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Die Wirkung des Kokains war abgeflaut, und Susan musste sich mit Willenskraft zwingen, einigermaßen wach auszusehen. Ian hatte angefangen, die Redaktionssitzungen in seinem Büro anstatt im Besprechungszimmer abzuhalten, damit er hinter seinem Schreibtisch sitzen und alle anderen ehrfurchtsvoll auf seine Autorität blicken lassen konnte. Es gab nur zwei Stühle in Ians Büro und sechs Reporter, die an den Sitzungen teilnehmen mussten, was bedeutete, dass vier von ihnen stehen oder auf dem Boden sitzen mussten.

Susan kam normalerweise sehr früh, um einen der Stühle zu ergattern. Aber nachdem Leo sie bei ihrem Wagen abgesetzt hatte, war sie direkt hierhergefahren, und es war nur noch auf dem Boden Platz.

»Also«, sagte Ian. »Offenbar haben wir es hier mit einem Serienmörderkult zu tun. Es handelt sich dabei um Leute, für die sich die Polizei bei allen jüngsten Morden in Zusammenhang mit dem Beauty Killer interessiert. Zwei von ihnen wurden identifiziert.« Ian hatte eine abwischbare Kunststofftafel aus dem Konferenzzimmer in sein Büro gerollt und hinter dem Schreibtisch aufgestellt, damit er Ideen für Artikel aufschreiben und dann ausstreichen oder umringeln konnte, und er hatte Fotos von Jeremy und Pearl daraufgeklebt. »Jeremy Reynolds. Aus Lake Oswego. Sein Vater ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, Immobilien und Venture-Kapital. Margaux Clinton. Sechzehn. Ausreißerin aus Eugene.« Er ließ den Kugelschreiber in der erhobenen Hand verharren. »Wer sind sie? Was hat sie auf Abwege geführt? Außerdem haben wir drei Opfer.« Er hatte ihre Bilder nicht auf der Tafel. »Packen wir sie in eine Geschichte darüber, wie Obdachlose zu Opfern gemacht werden – Kämpfe unter Tippelbrüdern, Gewalt gegen Herumtreiber und so weiter.

Und natürlich glaube ich, dass es Zeit wird, die Besessenheit von Gretchen Lowell in unserer Gesellschaft zu untersuchen.«

Susan sah sich in dem Raum um. Für ein Zeitungsbüro war es ordentlich. Ein Wimpel der New York Yankees an der Wand. Ein Plakat des Films Absence of Malice. Eine gerahmte Ausgabe des Oregon Herald vom Tag von Ians Geburt. 1963 – Gott, war er alt. Und zwei hüfthohe Stapel Zeitungen. Auf ein Schwarzes Brett an der Wand hatte Ian neben einen Zeitungsausschnitt, der seinen Gewinn des Pulitzerpreises verkündete, einen Zettel geheftet, auf den er ein Zitat gekritzelt hatte. »Millionen sahen den Apfel fallen, aber Newton fragte, wieso« – Bernard Baruch. Daneben war eine Karikatur aus dem New Yorker. Eine Figur, die Archie Sheridan darstellen sollte, sitzt an einer Bar, der Barkeeper gibt ihm einen Drink und sagt: »Gretchen Lowell spendiert Ihnen ein Bier.«

»Ich kenne die Antwort«, sagte Susan.

Ian, der fortgefahren war, sich über die Rolle des Antihelden in der Gesellschaft auszulassen, hörte auf zu reden und sah sie gereizt an.

»Ich kenne die Antwort«, wiederholte Susan.

»Wie bitte?«, sagte Ian.

»Wir sind dafür verantwortlich«, sagte Susan. »Wir waren das.« Die Wände beim Herald waren dünn wie Papier, und alles, was lauter als ein Flüstern war, wurde von allen gehört. Susan kümmerte es nicht. »Wir haben Gretchen Lowell romantisiert«, sagte sie. »Wir haben sie zu einer Berühmtheit gemacht.«

Ian verharrte vollkommen reglos, hielt den Stift immer noch in der Schwebe. Er wurde immer absolut starr, wenn er ungehalten war. Susan scherte sich nicht darum. Sie hatte ein Loch in der Backe, Archie war verschwunden, und sie saß in einer dämlichen Redaktionsbesprechung, und überhaupt würden sie sowieso alle entlassen werden. »Da draußen gibt es Leute, die sie für eine Heldin halten«, sagte sie. Sie sah ihre Kollegen der Reihe nach an. Vom Boden aus, unbequem an die Wand gelehnt. Derek saß in einem der Stühle. Derek bekam fast nie einen Stuhl. Susan konnte sich nur vorstellen, wie früh er gekommen sein musste, um einen zu erwischen. Und warum? Niemand wollte hier sein. Es war alles ein Witz.

Susan entknotete ihre Beine und stand auf. »Sie unterhalten Fanseiten«, sagte sie. »Sie halten ihre Wikipediaseite auf dem Laufenden. Sie erfinden Geschichten über sie. Von der Aufzeichnung des Anrufs unter der Notrufnummer, als sie sich stellte, hat jemand einen Remix und ein Musikvideo dazu gemacht. Man kann es sich auf YouTube ansehen. Es gibt T-Shirts mit ihrem Gesicht und der Aufschrift ›I ¤ Beauty Killer.« Sie schlüpfte in einen Stiefel und dann in den andern. »Esquire brachte sie letztes Jahr in ihrer Ausgabe ›Frauen, die wir lieben‹. Ich habe ihren Namen bei eBay eingegeben und bin auf jemanden gestoßen, der einen Satz Skalpelle verkauft, mit denen sie angeblich ein Opfer aufgeschlitzt hat. Das Gebot lag bei neunhundert Dollar.«

Sie stand da mit laufender Nase, das Gesicht bandagiert. Sie war so was von gefeuert. Mehr als gefeuert. Geächtet. Aber sie konnte nicht aufhören. Es sprudelte einfach so aus ihr heraus. »Wir haben das alles in die Welt gesetzt«, sagte sie und fuchtelte mit der Hand. »Einen Artikel nach dem anderen. Immer derselbe fade Mist. Alles nur, damit wir einen Vorwand haben, ihr Bild zu bringen, weil alle wissen, dass ein Bild von ihr den Kioskverkauf um fünfundzwanzig Prozent erhöht. Deshalb haben wir, wenn es nichts zu berichten gab, andere Gründe gefunden, über sie zu schreiben. ›Wir basteln uns ein Gretchen-Lowell-Halloweenkostüm.‹« Sie lachte gezwungen und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. »Das hab ich geschrieben.«

Ian schraubte seinen Stift zu und legte ihn auf den Schreibtisch. Er tat es mit ein wenig zu viel Schwung, und der Stift rollte über die Schreibtischplatte und fiel auf den Teppich. Niemand machte Anstalten, ihn aufzuheben. Niemand rührte sich überhaupt.

»Unser Geschäft ist es, Anzeigen zu verkaufen«, sagte Ian. »Wenn wir mehr Zeitungen verkaufen, können wir mehr für Anzeigen verlangen. Gretchen Lowell verkauft Zeitungen. Die Baltimore Sun, Chicago Tribune, L. A. Times – bei all denen hat man die Nachrichtenredaktionen drastisch entvölkert. Willst du mit einer Abfindung gehen? Oder willst du Artikel schreiben, die viele Leute lesen, damit die Anzeigenabteilung zu Starbucks gehen und sie überreden kann, eine viertelseitige Anzeige in unserem sterbenden kleinen Medium zu schalten? Denn entweder du verkaufst Frappuccino-Anzeigen oder du verkaufst Frappuccinos. Willst du also Zeitungsreporterin sein oder Kaffeeverkäuferin?«

»Ich möchte Journalistin sein«, sagte Susan. Schon in dem Moment, in dem sie es sagte, klang es absurd. An der Wand grinste jemand höhnisch.

»Dann schreib mir einen Artikel darüber, wieso man dir um zwei Uhr nachts im Großmarktgebiet ein Loch in die Wange gebohrt hat. Dann schreib mir zwei Spalten über die Besessenheit von Gretchen Lowell in unserer Kultur. Du kannst alles reinpacken, was du gerade gesagt hast.«

»Zwei Spalten?«, sagte Susan.

»Glaubst du, du kriegst sie voll?«

»Absolut«, sagte Susan.

»Dann los, mach dass du verschwindest«, sagte Ian.

Sie sah ihn an. Vielleicht war er doch kein totales Arschloch.

Einer der andern Reporter hob die Hand. »Darf ich auch gehen?«

»Denk nicht mal dran«, sagte Ian.

Susan verließ den Raum rückwärts und zog die Tür hinter sich zu, ehe Ian es sich anders überlegen konnte.