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Ich stieß einen Schreckensschrei aus, schubste sie
weg und riss die Augen auf. Die Frau, die rückwärts über den
Bürgersteig taumelte, war nicht die Fahrradhexe, sondern Casey. Sie
landete hart auf dem Hintern.
Ich glotzte sie an.
»Au!«, sagte sie. Es klang eher nach sachlichem
Kommentar als wie ein Schmerzenslaut.
»Mein Gott! Ich hätte nie … ich wusste nicht, dass
du es bist.«
Sie lächelte zu mir hoch. »Zum Glück. Sonst wäre
neben meinem schmerzenden Hintern auch der Rest von mir
beleidigt.«
Ich stieß mich vom Baumstamm ab. Sie war auf den
Beinen, ehe ich sie erreichte, und klopfte sich die Rückseite ihrer
Kordhose ab.
»Ich bin so froh, dich zu sehen.« Sanft zog ich sie
an mich. Sie legte ihre Arme um mich. Durch das weiche Hemd
streichelte ich ihren Rücken.
Während wir uns eng umschlungen hielten, fragte
sie: »Was ist passiert, Eddie?«
»War eine harte Nacht.«
»Ich hab dich kaum wiedererkannt.«
»Du läufst durch die Gegend und küsst
Fremde?«
»Tja, manchmal. Ich habe dich von weitem gesehen …
ein Mann, der an einem Baum lehnt. Ein Wrack. Bin hingegangen, um
mir das genauer anzugucken. Konnte kaum glauben, dass du es bist.
Was ist los?«
Ich überlegte, womit ich anfangen sollte, und Casey
löste sich von mir. Ihre Hände lagen warm an meiner Taille. Ohne
zu lächeln, sah sie mir in die Augen. Sie wirkte ernst und
besorgt.
»Es ist so viel passiert«, sagte ich. »Ich erklär
dir alles, aber … das Problem ist … erinnerst du dich an diesen
Typen namens Randy, von dem ich dir erzählt habe?«
»Wie könnte ich den vergessen?«
»Er hat sich Eileen geschnappt. Ich hab gesehen,
wie sein Pick-up vorbeifuhr, mit Eileen auf dem
Beifahrersitz.«
Casey erschrak. »Bist du sicher?«
»Sicher ist für mich gar nichts mehr. Aber es sah
wie sein Wagen aus, und ich bin ziemlich überzeugt, dass es Eileen
war, die in dem Kleid, das ich kenne, wahrscheinlich bewusstlos im
Beifahrersitz hing.«
»Wann war das?«
»Ich weiß nicht … vielleicht vor einer Stunde.
Mindestens.« Ich löste meine Hände von Casey und sah auf die Uhr.
Als ich den Knopf für die Beleuchtung drückte, geschah nichts. Ich
drehte die Uhr so, dass sie das Licht einer Laterne einfing. Die
digitalen Ziffern waren verschwunden, die Anzeige leer. »Kaputt«,
sagte ich.
»Aber ungefähr vor einer Stunde?«
»So was um den Dreh.«
»In welche Richtung fuhr der Wagen?«
»Nach Norden«, sagte ich. »Auf der Franklin Street.
Ich bin ein Stück hinterhergerannt. Dann sind Lois und ich
rumgefahren und haben das Auto gesucht.«
»Lois?«
»Deine Freundin Lois.«
»Meine Lois? Du kennst sie? Woher zum Teufel
… Ach, egal. Das kann warten. Du bist also mit Lois durch die
Gegend gefahren?«
»Sie hat mir geholfen, Randy und Eileen zu suchen,
aber dann hatten wir einen Unfall.«
»Oh nein.«
»Es geht ihr gut. Wir sind beide kaum verletzt
worden, aber sie musste an der Unfallstelle bleiben. Mich hat sie
weggeschickt. Sie wollte nicht, dass sie mit den Pistolen im Auto
erwischt wird.«
»Pistolen?«
»Wir wollten Eileen befreien. Jedenfalls bin ich
abgehauen und hatte dann eine Auseinandersetzung mit der
Fahrradhexe, und zum Schluss hatte sie die Pistolen.«
»Fahrradhexe?«
»Diese verrückte alte Frau …«
»Ah. Old Missy.«
»Kennst du sie?«
»Wir sind uns schon mal begegnet. Ich weiß nicht,
wie sie heißt. Sie nennt mich immer Missy. Wenn sie plötzlich aus
dem Nichts auftaucht, ruft sie so was wie: ›Platz da, Missy.‹
Deshalb nenn ich sie Old Missy.«
»Sie ist schuld, dass Lois den Unfall gebaut hat.
Später bin ich ihr dann hinterhergerannt und gestolpert. Das ist
der Hauptgrund dafür, dass ich so derangiert bin.«
»Sie hat dich nicht mit dem Fahrrad
umgefahren?«
»Sie hat’s versucht.«
»Mich hat sie ein paarmal erwischt«, sagte Casey.
»Mit Absicht. Süßes Mädel.«
»Als sie versucht hat, mich umzufahren, hab ich
Lois’
Tasche nach ihr geworfen, aber sie hat sie
aufgefangen. Und jetzt sind Lois’ Pistolen weg, es sei denn, wir
finden Old Missy wieder.«
»Mach dir deshalb keine Sorgen. Ich kann die Waffen
jederzeit zurückholen. Nur vielleicht heute Nacht nicht, aber
…«
»Wir wollten Eileen damit retten.«
»Es gibt keine Rettung für sie. Zumindest nicht,
solange du nicht weißt, wo Randy sie hingebracht hat.«
»Wir sind herumgefahren und haben nach dem Pick-up
gesucht. Aber das war’s dann wohl. Oder hast du noch eine andere
Idee? Auf deinen ganzen nächtlichen Streifzügen …«
Sie schüttelte den Kopf. »Deiner Beschreibung nach
kenne ich ihn nicht … Vielleicht bin ich ihm mal über den Weg
gelaufen, aber es ist niemand aus einem meiner Häuser. Und von
solchen Pick-ups fahren Unmengen durch die Gegend.«
»Das haben wir bemerkt.«
»Du und Lois?«
Ich nickte.
»Sie ist eine coole Frau, oder?«
»Auf jeden Fall«, sagte ich.
»Hast du eine Vorstellung, was du jetzt machen
willst?«
»Ich hab überlegt, ob ich die Polizei rufen soll.
Sie wissen vielleicht auch nicht, wie man Eileen finden kann, aber
zumindest …«
»Die Polizei solltest du lieber aus dem Spiel
lassen.«
»Das hat Lois auch gesagt.«
»Lass uns zu Dandi Donuts gehen.«
»Würd ich ja gern. Weißt du, in welcher Richtung es
liegt?«
»Du nicht?«, fragte sie.
»Ich hab die Orientierung verloren. Ich weiß nicht
mal, wo ich bin.«
»Komm. Es ist nicht besonders weit.« Sie nahm meine
Hand und führte mich den Bürgersteig entlang. »Dort hat Randy dich
doch mit Eileen gesehen, oder?«
»Ja. Montagnacht.«
»Und dort hattest du auch in der folgenden Nacht
Ärger mit ihm, stimmt’s?«
Ich nickte.
»Er war also an zwei aufeinanderfolgenden Nächten
im Donutshop. Vielleicht kennt die Bedienung ihn. Vielleicht wohnt
er sogar dort in der Nähe.«
»Er ist zumindest ungefähr in die Richtung
gefahren, als er mit Eileen vorbeikam.«
»Dann lass uns mal gucken gehen.«
»Einen Versuch ist es wert.«
Casey kam näher zu mir und schlang mir im Laufen
einen Arm um den Rücken. Ihre Hand berührte meine Hüfte. Ich legte
meine Hand auf ihren Rücken, und sie lächelte mich an. »Ich hab
dich vermisst«, sagte sie.
»Ich hab dich auch vermisst. Sehr sogar. Deshalb
bin ich heute Nacht überhaupt aus dem Haus gegangen - um dich zu
finden. Ich wollte einfach nur mit dir zusammen sein. Ich hätte nie
gedacht, dass all diese verrückten und furchtbaren Dinge passieren
würden.«
»Wenn du in dieser Stadt nachts ausgehst,
geschehen immer solche Dinge.«
»Letztes Jahr war es nicht so. Im letzten Frühling.
Wir hatten so gut wie nie irgendwelche Schwierigkeiten.«
»Tja, im Oktober wird es immer besonders schlimm.
Scheint jedenfalls so. Oktober ist der gruseligste Monat.«
»April ist der grausamste Monat und Oktober der
gruseligste? Vielleicht wegen Halloween.«
»Der ganze Monat ist unheimlich.« Casey lächelte
mich an. »Natürlich gefällt mir das auch irgendwie.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»So bleibt das Leben interessant. Also, mit wem
bist du letzten Frühling durch die Gegend gezogen?«
»Mit Holly.« Ich verspürte keine Sehnsucht und kein
Gefühl des Verlustes mehr, als ich ihren Namen aussprach.
Vielleicht, weil ich ihn Casey gegenüber aussprach. »Wir waren
gelegentlich noch ziemlich spät unterwegs.«
»Letztes Jahr Holly, dieses Jahr Eileen. Du bist
ein vielbeschäftigter Mann.«
»Sie war das erste Mädchen, das mir … wirklich
etwas bedeutete.«
»Du hast sie geliebt.« Es war keine Frage, sondern
eine Feststellung.
»Warum glaubst du das?«
»Ich merke es. Weil deine Stimme so seltsam wird,
wenn du von ihr sprichst.«
»Jedenfalls hat sie mich abserviert.«
Wir gingen eine Weile schweigend weiter. Dann sagte
Casey: »Das war nicht besonders nett von ihr.«
»Tja …«
Sie sah mich an. »Ich helf dir, sie
zurückzukriegen.«
»Was?«
»Ich helf dir, sie zurückzubekommen. Holly. Ich
kann so was gut.« Sie grinste mich ironisch an. »Das mache ich
öfters.«
»Was machst du öfters?«
»Das ist eine meiner Spezialitäten. Sachen für
Leute in Ordnung zu bringen. Die Lage zu verbessern. Vielleicht
kann ich dich wieder mit Holly zusammenbringen.«
»Sie ist in Washington.«
»Das könnte die Sache verkomplizieren.«
»Außerdem will ich sie nicht zurück. Ich will
Eileen zurück. Obwohl ich nicht in sie verliebt bin.«
»Nicht?«
»Ich will einfach nicht, dass ihr was
zustößt.«
Als wir uns der nächsten Kreuzung näherten, blickte
ich auf die Straßenschilder. Es war Beaumont Ecke Division
Street.
Division!
Einen Häuserblock weiter rechts auf der Division
sah ich Autoscheinwerfer. Sie kamen auf uns zu.
»Mann oder Maus?«, fragte Casey.
Normalerweise hätte es mich überrascht, dass jemand
daran dachte, ein Spiel zu spielen, während Eileen dringend Hilfe
brauchte, aber so war Casey eben.
Wenn wir uns versteckten, würde es länger dauern,
bis wir zu Dandi Donuts kamen.
»Gehen wir weiter«, sagte ich.