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Auf mich.
Sein Gewicht warf mich nach hinten, ich fiel von
der Bordsteinkante auf die Straße, und er landete auf mir. Mein
Rücken knallte auf den Asphalt. Dann schlug mein Kopf auf.
Dong! Der Aufprall schüttelte mein Hirn durch. Kurz blitzten
Sterne vor meinen Augen auf.
Kirkus rollte sich von mir herunter. Auf Händen und
Knien sah er auf mich herab und keuchte: »Alles in Ordnung?«
Ich stöhnte.
»Oh mein Gott.«
»Ich werd’s überleben«, nuschelte ich.
»Was hab ich nur angerichtet?«
»Mach dir keine Sorgen. Hilf mir … einfach
auf.«
»Nein, nein, du solltest dich nicht bewegen. Ich
rufe einen Krankenwagen.«
»Nein. Mir geht’s gut.«
»Du könntest eine Gehirnerschütterung haben oder
…«
Ich griff nach seinem Arm und packte fest zu. »Hilf
mir einfach auf. Es wird schon gehen. Ich bleib ganz sicher nicht …
hier liegen, während du … losläufst, um einen Krankenwagen zu
rufen. Ich will nicht, dass sie mich kriegen.«
»Sie scheinen ziemlich … widerwärtig zu
sein.«
»Wir müssen abhauen.«
Er hob den Kopf und blickte sich um. »Vielleicht
hast du Recht.«
Ich ließ seinen Arm los und stützte mich auf die
Ellbogen. Mein Kopf tat weh und fühlte sich zu schwer für meinen
Hals an, aber er schien nicht zu bluten. Zumindest lief mir kein
Blut ins Gesicht oder in den Nacken.
Ich drehte langsam meinen Kopf. Ein Auto näherte
sich, war aber noch ein paar Kreuzungen entfernt. Keine Spur von
den Leuten unter der Brücke.
Kirkus hockte sich hinter mich, griff mir unter die
Achseln und half mir, mich aufzusetzen. Dann hielt er mich fest,
während ich mühsam auf die Beine kam.
»Danke«, sagte ich.
Er hielt mich immer noch.
»Du kannst loslassen.«
»Fällst du auch nicht um?«
»Wir müssen von der Straße runter.«
Er trat neben mich und umklammerte meinen linken
Oberarm. Ich taumelte von der Straße auf den Bürgersteig. Mit der
freien Hand betastete ich meinen Hinterkopf. Dort war eine dicke
Beule. Als ich sie berührte, zuckte ich vor Schmerz zusammen.
Das Auto hatte beinahe die Brücke erreicht.
»Mann oder Maus«, murmelte ich.
»Bitte?«
»Nichts.« Sofort wünschte ich, ich hätte das Spiel
nicht erwähnt. Es gehörte Casey und mir, und ich kam mir schäbig
vor, weil ich in Kirkus’ Gegenwart davon gesprochen hatte.
Der Wagen kam näher. Im Scheinwerferlicht musste
ich die Augen zusammenkneifen. Ich sah zur Seite. Das Auto fuhr
vorbei.
Kirkus hielt weiter meinen Arm fest, drehte mich
nach Süden und führte mich. Nach ein paar Schritten bemerkte ich,
was vor sich ging. »Hey«, sagte ich. »Brr, stehen bleiben.«
Er zog mich weiter vorwärts.
»Falsche Richtung«, sagte ich.
»Ich bringe dich nach Hause.«
»Nein. Ich geh nicht zurück.«
»Ich muss darauf bestehen, alter Knabe. Du bist
nicht in der Verfassung, irgendwohin zu wandern, und schon gar
nicht zu einem Donutshop am Ende der Welt.«
Ich riss mich los.
»Edward!«
Ich schlängelte mich an ihm vorbei und ging nach
Norden. Natürlich lief er mir hinterher. Ohne mich umzublicken, hob
ich die Hände und sagte: »Fass mich nicht an.«
»Bitte. Mach jetzt keine Dummheiten.«
Er griff nach meinem Arm, aber ich stieß seine Hand
weg. »Leg dich nicht mit mir an!« Ich ging so schnell ich konnte,
obwohl bei jedem Schritt Wellen des Schmerzes durch meinen Nacken
in den Kopf fuhren.
Kirkus blieb ein paar Schritte hinter mir. Auch als
wir die Brücke überquert hatten, ging ich nicht langsamer. »Das ist
verrückt«, sagte er. »Du kannst nicht einfach fröhlich weitergehen,
obwohl du verletzt bist.«
»Wegen dir«, erinnerte ich ihn.
»Es war deine Schuld. Du hättest mich springen
lassen sollen.«
»Du bist nicht gesprungen, du bist gefallen. Und
diese Kerle da unten haben nur darauf gewartet.«
Eine Zeit lang sprachen wir nicht. Kirkus blieb
einfach still hinter mir, während ich nach Norden ging. Ein paar
Straßen weiter sagte er: »Ich sollte dir wohl dankbar sein.«
»Mach dir darüber keine Gedanken.«
Er beschleunigte seine Schritte, schloss zu mir auf
und legte eine Hand auf meinen Rücken. »Du hast mir das Leben
gerettet, Eddie.«
»Höchstwahrscheinlich.«
»Und jetzt bist du verletzt, und es ist meine
Schuld.«
»Sieht so aus.«
»Es tut mir leid.«
»Hey«, sagte ich, »ist schon gut. Okay?«
»Ich schulde dir mein Leben.«
»Du schuldest mir gar nichts.«
»Doch. Schon. Nicht nur, weil du mich gerettet
hast, sondern auch, weil du dich genug um mich gesorgt hast,
um mich zu retten. Du hast dich um mich gesorgt. Es hat sich
noch nie jemand um mich gesorgt.«
»So sehr sorge ich mich nun auch wieder
nicht.«
Er lachte leise und tätschelte meinen Rücken.
»Genug, um mich vom Rand des Abgrunds zurückzuzerren.«
»Vergiss es, ja?«
»Ich werde es niemals vergessen.«
»Dann tu mir bloß einen einzigen Gefallen«, sagte
ich.
»Alles, was du willst.«
»Versuch so was nie wieder. Beim nächsten Mal lass
ich dich fallen.«
Wieder klopfte er mir auf den Rücken. »Ach,
Eduardo, du bist so ein harter Bursche.«
»Hände weg, ja?«
Er hörte auf, mich zu tätscheln, doch seine Hand
blieb auf meinem Rücken. »Wie geht’s dem Kopf?«
»Nicht besonders.«
»Soll ich ihn küssen, damit es besser wird?«
»Nein.«
Er kicherte. »Das habe ich befürchtet.«
»Das kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen,
Kirkus.«
»Was kannst du nicht gebrauchen, alter
Knabe?«
»Ich bin nicht in der Stimmung, dich andauernd
zurückweisen zu wollen.«
»Dann lass es.«
Ich wirbelte herum und schlug seine Hand von meinem
Rücken. »Hör einfach auf! Fummel nicht an mir rum! Hör auf zu
flirten! Ich kann das nicht ausstehen. Lass mich verflucht nochmal
einfach in Ruhe.«
»Ach du meine Güte.«
»Weißt du was?«
»Ich nehme an, du wirst es mir verraten.«
»Es gäbe eine geringe Chance auf Freundschaft, wenn
du aufhören würdest, dich die ganze Zeit wie eine Schwuchtel zu
benehmen.«
»Oh je, wir sind ja ganz aufgelöst.«
»Lass mich einfach in Ruhe. Geh nach Hause.« Ich
drehte mich um und ließ ihn stehen.
Er lief mir hinterher.
»Verschwinde. Ich hab die Schnauze voll von dir.
Hau ab und geh jemand anderem auf die Nerven.«
»Na schön.«
»Gut.«
Er blieb stehen. »Vielleicht wecke ich Eileen und
nerve sie.«
Ich stoppte ebenfalls und sah ihn an. »Lass Eileen
aus dem Spiel.«
»Du willst wohl nicht, dass Eileen was von deinem …
seltsamen kleinen Abenteuer mitbekommt. Warum genau hast du dich
eigentlich aus deiner Wohnung geschlichen? Erzähl mir nicht, dass
du nur auf der Suche nach Donuts bist. Selbst wenn ich so
leichtgläubig wäre, dir einen derartigen Schwachsinn abzukaufen,
bezweifle ich, dass Eileen das auch tut. Sie wird wohl das
Schlimmste annehmen.«
»Ich hätte dich fallen lassen sollen.«
»Jetzt sei nicht so mürrisch. Eileen muss nichts
davon erfahren.« Grinsend kam er auf mich zu. Er blieb vor mir
stehen und klopfte mir auf die Schulter. »Dein Geheimnis ist bei
mir gut aufgehoben«, sagte er. »Soll ich immer noch abhauen?«
»Erpressung scheint ein Hobby von dir zu
sein.«
»Ich würde es lieber Überzeugungskraft
nennen.«
Gemeinsam machten wir uns wieder auf den Weg nach
Norden.
»Ist der Herbst nicht herrlich?«, fragte Kirkus
nach
einer Weile. »Der frische kühle Wind, die wehenden Blätter? Der
Geruch von Holzrauch in der Luft?«
»Wirklich überwältigend«, sagte ich.
»Oje, du bist frustriert.«
»Ich wollte nichts als einen Spaziergang
machen.«
»Ich weiß, ich weiß. Und du gehst ja auch
spazieren.«
»Aber nicht so, wie ich es mir vorgestellt
habe.«
»Es ist viel besser«, sagte er. »Ich leiste dir
Gesellschaft.«
»Ob ich will oder nicht.«
»Natürlich willst du. Du bist nur zu plebejisch, es
zuzugeben.«
»Ja, klar.«
»Streite es ruhig ab. Wir wissen beide, dass du
mich anziehend findest. Tief im Inneren begehrst du mich. Der
Gedanke, mich zu küssen, lässt dein kleines Herz höher
schlagen.«
»Bei dem Gedanken, dich zu küssen, wird mir
schlecht.«
»Sollen wir es ausprobieren?«
Mein Herz schlug nicht höher, es blieb fast
stehen.
»Denk nicht mal dran«, sagte ich.
»Ein kleiner Kuss. Ich weiß, dass du es
willst.«
»Nein.«
Er drängte mich vom Bürgersteig. Mit beiden Händen
drehte er mich zu sich und schob mich mit dem Rücken gegen einen
Baum.
»Nicht.«
»Es wird dir gefallen. Ich weiß es.«
»Nein.«
»Doch.« Sein Gesicht kam näher. »Doch«, sagte er
noch einmal.
Ich drehte meinen Kopf zur Seite.
Seine Lippen strichen über meine Wange. »Nur einen
Kuss«, sagte er.
»Nein.«
»Du willst doch, dass ich gehe, oder?«, flüsterte
er. »Ich gehe, wenn du mich küsst. Ich lass dich allein und laufe
nicht zu Eileen. Ich gehe in meine Wohnung, du kannst deine
heimliche Flamme treffen, und niemand wird je erfahren, dass
irgendwas geschehen ist.«
»Ich habe keine heimliche Flamme.«
»Lügen haben kurze Beine.«
»Und ich werde dich nicht küssen.«
»Hast du Angst, es könnte dir gefallen?«
»Leck mich.«
»Klar, wenn dir das lieber ist.« Mit einer Hand
drehte er mein Gesicht zu sich, dann drückte er seinen Mund auf
meinen. Ich kniff die Lippen zusammen. Stöhnend versuchte er, seine
Zunge in meinen Mund zu schieben. Dann spürte ich, wie er mit der
anderen Hand meinen Schritt streichelte.
Meine Faust traf ihn am Solarplexus. Sein Atem
zischte gegen meinen Mund, und er klappte vornüber. Rückwärts
stolperte er quer über den Bürgersteig und landete mit dem Hintern
in einem Vorgarten. Dort blieb er sitzen, umklammerte seinen Bauch
und keuchte.
»Du hast deinen Kuss bekommen«, sagte ich. »Jetzt
geh nach Hause.«
Er hob nicht einmal den Kopf.
Mit dem Handrücken wischte ich meinen Mund ab, dann
drehte ich mich um und rannte davon. Am Ende des
Häuserblocks warf ich einen Blick zurück. Er kauerte auf allen
vieren auf dem Bürgersteig und sah mir hinterher.