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Eine wachsende Menschenmenge drückte gegen die Polizeiabsperrung im Rosengarten. Es gab jede Menge Mikrofone und Notizbücher – Henry hatte zwölf Fahrzeuge von Nachrichtenmedien auf dem Weg den Hügel herauf gezählt aber größtenteils waren es einfach Schaulustige.
Portland schien dieser Tage in zwei Gruppen von Menschen zu zerfallen – solche, die möglichst weit weg sein wollten von Gretchens Tatorten, und solche, die sich am liebsten an ihren Leichen gescheuert hätten.
Henry stellte seinen Wagen ab, stieg aus und duckte sich unter dem Absperrband hindurch. »Whatley«, rief er einem rothaarigen Streifenbeamten zu. »Schaffen Sie die Leute hier fort.«
Whatley blickte hilflos auf die Menschenmenge.
»Verlegen Sie die Absperrung«, sagte Henry. »Setzen Sie Pfefferspray ein, wenn es sein muss.«
Claire wartete am Eingang zum Park auf ihn und führte ihn zum Tatort. Sie trug ein T-Shirt mit dem Bild des Staates Alaska darauf. Henrys dritte Frau hatte es ihm gekauft. Sie hatten sich rasch anziehen müssen, als der Anruf wegen des Mords in der Psychiatrie gekommen war. Das T-Shirt reichte Claire fast bis auf die Knie. Sie hatte es auf einer Seite nach oben gerafft, damit sie ihre Waffe zusammen mit einer roten Sonnenbrille am Gürtel befestigen konnte.
»Wie geht es ihm?«, fragte sie.
»Er wird eine Weile bei mir wohnen«, sagte Henry.
»Dann sollte ich also keine Strumpfhose in der Dusche hängen lassen?«, fragte Claire.
»Du trägst keine Strumpfhosen«, sagte Henry.
»Ich weiß«, sagte sie. »Aber es klingt witzig.«
Sie bogen um eine Hecke, und Henry konnte eine Gruppe von Polizisten um ein Paar herumstehen sehen, das auf einer Bank saß.
Henry steckte sich einen Kaugummi in den Mund und streifte sich Latexhandschuhe über. »Was liegt vor?«, fragte er Claire.
Sie gingen um die Bank herum. Die anderen Polizisten traten zurück. »Darf ich vorstellen: Mr. und Mrs. Unbekannt«, sagte Claire.
Henry nahm die grausige Szene in sich auf. Die Leichen waren offenbar begraben gewesen. Sie waren praktisch in Leichen wachs mumifiziert, ein Zeichen dafür, dass sie an einem feuchten Ort gewesen waren, wahrscheinlich luftdicht eingeschlossen und so vor Bakterien geschützt. Die Gesichtszüge waren bis zur Unkenntlichkeit entstellt, die offenen Münder ließen braune Zähne sehen. Das war gut. Sie würden möglicherweise über zahnärztliche Aufzeichnungen identifiziert werden können.
»Das ist natürlich nicht die Kleidung, in der sie gestorben sind«, fuhr Claire fort. »Ich habe die Etiketten überprüft und in den Taschen nachgesehen. Nichts. Aber ich habe das hier gefunden.« Sie hielt einen Beweismittelbeutel mit einem winzigen Plastikfaden darin in die Höhe. »Es ist eins dieser Plastikdinger, an denen Preisschilder befestigt sind.«
»Plastikdinger?«, sagte Henry.
»Es ist vermutlich nicht der offizielle Name«, sagte Claire. »Aber sie werden in Billigläden häufig zur Befestigung von Preisschildchen benutzt. Deshalb schicke ich ein paar Mannschaften in die größeren Läden, um zu sehen, ob ihnen von diesen hübschen Sachen etwas bekannt vorkommt.«
»Sie hat ihnen Kleidung gekauft und sie angezogen, damit es länger dauert, bis sie entdeckt werden?«, sagte Henry. Es ergab keinen Sinn. Der Geruch musste die Leichen ziemlich rasch verraten.
Claire sah auf die Leichen hinunter. Sie kaute nicht Kaugummi. Henry hatte sie immer dafür bewundert. Sie besaß einen stählernen Magen. »Denkst du, sie stehen auf der Opferliste?«, sagte sie.
Gretchen hatte viele Morde gestanden, aber sie hatte noch mehr begangen. Und die Task Force führte eine Liste von Personen, die während ihres zehnjährigen mörderischen Treibens verschwunden waren. All das ergab keinen Sinn. Warum sollte Gretchen ihre alten Opfer ausgraben? Es sei denn, es waren keine Opfer.
»Lässt du jemanden bei den Friedhöfen nachfragen?«, sagte Henry.
»Ja. Bislang wurden keine unbefugten Exhumierungen gemeldet.«
Henry ließ seinen Kaugummi platzen und beugte sich vor, um die Leichen besser sehen zu können.
Er konnte unmöglich feststellen, ob sie Augen gehabt hatten, als sie begraben worden waren.
Henry hörte Lorenzo Robbins’ Stimme hinter sich. »Immer langsam, Quincy, das ist mein Job.«
Henry trat zur Seite, und Robbins kniete in seinem weißen Schutzanzug neben den Kadavern nieder. Er band sich die Rastalocken mit einem Gummiband zurück, das aussah, als stammte es von einer Zeitung, streifte sich violette Handschuhe über und musterte die Leichen von Kopf bis Fuß.
»Sie sind nicht zur selben Zeit gestorben«, sagte er. »Eine vielleicht vor drei, vier Jahren, die andere eher vor zwei.«
Henry sah die Kadaver mit zusammengekniffenen Augen an. Für ihn sahen sie gleich aus. »Woher wissen Sie das?«, fragte er.
»Weil ich Gerichtsmediziner bin«, sagte Robbins. »Und Sie sind keiner.« Er zog eine Stabtaschenlampe hervor und leuchtete in die Augenhöhlen der Toten. »Außerdem hat man ihnen die Augen entfernt.«
Henry beugte sich vor, um in die Augenhöhlen zu blicken.
Robbins scheuchte ihn fort. »Gehen Sie Polizeiarbeit machen.«
Henry wandte sich an Claire. »Wie sieht unser Zeitrahmen aus?«
»Der Park öffnet um halb acht«, sagte sie. »Es ist nicht schwer, früher hereinzukommen. Man muss nur über das Tor springen. Die Aufseher sagen, sie haben den Park gestern Abend zur Schließenszeit geräumt – das ist 21.00 Uhr. Die Leichen müssen also irgendwann nach neun und bevor die alte Dame sie kurz nach acht fand, aufgebaut worden sein. Sie hat ihren medizinischen Notalarm ausgelöst. Man dachte, sie habe einen Schlaganfall erlitten, und hat Feuerwehr, Notärzte und was weiß ich noch geschickt. Das Gelände war ziemlich zertrampelt.«
Henry blickte auf die großartige Ansicht Portlands hinaus. Die Skyline der Stadt. Die Berge. Wenn man die Hubschrauber der Nachrichtensender wegließ, die sich in der Ferne näherten, war es ein grandioser Anblick. Henry zählte die Schauplätze an den Fingern ab. »Die Gorge«, sagte er. »Pittock Mansion. Der Rosengarten. Was haben sie alle gemeinsam?«
Robbins blickte auf. »Den Buchstaben O.«
Claire schaute auf die Stadt hinunter. »Sie haben alle eine prächtige Aussicht.«
»Und keine Augen, um sie zu sehen«, sagte Henry.
»Sie könnten sie auch mit Augen nicht sehen«, bemerkte Robbins. »Sie sind tot.«
»Es ist eine Metapher, Herrgott noch mal«, sagte Henry.