jedem Haken wie ein Zelt, seltsam gedehnte Hautdreiecke, die aussahen, als könnten sie jeden Moment der Schwerkraft unterliegen. Jeremys Kopf hing schlaff nach hinten, sein blasser Hals war gebogen, der Adamsapfel trat hervor. Die eine Augenhöhle, die Archie sehen konnte, war ein blutiges Loch. Ein schwarzer Gummiball steckte als Knebel in seinem Mund, aber in der Stille des Kellers konnte ihn Archie mitleiderregend stöhnen hören.
Gretchen stand auf der anderen Seite von Jeremy, mit dem Gesicht Archie zugewandt. Sie hatte die Stirn gefurcht, die Ellbogen seitlich abgespreizt und hielt ein Skalpell in der Hand. Ihre nackten Arme waren voller Blutspritzer. Sie war fleißig gewesen. Jeremys Brust war voll offener Wunden. Blut lief ihm am Brustkorb hinunter und tropfte auf den Beton.
Archie steckte die Waffe erneut hinter sich in den Hosenbund und trat in die Tür.
Gretchen ließ das Skalpell in Jeremys Brust sinken und zog es zu sich heran, während Jeremy erstickt keuchte. Der Palmar-Griff. All diese Jahre hatten Archie und seine Task Force sie gejagt und waren immer fünf Schritte hinter ihr gewesen. Er war an so vielen Tatorten gestanden, hatte so viele Leichen gesehen, so viele Autopsieberichte durchgearbeitet und versucht, sich in die Schrecken der Opfer hineinzuversetzen. Und dann hatte er sie aus erster Hand erfahren.
»Hallo, Liebling«, sagte Gretchen. Sie blickte nicht auf. Sie wusste einfach, dass er da war. »Willst du mir bei der Arbeit zusehen?«
»Ich habe dich schon bei der Arbeit gesehen«, sagte Archie. »Weißt du noch?« Er hörte das leise Knirschen von Glas, als Susans Füße auf dem Kellerboden landeten.
»Das hier ist etwas anderes«, sagte sie und lächelte ihn an. »Komm. Schau es dir aus der Nähe an.«
Archie wollte, dass Gretchens Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet blieb, damit sie Susan nicht bemerkte, deshalb ging er zu ihr. Jeremy hob den Kopf und wehrte sich, als er Archie hörte, wodurch sein Körper ins Schaukeln geriet, aber Gretchen streckte die Hand aus und brachte die Hängevorrichtung wieder zum Stillstand. Das Blut lief wie Tränen aus Jeremys Augenhöhlen.
Archie stand gegenüber von Gretchen, zwischen ihnen schwebte Jeremy. Es stank nach Urin. Eine dunkle Pfütze befand sich auf dem Boden unter Jeremy. Gretchen beugte sich über ihn und drückte das Skalpell wieder in Jeremys Fleisch. Sein Oberkörper war zerfetzt. Die Wunden waren verschieden tief. Manche waren nur rote Schlitze, andere klaffende Wunden mit freiliegendem Fettgewebe darin, aus einigen sprudelte Blut.
»Du warst etwas Besonderes«, sagte Gretchen zu Archie. »Deshalb hast du eine Sonderbehandlung bekommen.« Sie betrachtete stirnrunzelnd Jeremys brutal verstümmelte Haut. »Das hier macht praktisch überhaupt keinen Spaß.« Sie schob sich mit dem Handrücken eine lose Strähne ihres roten Haars aus der Stirn. »Aber Arbeit kann nicht immer Spaß machen, nicht wahr. Deshalb ist es ja Arbeit.«
Archie begriff jetzt, was sie tat. Sie schnitt das Narbengewebe der Wunden heraus, die sich Jeremy selbst beigebracht hatte, die Abzeichen, die er sich nicht verdient hatte.
»Glaubst du, Jack Reynolds hätte die Sache vor Gericht kommen lassen?«, sagte sie, weiter auf das Skalpell konzentriert. »Er hätte Jeremy töten lassen. Auf der Straße. Im Gefängnis. Er hätte einen Weg gefunden. Denn wäre Jeremy wegen mehrfachen Mordes vor Gericht gestellt worden, hätte das einige Fragen nach Jack Reynolds Geschäften aufgeworfen.« Sie hob das Skalpell und zog es an Jeremys Herznarbe entlang. »Jeremy ist so oder so tot. Das weißt du.«
»Nur zu«, sagte Archie. »Töte ihn. Ich bin nicht hier, um ihn zu retten. Ich bin wegen dir hier.«
Jeremy begann zu schluchzen, der Gummiball in seinem Mund hüpfte auf und ab, glitschig vor Speichel.
Gretchen musterte Archie. »Willst du wieder versuchen, mich zu erwürgen?«
Er konnte sie erschießen. Aber sie hatte ein Skalpell in der Hand, und sie würde Jeremy erledigen, wenn sie es konnte. Und irgendwo hinter ihm war Susan. Er wollte keinen Querschläger riskieren. Noch nicht.
Archie strich mit der Hand über Jeremys von Blut und Schweiß verfilztes Haar. »Er hat mir erzählt, dass er davon fantasiert, wir zwei wären zusammen«, sagte er zu Gretchen. »Er stellt sich gern vor, wie ich es mit dir treibe und dir dabei wehtue.«
»Tja, er ist wirklich ein Psychopath«, sagte Gretchen. Sie schälte ein Stück Narbengewebe von der Herznarbe und warf es auf den Boden.
Archie kauerte sich nieder, sodass sein Gesicht auf derselben Höhe war wie Jeremys. »Eigentlich war es eine richtige Eingebung, Jeremy«, sagte er. Jeremy drehte den Kopf zu Archie, ein schwarzer Ball statt eines Munds, blutige Krater statt Augen. »Wir hatten tatsächlich eine Affäre«, fuhr Archie fort. »Bevor ich wusste, wer sie ist.« Es tat gut, es jemandem zu erzählen, es auszusprechen. »Zwei Wochen. So lange hat es gedauert. Sie ist mit ihrem gefälschten Psychiatriediplom aufgetaucht und hat uns Hilfe bei dem Fall angeboten.« Archie schüttelte langsam den Kopf und verzog den Mund zu einem finsteren Lächeln. »Fünfzehn Jahre ein treuer Ehemann, und dann hielt ich zwei Wochen durch, ehe ich keuchend in Gretchen Lowells Arme fiel.«
»Ich bin der beste Fick, den du je hattest, Liebling«, sagte Gretchen mit zuckersüßer Stimme.
»Unbestreitbar«, sagte Archie. Er fragte sich, wo Susan war und ob sie ihn hören konnte.
Jeremy kaute an seinem Knebel und stieß den Kopf um Hilfe flehend an Archie. Hatte Isabel so um Hilfe gefleht? Hatte sie ihren Bruder um Gnade gebeten?
»Jedenfalls«, fuhr Archie fort, »war unsere Affäre gerade mal einen Monat alt, da betäubt sie mich, bringt mich in einen Keller wie diesen hier und foltert mich.« Er stellte sich Susan vor, wie sie hinter ihm im Halbdunkel lauschte. »Ich habe es verdient. Ich habe meine Familie betrogen. Und selbst als man mich aus dem Krankenhaus entlassen hatte und sie im Gefängnis war, konnte ich an nichts anderes denken als an sie.« Archie beugte sich vor, sein Mund war nur Zentimeter von Jeremys Ohr entfernt. »Ich allein, im Bett, und ich dachte daran, wie sehr ich Gretchen wieder ficken wollte.« Er hob den Blick zu Gretchen. »Ich habe mich immer gefragt, warum sie es getan hat. Warum zu diesem Zeitpunkt. Welchen Plan sie für mich hatte.«
Gretchen stand reglos da, das Skalpell in der Hand.
Er lachte. Er hörte sich an wie ein Verrückter. Vielleicht war er verrückt.
Archie brachte seinen Mund wieder an Jeremys Ohr. »Und jetzt kommt’s«, sagte er laut flüsternd. »Ich glaube, sie hatte keinen.« Er sah zu Gretchen hinauf. »Ich glaube, sie hat sich zu ihrer eigenen Unterhaltung in die Ermittlung geschlichen. Ich glaube, die Affäre ist einfach passiert. Lange Zeit dachte ich, dass sie mich gefoltert hat, weil ich der Leiter ihrer Task Force war, um aller Welt zu zeigen, dass sie allmächtig ist. Aber ich glaube, das war es nicht. Ich glaube, sie hat mich gefoltert, weil wir eine Affäre hatten und weil sie dachte, ich wollte sie beenden.«
Gretchens Mund veränderte sich. Es war etwas, das niemand sonst auf der Welt bemerkt hätte. Aber das war seine Gabe. Er kannte sie wie niemand sonst.
Archie stand auf. »Hab ich recht, Süße?«
Gretchen versenkte das Skalpell in Jeremys Brust, schnitt und schälte den Rest der Herznarbe ab. »Ich tue nie etwas ohne einen Plan«, sagte sie und ließ den blutigen Hautfetzen auf den Boden fallen.
»Weißt du, was das Komische ist?«, sagte Archie. In seiner Stimme lag keine Heiterkeit. »Ich wollte dich gar nicht verlassen.« Er hielt inne und sah sie an, sah sie richtig an, versuchte, sie so zu sehen, wie er sie gesehen hatte, ehe er wusste, wer sie war. »Ich wollte Debbie verlassen.«
Jeremy stieß erneut ein leises Stöhnen aus. Die Waffe in Archies Hosenbund drückte ihm ins Kreuz. Er konnte Susan nicht hören. Er hoffte, sie war wieder aus dem Keller geklettert.
»Warum bist du gekommen?«, fragte Gretchen.
»Um dich zu töten«, sagte Archie.
»Wie sehr willst du es?«
»Sehr«, sagte er.
Gretchen stieß das Skalpell in Jeremys Leistenfalte. Jeremy heulte unter dem Knebel auf, und Gretchen nahm Archies rechte Hand und drückte seine Finger in die warme Wunde, sodass er mit Daumen und Zeigefinger Jeremys pulsierende Oberschenkelader zusammenpresste.
»Die Oberschenkelarterie ist die zweitgrößte im Körper«, sagte sie. »Wenn du deine Hand wegnimmst, verblutet er binnen einer Minute.«
Leuchtend rotes Blut schoss bei jedem Herzschlag von Jeremy zwischen Archies Fingern hervor. Alle Polizisten werden in den Grundzügen der Notfallmedizin ausgebildet. Der Heimlich-Griff. Wiederbelebung. Wie man einen Schock behandelt. Wobei man aber besonders aufpasste, war, wie man eine Wunde im Feld behandelte, denn falls man je angeschossen wurde, konnte es einem das Leben retten. Archie konnte nicht weggehen. Wenn er seine Hand fortnahm, würde Jeremy sterben. Er drückte seine linke Hand auf die rechte, um den Blutfluss mit ausreichend Druck zu verlangsamen.
Gretchen entfernte sich rückwärts.
»Du kannst ihn retten«, sagte sie. »Er wird überleben. Du kannst ihn vor Gericht bringen.« Sie kam um Jeremy herum auf Archies Seite und legte das Skalpell zu Archies Füßen auf den Boden.
»Oder du kannst auf mich losgehen.«
Jeremys Herzschlag beschleunigte sich, Archie spürte es am schnelleren Pulsieren des Bluts gegen seine Finger. Er hatte die Hand halb in Jeremy. Er konnte die Wärme und das Leben in ihm fühlen.
Er dachte an Isabel Reynolds, an drei Obdachlose, die Jeremy getötet hatte, an Fintan English, der hier in diesem Haus gestorben war. Er sah zu Gretchen auf. Zu dem Skalpell zwischen ihnen hinunter. Und er ließ Jeremys Arterie los und hob die Hand.
Jeremy gab ein Geräusch von sich. »Nein.«
Archie machte zwei Schritte auf Gretchen zu und hob das Skalpell mit seiner blutigen Hand auf. Gretchen erstarrte und trat einen Schritt zurück an die Wand. Im nächsten Moment war er über ihr, ihre Körper waren nur Zentimeter voneinander getrennt, seine Hand lag neben ihrem Kopf flach an der Wand.
Er hörte, wie Jeremy an seinen Fesseln zerrte und erstickte Schreie von sich gab.
Das Skalpell war leicht in seiner Hand, schön, dasselbe Modell, mit dem sie ihn aufgeschlitzt hatte.
»Wie kommst du darauf, dass ich nicht für die Todesstrafe bin?«, sagte Archie.
Er stieß ihr das Skalpell unter den linken Rippenbogen.
Es drang bis zum Heft ein, und Archie hielt es in dieser Stellung fest, die Faust an ihrem auf und ab wogenden Unterleib. Er blickte zwischen ihnen nach unten und sah Blut. Er bemühte sich, nicht auf Jeremys Wimmern zu hören.
»Schau mich an«, sagte er zu ihr.
Sie sah ihn aus ihren perfekten blauen Augen an. Er hatte Überraschung sehen wollen. Er hatte einmal etwas tun wollen, das sie nicht vorhergesehen und gesteuert hatte.
Ihre Lippen teilten sich. Sie versuchte zu sprechen.
Jeremy gab einen letzten erstickten Laut von sich und verstummte dann.
»Dreh es«, sagte sie.
Archie drehte das Skalpell, und sie öffnete den Mund und schrie auf. Ihre Wangen röteten sich. Dann legte sie die Hände auf sein Gesicht. Sie waren nass von Jeremys Blut. Archie konnte es riechen.
»Männer sind so einfach gestrickt«, sagte Gretchen. Ihre Hände waren warm und ihre Berührung weich. »Bei Jeremy habe ich lediglich meine Altersgrenze ein wenig nach unten verschoben. Ich wollte sehen, ob ich ein Kind nehmen und es in ein Ungeheuer verwandeln konnte. Deshalb brachte ich ihn und seine Schwester in dieses Haus und habe sie vor seinen Augen ermordet.« Sie strahlte.
Archie konnte nicht klar denken. Sie log schon wieder. Jeremy war ein Psychopath. Er war als einer zur Welt gekommen. Er hatte seine Schwester getötet. Er würde immer weiter töten. Er verstärkte seinen Griff um das Skalpell. »Nein«, sagte er.
Ihre Hände zitterten an seinem Gesicht, als er die Klinge noch tiefer hineinstieß, und er spürte, wie sich ihr Blut warm zwischen ihnen ausdehnte.
»Es war ein Experiment«, sagte sie und ließ ihre Hände langsam über seinen Hals zur Brust hinabgleiten. »Ich wollte sehen, ob ich etwas Böses erschaffen kann. Jeder kann unter den richtigen Umständen zum Mörder werden.«
Sie warf einen Blick auf Jeremy. »Ich hatte wohl recht.«
O Gott, dachte Archie. Nein. Bitte nicht.
Sie gab Archies Brust einen sanften Stoß, er trat einen Schritt zurück, und das Skalpell, dessen Griff er immer noch umklammert hielt, glitt aus ihrem Körper. »Jeremy hat seine Schwester nicht getötet«, sagte sie. »Er hat keinen von ihnen getötet. Er war nur ein armer, kleiner Junge, den ich manipuliert habe. Ich habe ihn dazu überredet, dass sein kleiner Club die Milzoperation durchführt. Ich habe dich an den Haken aufgehängt. Ich war die ganze Zeit dabei. Jeremy war unschuldig.« Ihr Lächeln wurde breiter, während sie in ihrem Sieg schwelgte. »Und du hast ihn gerade sterben lassen.«
Archie öffnete die Hand und ließ das Skalpell fallen. Es prallte geräuschvoll auf den Beton, und als Gretchen nach unten blickte, langte Archie hinter sich und zog seine Waffe. Bis sie den Blick wieder hob, war die Mündung der Waffe gegen ihre Stirn gedrückt. Archies Hand zitterte, und er musste die Pistole mit aller Kraft an ihren Kopf drücken, um das Ding zu stabilisieren. Er hatte nie etwas so sehr gewollt, wie er jetzt Gretchen Lowell ein Loch in den Schädel pusten wollte.
»Du hattest recht«, sagte er. »Ich wollte dich verlassen. An diesem Abend, an dem ich zu dir kam. Ich wollte es beenden und Debbie alles erzählen.«
Er bewegte den Lauf der Pistole an ihrem Gesicht entlang nach unten, zwischen ihren Augen hindurch, über den Nasenrücken, und drückte ihn dann an die geschlossenen Lippen. »Nimm ihn in den Mund«, sagte er. »Nimm ihn.«
Er sah ihren Puls am Hals flattern, als sie die Lippen öffnete und ihn den Lauf der Waffe in ihren Mund schieben ließ.
Wenn er jetzt abdrückte, würde es ihr den Hinterkopf wegreißen.
Wer würde ihm einen Vorwurf machen?
Doch dann wäre er ein Mörder. Genau wie sie.
Er würde sie nicht gewinnen lassen.
Er zog den Lauf langsam wieder aus ihrem Mund und setzte ihn an ihre Stirn. Und in diesem kurzen Moment spürte er etwas, das er kaum mehr kannte. Er spürte sein altes Ich.
»Du bist verhaftet«, sagte er.
Archie erfasste gerade noch eine Bewegung links von sich, ehe er die Mündung der Pistole an seinem Ohr fühlte.
»Ich bin nicht allein gekommen«, sagte Gretchen.
Und dann fing Archie den Geruch auf. Einen Hauch von Moschus. Patschuli.
»Ich auch nicht«, sagte er.
»Eine Bewegung«, hörte er Susan sagen, »und ich steche dich in den Hals.« Sie trat in seinen peripheren Gesichtskreis. Sie hatte die Klinge aus ihrem Schweizermesser aufgeklappt und hielt sie an Franks Hals.
»Hallo, Frank«, sagte Archie. Frank hielt das Kinn gesenkt, er blinzelte nicht, und sein teigiges Gesicht war verschwitzt und gerötet. Archie hatte ihn schon öfter so gesehen. Es endete meist damit, dass Frank einen Stuhl durch den Raum warf.
»Hallo, Archie«, sagte Frank.
»Sie ist nicht deine Schwester«, sagte Archie. »Das weißt du, oder?«
»Erschieß ihn«, sagte Gretchen.
Susan schob das Messer höher an Franks Hals. »Denk nicht mal dran«, sagte sie.
»Bist du noch böse auf mich?«, sagte Frank zu Archie.
»Nein«, sagte Archie. »Ich bin nicht böse.«
»Schieß ihn in den Kopf«, wiederholte Gretchen.
»Ja«, sagte Frank. »Okay.«
Archie erstarrte und wartete auf den Schuss, und dann hörte er ihn. Er war noch nie angeschossen worden. Man hatte ihm Nägel mit einem Hammer in die Rippen getrieben. Er war gezwungen worden, Abflussreiniger zu trinken. Er war aufgeschlitzt und gestochen worden. Aber angeschossen? Nein.
Es tat nicht weh. Hieß es. Es war vorgekommen, dass Leute angeschossen wurden und es erst nach mehreren Minuten merkten. Manche beschrieben es als eine Empfindung von Hitze. Andere sagten, der Schmerz sei unerträglich.
Wenn man in den Kopf geschossen wurde, spürte man wahrscheinlich nichts. Man starb wahrscheinlich einfach.
Und er war nicht tot.
Frank war tot.
Scharfschützen des Sondereinsatzkommandos kamen paarweise durch die Tür des Heizraums, ganz in Schwarz, mit Lampen auf der Stirn. Sie waren vermutlich durch das Kellerfenster gekommen. Der Schuss, den Archie gehört hatte, war nicht für ihn bestimmt gewesen – es war eine Scharfschützenkugel gewesen, die Frank gegolten hatte. Archie hörte den schweren Laufschritt weiterer Einsatzkräfte, die oben in das Haus eindrangen.
Es war alles wie ein Nebel.
Archie bewegte sich nicht, drückte den Lauf der Waffe nach wie vor mit aller Kraft auf Gretchens Stirn, bis weitere fünf Waffen auf sie gerichtet waren.
»Sir?«, sagte einer der Beamten.
Archie beugte sich nahe zu Gretchen. »Ich mache Schluss mit dir«, flüsterte er ihr ins Ohr. Dann ließ er die Waffe sinken.