67
Wir gingen tiefer in den Secondhandladen hinein und entfernten uns vom Lichtschein, der durch das Schaufenster drang. In der Dunkelheit vor mir blieb Casey stehen und drehte sich zu mir um. Sie legte eine Hand auf meinen Arm und flüsterte: »Schuhe.«
Wir zogen unsere Schuhe aus. Dann legte sie die Hände auf meine Schultern und beugte sich dicht zu mir. »Du wartest hier«, flüsterte sie. »Ich geh nach oben und …«
»Nicht ohne mich …«
Sie drückte meine Schultern. »Ich mach solche Sachen ständig.«
»Aber wenn Randy uns erwartet …«
»Er wird nicht merken, dass ich da bin.«
Das klang für mich nach Selbstüberschätzung oder reinem Wunschdenken. »Ich sollte lieber mitkommen«, sagte ich.
»Nein, es ist besser, wenn du hier unten bleibst. Ich geh nur hoch, sehe mich um und finde raus, was los ist. Dann komm ich zurück, und wir überlegen uns, was wir unternehmen.«
»Mein Gott, ich wünschte, ich hätte die Pistolen nicht verloren.«
»Ich brauche keine Pistole. Mir passiert nichts. Aber du wartest hier. Versprochen?«
Ich zögerte.
»Versprich es«, sagte sie.
»Okay, ich verspreche es.«
Sie lehnte sich an mich und küsste mich sanft auf den Mund. »Bis gleich«, sagte sie leise und löste sich von mir. Ich stand reglos da und beobachtete, wie sie wie ein schwarzer Schatten davonglitt. Sie verursachte nicht das leiseste Geräusch. Nach wenigen Augenblicken war sie verschwunden.
Mit einem flauen Gefühl im Magen drehte ich mich um. Die Lampen aus dem Schaufenster warfen einen gelben Schimmer auf das Durcheinander von Möbeln und Kleiderständern zwischen mir und dem Eingang des Ladens. Ich sah Schaukelstühle, Stapel von Büchern und Zeitschriften auf den Regalen und Tischen, Puppen, alte Petroleumlampen, Statuen, Vasen und allen möglichen Schnickschnack. Hinter der Ladentheke hingen Samtbilder von Jesus und John F. Kennedy und Jerry Garcia neben einem ausgestopften Fabeltier, einem Hirschkopf und einer Schleiereule mit einer Schlange im Schnabel. Außerdem befand sich an der Wand eine Sammlung von Schwertern und Speeren.
Während ich zur Theke ging, sah ich aus dem Fenster. Die Schaufensterpuppen und anderer Krempel schränkten mein Blickfeld nur wenig ein.
Kirkus schien weggegangen zu sein, doch sein Wagen stand noch am Straßenrand. Vielleicht hatte er beschlossen, im Donutshop auf uns zu warten.
Oder war er losgegangen, um die Polizei zu rufen?
Nein, dachte ich. Was immer auch mit Kirkus los ist, er würde nichts tun, was mich ins Gefängnis bringen könnte.
Ich ging leise um die Theke herum und nahm mit beiden Händen ein Katana von seinen Haken hoch oben an der Wand. Behutsam zog ich das Samuraischwert aus seiner Scheide. Ich legte die Scheide auf die Theke und ging mit meiner neuen Waffe zurück in den hinteren Teil des Ladens.
Ich blieb in der Dunkelheit stehen und lauschte nach Casey.
Warum braucht sie so lange?
Reglos und mit angehaltenem Atem wartete ich.
Von überall um mich herum erklangen Geräusche. Leise Geräusche. Das Ticken von Uhren. Das Summen von elektrischen Geräten. Und kaum wahrnehmbare Laute, die ich nicht zuordnen konnte - vielleicht von alten Dingen, die allmählich verrotteten und auseinanderfielen: Nähte von Mänteln, die aufplatzten; Bücher, die aus dem Leim gingen; der Hirschkopf, der langsam verfaulte; das Knacken des Ladens selbst, dessen alternde Holzvertäfelung sich löste.
Zum ersten Mal bemerkte ich den Geruch. Es roch nach alten Kleidern und noch älteren Büchern. Nach kaltem Zigarettenrauch. Dem Pinienaroma des Bohnerwachses. Und nach Staub.
Ich schnappte auch einen Hauch süßlichen Dufts auf. Und unter all diesen Gerüchen schien der saure Gestank von Schweiß und Urin zu liegen.
Ich sollte nach oben schleichen und Casey suchen, dachte ich.
Nein. Ich kann mein Versprechen nicht brechen.
Und wenn Randy sie geschnappt hat?
Ich konnte wenigstens an der Treppe nachsehen. Das würde nicht gegen die Abmachung verstoßen, oder?
Das Katana hielt ich mit beiden Händen senkrecht vor meiner Schulter - so ähnlich wie ein Schlagmann beim Baseball, der sich mit seinem Schläger ein wenig entspannt, ehe der nächste Wurf kommt - und ging langsam weiter nach hinten.
Ich bewegte mich durch nahezu völlige Dunkelheit, als mich jemand an der Brust berührte. Es überraschte mich, jagte mir aber keinen Schrecken ein. Ich wusste, wer es sein musste. »Eddie«, flüsterte sie.
»Ja.«
»Ich hab sie gefunden. Sie ist oben.«
»Geht es ihr gut?«
»Komm am besten mit und sieh selbst.«
»Sie ist doch nicht tot, oder?«
»Nein.«
»Was ist mit Randy?«
»Ich hab mich umgeschaut, so gut es ging, ohne selbst gesehen zu werden. Da oben konnte ich ihn nirgendwo entdecken. Vielleicht ist er weggegangen. Ich weiß es nicht.« Sie tätschelte meine Brust. »Komm und nimm das Schwert mit.«
»Du kannst es sehen?«
»Du wirst von hinten beleuchtet.«
»Oh.«
»Kannst du es mit einer Hand halten?«
»Klar.«
»Dann gib mir deine andere.«
Ich umklammerte das Schwert mit der rechten Hand und streckte die linke in die Dunkelheit aus. Casey nahm sie und drückte sie kurz. »Bereit?«
»Ja.«
Sie führte mich. Wir gingen langsam auf einem so verschlungenen Pfad durch die Dunkelheit, dass ich schon bald die Orientierung verlor.
Das ist ja wie in einem Irrgarten hier, dachte ich.
Kein Wunder, dass Casey so lange gebraucht hatte.
Ich hielt ihre Hand fest, doch ich konnte sie nicht vor mir sehen.
Warum stoßen wir nicht gegen irgendwelche Sachen?
Sie muss hervorragend im Dunkeln sehen können, dachte ich. Das liegt wahrscheinlich daran, dass sie die Nächte damit verbringt, in den dunklen Häusern anderer Leute herumzuschleichen.
Hin und wieder knarrte eine Bodendiele. Ansonsten bewegten wir uns völlig lautlos voran.
»Stufen«, flüsterte sie.
Wir begannen, eine steile enge Treppe hinaufzusteigen. Auf der rechten Seite befand sich ein Geländer. Ich konnte mich nicht daran festhalten, aber ein paarmal stieß ich mit der Hüfte dagegen. Manchmal streifte ich auch mit der linken Schulter die andere Seite des Treppenhauses. Um uns herum herrschte völlige Dunkelheit und absolute Stille. Die Luft schien schwer und warm und schwarz zu sein.
Auf einem Absatz bogen wir um die Ecke, und Licht tauchte vor uns auf. Ein trüb schimmerndes rötliches Rechteck - ein Türrahmen?
Casey verdeckte einen großen Teil der hellen Fläche, während sie darauf zuging. Kurz vor dem Ende der Treppe ließ sie meine Hand los. Auf den letzten Stufen ging sie immer tiefer in die Hocke. Dann kroch sie durch den Türrahmen nach links, bis nur noch ihre nackten Füße zu sehen waren.
Ich folgte ihr geräuschlos. Am Boden kauernd blickte ich durch den Türrahmen. Die Treppe führte offensichtlich in die Ecknische eines Raums. Ich konnte nicht viel mehr sehen als drei schwach beleuchtete Wände und Casey, die auf allen vieren um die Ecke blickte.
Leise legte ich das Schwert zwischen uns auf dem Boden ab, dann kroch ich voran, so dicht neben Casey, dass ich ihre Seite streifte.
Gerade als ich feststellte, dass ihr Kopf mir die Sicht versperrte, drückte sie sich flach auf den Boden.
Ich spähte um die Ecke.
Das Zimmer war nur mit Kerzen beleuchtet. Ich konnte einige davon sehen, aber außerhalb meines Blickfelds musste es noch weitere geben. Sie füllten den Raum mit einem goldenen flackernden Schein, sich verlagernden und verformenden Schatten und vereinzelten dunklen Streifen.
Selbst in gutem Licht hätte ich wahrscheinlich nicht viel von dem Raum erkennen können, es lag einfach zu viel Gerümpel im Weg. Es war, als blickte man in einen dichten Wald aus Statuen, Stühlen, Kleiderstangen, Tischen, Spiegeln, Figürchen, Lampen, Kommoden, Umzugskartons, Vasen, Schaufensterpuppen und tausend anderer Sachen.
Aber irgendjemand hatte einen breiten Pfad durch das Gerümpel freigeräumt.
Der Weg führte direkt zu Eileen.
Sie stand ungefähr in der Mitte des Raums, vielleicht sechs Meter vor uns, mit dem Gesicht zu uns, nackt und von ein paar Dutzend Kerzen umringt. Ihre Arme waren zu den Seiten ausgestreckt und etwas über Schulterhöhe mit Handschellen an zwei stabile senkrechte Balken knapp außerhalb ihrer Reichweite gebunden. Sie war weder geknebelt, noch waren ihre Augen verbunden. Ihre Füße waren nicht gefesselt. Ihr Kopf hing herab, so dass sie uns nicht sehen konnte, aber sie schien bei Bewusstsein zu sein und stand aufrecht, statt an den Handschellen zu hängen.
Ihre nasse Haut glänzte im Kerzenlicht. Die meisten ihrer Schrammen und Kratzer und blauen Flecken sahen aus, als stammten sie noch von Mittwochnacht, als wir unter der Brücke angegriffen worden waren. Ich sah kein frisches Blut, aber auf ihren Brüsten, ihrem Bauch und den Oberschenkeln waren gerötete Stellen zu erkennen, die frisch schienen.
»Eileen?«, rief ich.
Als Eileen den Kopf hob, schlängelte sich Casey zurück, um nicht gesehen zu werden.
»Ich bin’s«, sagte ich.
Eileen begann zu weinen.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte ich mich. Dumme Frage.
»Wohl kaum.«
»Wo ist er?«
»Ich … ich weiß es nicht.«
»Ist er irgendwo hier oben?«
»Ich glaub schon. Ich bin nicht sicher. Ich glaub, er … versteckt sich irgendwo.«
»Darauf kannst du wetten.« Randys Stimme kam aus der Tiefe des Raumes, irgendwo aus Eileens unmittelbarer Umgebung.
Finster
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