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Die Wand war mit Fotos von Gretchen tapeziert. Die Bilder waren aus Zeitschriften, Zeitungen und Büchern ausgeschnitten und mit einer bunten Auswahl von Reißzwecken an die weiße Trockenwand geheftet worden. Es war mit Liebe geschehen, sorgfältige, saubere Schnitte, nichts eingerissen oder hastig ausgeführt. Die Collage befand sich im Wohnzimmer. Öffentlicher Raum. Man sah sie, sobald man die Wohnung betrat. Archie hatte ebenfalls einmal ein Foto von Gretchen aufgehängt, aber zumindest nur an die Rückwand seines Schlafzimmerschranks.
Er zwang sich, die Wohnung zu sichern, bevor er zu der Collage zurückkehrte. Ein Schlafzimmer. Ein Futon, der als Sofa benutzt wurde. Ein nicht gemachtes Bett. Ein Nachttisch mit einem halb vollen Glas Wasser darauf. Eine Kommode aus weißem Pressspan. Niemand im Schrank versteckt.
Das Badezimmer war winzig und beschränkte sich aufs Nötigste. Niemand versteckte sich in der Dusche. Über dem Waschbecken hing ein Schränkchen, und Archie öffnete es. Kein Vicodin. Es war einen Versuch wert gewesen.
Er kehrte ins Wohnzimmer zurück.
Und nun, da er sich zumindest formal überzeugt hatte, dass niemand aus einer Ecke springen und auf ihn schießen würde, hielt Archie nach Hinweisen Ausschau. Weiße Elektroheizkörper saßen auf den Fußleisten, leuchtend weiße Jalousien hingen über Schiebefenstern aus Vinyl. Weiße Wände. Grauer Teppich. Es waren die Bemühungen um eine persönliche Note, die interessant waren. Ein federgeschmückter Traumfänger drehte sich langsam an einer Angelschnur über der Spüle. Purpurne Batik war über die Couch drapiert.
Pfefferminzgeruch erfüllte den Raum. Archie konnte ihn nachgerade schmecken.
Er stand in der Mitte des Wohnzimmers und drehte sich langsam im Kreis. Als Erstes bemerkte er das Anatomiebuch auf dem Kaffeetisch, eine dieser großen, farbigen Hardcoverausgaben. Andere medizinische Bücher füllten die Regale, neben Selbsthilfebänden von Deepak Chopra und Eckhart Tolle. Auf dem Kaminsims standen nebeneinander ein Buddha, ein Gipsshiva und eins dieser Kunststoffanatomiemodelle mit herausnehmbaren Organen. An den Wänden hingen links und rechts von der Gretchen-Collage verschweißte Plakate von anämisch aussehenden Engeln.
Der allgemeine Eindruck war »Esoterikbuchladen trifft auf Zimmer von Medizinstudent«.
Es fühlte sich verzweifelt an.
Es fühlte sich vertraut an.
Er ließ den Blick zu der Collage zurückwandern. Gretchen hatte Komplizen benutzt, Männer, die sie dazu verführte, für sie zu töten. Er hatte gedacht, sie seien alle tot.
Archie ging auf die Bilder zu. Vor der Wand standen keine Möbel. Man konnte direkt bis vor die Collage gehen. Der Teppich war ausgetreten dort, als wäre jemand stundenlang an derselben Stelle gestanden. Archie stand ebenfalls dort und hob die Hand, berührte Gretchens Gesicht beinahe, hielt aber einen Millimeter Abstand, um keine eventuell hinterlassenen Fingerabdrücke unbrauchbar zu machen.
Er spürte Ruhe über sich kommen.
»Hallo, Süße«, sagte er.
Er lächelte. Er konnte ihr Bild jetzt ansehen, ohne das Brennen in seinem Bauch zu spüren.
»Dein Zauber verfliegt«, sagte er.
Die Bilder waren in Schwarz-Weiß und Farbe, auf Zeitungspapier und auf Hochglanzmaterial – und Gretchen war auf allen schön. Archie kannte sie alle. Gretchens Gesicht durch das Heckfenster eines Streifenwagens. Gretchens Kopfbild für die Kartei. Gretchen, wie sie der Menge zulächelt, die bei ihrer Verlegung nach Salem die ganze Nacht gewartet hatte, um einen Blick auf sie zu erhaschen. Ein Teil von Henrys Schulter auf einem Bild, als er sie zu dem wartenden Gefangenentransporter führt.
Was hatte der Schöpfer der Collage gesehen, als er sie ansah?
Dann lächelte Archie. Auf jedem Bild blickte sie in die Kamera. Sie schaute ihn an.
Dem Macher der Collage gefiel das. Ein Mann. Es musste ein Mann sein. Wer diese Bilder angebracht hatte, wollte von Gretchen beherrscht werden. Er fühlte sich schwach. Es war eine Schwäche, die einer bestimmten Art männlicher Erfahrung zu eigen ist.
Archie schüttelte den Kopf. »Du armer Teufel«, sagte er.
Hinter sich hörte er Susan fragen: »Was tun Sie da?«
Sie war einfach hereingekommen. Er war so versunken gewesen, dass er nicht gehört hatte, wie sie die Tür öffnete. Es war die Art von Unaufmerksamkeit, die einen in seinem Beruf das Leben kosten konnte.
»Ich rede zu einer Collage von einer Serienmörderin«, sagte er.
Susan sah ihn einen Moment an, dann ließ sie den Blick durch den Raum schweifen. »Wer wohnt hier?«
Archie zuckte die Achseln.
»Ich habe Sie gerufen«, sagte Susan.
»Ich habe mein Handy nicht einstecken«, sagte er. Seine Hand ging zu der Tasche, wo das Handy von Gretchen war, dann begriff er, dass sie gemeint hatte, sie habe seinen Namen gerufen. Er senkte den Blick. »Schließen Sie die Tür«, sagte er.
Susan stieß die Tür mit dem Ellbogen zu. »Diese Pflanzen auf der Treppe, ja?«, sagte sie. »Das sind Venusfliegenfallen. Venus war die römische Göttin der Liebe. Bekannt für ihre Schönheit.« Sie fuchtelte in Richtung Collage. »Fällt Ihnen dazu jemand ein?«
»Da muss ich passen.«
»Sind Sie verrückt?«, fragte Susan. »Ich meine, sind Sie jetzt tatsächlich verrückt?«
Sie begann auf Archie zuzugehen.
»Nicht bewegen«, sagte er. »Und rühren Sie nichts an.«
»Riechen Sie das?«, sagte Susan und verzog die Nase. Sie schnupperte und grinste dann. »Dr. Bronner’s.«
»Ich rieche Pfefferminz«, sagte Archie.
Susan schüttelte den Kopf. »Es ist Dr. Bronner’s Pfefferminz-Flüssigseife«, sagte sie. »In meiner Kindheit haben wir das für alles genommen. Shampoo, Toilettenreiniger … Der Kerl hier muss ein Sauberkeitsfanatiker gewesen sein.« Sie begann, auf den Fernsehkasten zuzugehen.
»Sie bewegen sich«, sagte Archie. »Ich sagte, nicht bewegen.«
Susan verlangsamte nicht einmal.
»Schauen Sie«, sagte sie und fuhr mit dem Finger über eine der hölzernen Duftschalen, die auf dem Brett über dem Fernseher aufgereiht waren.
»Und jetzt fassen Sie auch noch Sachen an«, sagte Archie.
Susan hielt den Finger in die Höhe. Er war sauber. »Wer wischt seine Duftschalen aus?«
Auf dem Brett stand außerdem ein Foto. Archie konnte das Bild von seinem Platz aus nicht erkennen, er sah nur den Bambusrahmen. Aber als Susan es erblickte, sog sie scharf die Luft ein.
Archie war in vier Schritten neben ihr.
»Das ist er«, sagte Susan und deutete auf das Bild. »Das ist der Kerl, den ich in dem Haus gefunden habe.« Sie fuhr sich über die Gänsehaut, die sich auf ihren Armen gebildet hatte. »Er hat wirklich hier gewohnt.«
Das Foto zeigte drei junge Männer in einem Wald, die in die Sonne blinzeln. Es waren Teenager von siebzehn, achtzehn Jahren, mit noch nicht ganz ausgeformten Körpern. T-Shirts und Cargohosen ließen dürre Beine und weiche, sonnenverbrannte Arme sehen. Sie hatten für die Aufnahme posiert, aber sie lächelten nicht. Auf dem T-Shirt des Jungen in der Mitte war ein Outward-Bound-Logo. Der Bursche links hatte den Schirm seiner Baseballmütze so tief in die Stirn gezogen, dass Archie sein Gesicht nicht erkennen konnte. Aber den Jungen rechts, Zottelhaar und schlank, mit Tätowierungen auf einem Arm, kannte Archie. Er warf einen Blick zu Susan, um zu sehen, ob sie seine Überraschung bemerkt hatte. Sie hatte nicht. Ihre Aufmerksamkeit galt immer noch dem Foto.
»Welcher ist es?«, sagte Archie.
»Der in der Mitte.«
»Das ist gut.«
»Gut?«, fragte Susan.
»Gut, dass wir ihn identifiziert haben.«
Susan drehte den Kopf zu ihm. »Kein: ›Sind Sie sicher, dass er es ist?‹«, fragte sie.
Archie tat ihr den Gefallen. »Sind Sie sich sicher, dass er es ist?«, fragte er.
»Er war älter«, sagte Susan. »Anfang zwanzig vielleicht.
Aber es ist dasselbe Gesicht.« Sie kniff die Augen zusammen. »Sie wirken nicht allzu überrascht.«
»Es ergibt Sinn«, sagte Archie. »Wir sollen herausfinden, wer er war. Das war die Idee dabei.«
»Warum hat man dann nicht einfach einen Ausweis in seiner Tasche gelassen?«, murmelte Susan.
»Da ist eine Geschichte dahinter.« Archie sah sich noch einmal in der Wohnung um. Der Pfefferminzgeruch war stark und frisch.
Auf diese Weise sauber zu machen erforderte eine größere Anstrengung. Es war zwanghaft. Aber die Zeit, sein Bett zu machen, hatte er nicht gefunden? Wozu dann all die Mühe hier? Selbst die Jalousien waren abgestaubt worden. Die elektrischen Heizkörper funkelten. Keine Ringe von Kaffeetassen auf den Küchenflächen, keine Krümel auf dem Couchtisch. Der Fernsehschirm andererseits sah aus, als wäre er seit Jahren nicht abgewischt worden.
Archie trat zur Seite, um den richtigen Winkel zu erwischen, und dann sah er es – Buchstaben, die mit dem Finger in den Staub gezeichnet worden waren. PLAY.
»Die Leute müssen Geschichten erzählen«, sagte er. Er spähte hinter den Fernseher und sah die winzige Digitalkamera in einer Ecke des Gehäuses; ein schwarzes Kabel schlängelte sich zum Videoeingang des Fernsehgeräts. »Dann wirkt ihr Leben bedeutend.«
Die DVD-Fernbedienung lag neben der für den Fernseher auf dem Kaffeetisch. Archie zückte einen Stift und schaltete das Gerät damit ein, dann drückte er den Abspielknopf auf der DVD-Fernbedienung.
Ein schiefes Bild des Raums, in dem sie sich befanden, erschien auf dem Monitor. Ein Sessel war vor die Collagenwand gezerrt worden. Plötzlich trat ein junger Mann vor die Kamera. Er war älter, das braune Haar länger, der Körper ein wenig ausgefüllt, aber Susan hatte recht, es war der mittlere Junge von dem Foto.
Der Mann fummelte eine Weile an der Kamera herum, bis sie gerade stand, dann ging er zurück und nahm in dem Sessel Platz. Graues T-Shirt. Jeans. Barfuß. Rosenkranz um den Hals.
»Großer Gott«, sagte Susan. Sie kramte ihr Notizbuch aus der Tasche, öffnete es, setzte sich auf die Couch und starrte auf den Schirm. Archie überlegte, ob er sie auffordern sollte aufzustehen und ihr einen Vortrag über die Beweisspuren halten sollte, die sie auf die Hose bekam, aber irgendwie brachte er die Energie nicht auf.
Der Tote blickte zu jemandem außerhalb des Bilds. »Nimmt es auf?«, fragte er. Die Person nickte offenbar, denn der Tote lächelte schüchtern in die Kamera. »Okay«, sagte er. Er schlug die Beine übereinander, umfasste das obere Knie mit dünnen Fingern und beugte sich vor. »Wenn ihr das seht, tja, dann ist alles schiefgegangen.« Er holte Luft, blies die Backen auf und atmete seufzend aus. »Also sollte ich die Sache wohl erklären«, sagte er. »Als ich acht war, bekam mein Bruder Pfeiffersches Drüsenfieber. Er war damals zwölf. Wir wussten nicht, dass er es hatte. Er hatte sich seit einem Monat über einen rauen Hals beschwert, aber meine Eltern hielten es für eine Erkältung. Die Sache bei Pfeifferschem Drüsenfieber ist die, dass sich die Milz dadurch vergrößern kann. Deshalb verbieten sie einem sechs Wochen lang größere Anstrengungen. Mein Bruder ist beim Sportunterricht mit einem anderen Kind zusammengestoßen. Es war eine dieser irren Geschichten.«
Archie setzte sich neben Susan auf das Sofa.
»Man kann ohne Milz leben«, fuhr der Tote fort.
»Und genau das machen sie bei einem Milzriss. Sie nehmen sie einfach heraus.
Er war eine Woche lang im Krankenhaus. Alle in seiner Klasse haben eine Karte für ihn gemacht.
Damals habe ich angefangen, darüber nachzudenken.«
Der Tote zog einen Mundwinkel hoch. »Himmel, das hört sich verrückt an, oder?«
»Können Sie es anhalten?«, fragte Susan, während sie hastig Notizen machte.
»Nein«, sagte Archie.
»Ich spielte Krankenhaus. Tat so, als hätte man mir ebenfalls die Milz entfernt. Ich trug einen Verband und alles.
Irgendwann war es dann kein Spiel mehr. Ich wollte sie draußen haben. Sie fühlte sich schmutzig an. Wie ein Fremdkörper, der in mir steckte, wie ein Tumor. Ich wurde ziemlich besessen davon. Ja, ich weiß, wie sich das anhört. Ich habe alle möglichen Therapien gemacht.«
Der Tote legte eine Hand auf die Milz unter dem Rippenbogen, und Archie bemerkte, dass es dieselbe Bewegung war, mit der seine Hand zu der Narbe ging, die ihm Gretchen hinterlassen hatte. Er steckte die Hand zwischen die Oberschenkel und behielt sie dort.
»Ich fand einen Arzt in Tijuana, der sagte, er würde die Operation durchführen«, fuhr der Tote fort. »Und nachdem er in letzter Sekunde zurückgezogen hatte, wurde ich ernsthaft deprimiert. Dann brachte mich ein Freund auf diese Website, und die sagten, sie könnten mir helfen. Es tut mir leid, Mom, Dad, alle. Ich weiß, ich kann dabei sterben.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Aber wenn ich sie nur endlich loswerden kann, wird es mir besser gehen.«
Das Video endete, und der Schirm wurde blau.
Susan schrieb immer noch. Archie konnte an ihrem Hals sehen, wie schnell ihr Puls ging.
»Es war nicht Gretchen«, sagte er. »Sie hat ihn nicht getötet.«
»Das sind Fans«, sagte Susan, ohne aufzublicken. »Möchtegerns.« Sie hörte auf zu schreiben, legte den Stift auf ihr Notizbuch und drehte sich zu Archie um. Ihr Gesicht war blass. »Sie bewerben sich, sie spielen ihr vor.«
Archie schüttelte den Kopf. »Und Sie glauben, ich sei verrückt.«