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Sie kennt mich? Unmöglich.
Als ich ins Haus kam, trat sie in die Diele zurück.
Sie war barfuß, trug eine hellbraune Kordhose und eine langärmlige
weiße Bluse. Die Bluse hing über den Hosenbund, die oberen Knöpfe
standen offen.
Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, streckte sie
mir die Hand entgegen. »Ich bin Lois«, sagte sie.
»Hallo, Lois.« Ich nahm ihre Hand. Sie war warm und
weich. Ich konnte kaum glauben, dass ich gerade die Hand der Frau
schüttelte, die ich heimlich beobachtet hatte. Und sie kannte
meinen Namen!
»Alles in Ordnung bei dir?«
»Woher weißt du, wer ich bin?«
»Ich glaub, wir haben eine gemeinsame Freundin«,
sagte sie. »Ihr geht’s doch gut, oder?«
»Soweit ich weiß, schon. Ich hab sie heut Nacht
noch nicht gesehen. Ich bin nur hergekommen, weil bei dir Licht
brannte und ich wirklich dringend telefonieren muss.«
»Das Telefon steht da drüben.« Sie drehte sich
um.
Ich folgte ihr ins Wohnzimmer. Außer uns war
niemand dort. Der Fernseher war ausgeschaltet. Musik lief nicht. In
der Stille konnte ich unsere Schritte auf dem Teppich hören. Der
Schoß von Lois’ Bluse bedeckte ihren Hintern.
Sie ging zu einem Beistelltisch am anderen Ende des
Sofas, nahm ein schnurloses Telefon und reichte es mir. »Bitte
schön.«
»Danke.«
Als ich die Nummer eintippte, schlenderte Lois aus
dem Zimmer, vermutlich, damit ich mich nicht gestört fühlte. Das
kam mir sehr vertrauensvoll vor.
Auf dem Beistelltisch lag mit dem Umschlag nach
oben ein aufgeschlagenes Buch. Sie musste gerade darin gelesen
haben, als ich klingelte. Licht im August von
Faulkner.
Nach ein paar Freizeichen startete mein
Anrufbeantworter. Meine eigene Stimme sagte: »Dies ist der
Anschluss von Ed Logan. Ich bin nicht zu Hause. Hinterlassen Sie
bitte nach dem Signalton Ihren Namen und Ihre Nummer.« Und schon
piepste es.
»Eileen?«, fragte ich. »Bist du da? Ich bin’s, Ed.
Wenn du da bist, geh bitte ran.« Ich wartete ein paar Sekunden,
dann sagte ich: »Eileen? Bist du da? Es ist wichtig. Ich muss mit
dir sprechen. Bitte, geh ans Telefon, wenn du da bist.« Ich
wartete noch eine Weile, ehe ich das Telefon zurück in die Station
stellte.
Das ist übel, dachte ich. Wirklich übel. Die Frau
im Pick-up war Eileen gewesen, keine Frage.
Lois kam zurück ins Zimmer »Alles okay?«
»Nein, leider nicht. Aber danke, dass ich dein
Telefon benutzen durfte.«
»Kann ich dir irgendwie helfen?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich seufzend. Ich hatte
Mühe, mich zu konzentrieren.
»Du siehst fertig aus. Setz und entspann dich.
Willst du einen Schluck Kaffee? Oder einen Drink?«
»Ich glaub nicht.« Ich ließ mich aufs Sofa sinken
und lehnte mich zurück. Es fühlte sich gut an.
Lois setzte sich neben mich. Sie drehte sich zu
mir, schlug die Beine übereinander und legte einen Arm auf die
Rückenlehne. So wie sie dasaß, spannte sich die Bluse über ihrer
linken Brust. Dieselbe Brust, die ich Dienstagnacht nackt gesehen
hatte.
Ich merkte, dass ich errötete.
»Du scheinst sehr erregt zu sein«, sagte
Lois.
Weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte, nickte
ich nur.
»Ich helf dir, wenn ich kann«, sagte sie. »Meine
Freundin hält große Stücke auf dich.«
Bei diesen Worten wurde mir warm ums Herz.
»Wirklich? Wir haben uns erst letzte Nacht kennengelernt.«
»Sie konnte kaum erwarten, herzukommen und mir
alles zu erzählen.«
»Wann war sie hier?«
»Heute Morgen. Ganz früh. Sie war sehr aufgeregt
und konnte gar nicht aufhören, von dir zu reden.«
»Das ist … schön.«
»Du musst ein ganz besonderer Mensch sein.«
»Eigentlich nicht.«
»Sie glaubt es jedenfalls. Das reicht mir.«
»Tja. Danke.«
»Ich würde dir gern helfen.«
»Danke.«
»Was kann ich für dich tun?«
»Ich bin nicht sicher.«
»Willst du mir erzählen, was los ist?«
»Hm«, sagte ich und dachte darüber nach.
»Hat es mit dem Mann zu tun, der hinter dir her
war? Wie hieß er noch? Ralph?«
»Randy. Hat sie dir von ihm erzählt?«
»Sie erzählt mir so ziemlich alles.«
»Weißt du auch von Eileen?«
»Deiner Freundin?«
»Ja. Eileen. Ich weiß nicht, ob sie noch meine
Freundin ist … aber ich glaube, dass ich sie vorhin gesehen habe.
Vor ungefähr zehn Minuten. Ein Pick-up ist vorbeigefahren. Er hat
ausgesehen wie der von Randy, und die Frau auf dem Beifahrersitz
sah aus wie Eileen. Sie schien bewusstlos zu sein. Vielleicht hat
sie auch nur geschlafen, ich weiß es nicht. Vielleicht war es auch
gar nicht Eileen. Oder nicht mal Randys Pick-up. Aber ich hab
Angst, dass er Eileen in die Finger bekommen hat und sie irgendwo
hinbringt.«
»Du glaubst, er hat sie entführt?«
Ich nickte. »Aber vielleicht war sie es ja nicht.
Deshalb wollte ich anrufen. Um rauszufinden, ob sie noch zu Hause
ist. Es ist aber nur der Anrufbeantworter rangegangen. Also war sie
wohl doch in dem Pick-up. Außer sie hat geschlafen und das Klingeln
nicht gehört. Oder sie war gerade im Bad. Ich weiß es einfach
nicht. Ich glaube, dass Randy sie geschnappt hat.«
»Hast du meine Nummer auf das Band gesprochen?«,
fragte Lois.
»Nein.«
»Warum rufst du nicht nochmal an? Vielleicht ist
sie ja doch da und konnte nur nicht rechtzeitig ans Telefon
gehen.«
»Okay. Gute Idee.« Obwohl ich keine große Hoffnung
hegte, beugte ich mich zum Beistelltisch und nahm das Telefon. Ich
drückte die Wahlwiederholung. Nach der kurzen Melodie der Wähltöne
erklang das Freizeichen. Wieder meldete sich der Anrufbeantworter
und spielte meine Ansage ab. Dann piepste es. »Eileen«, sagte ich.
»Hier ist Ed. Bist du da? Es ist ziemlich dringend, also geh bitte
ran, wenn du da bist.«
Lois klopfte auf meinen Oberschenkel. »Hinterlass
meine Nummer«, flüsterte sie.
»Bist du da?«, fragte ich noch einmal. »Okay. Also.
Du kannst mich zurückrufen unter …« Ich entdeckte Lois’ Nummer über
den Wähltasten und las sie ab. Dann wiederholte ich die Zahlen noch
einmal langsamer. »Ruf mich so schnell wie möglich zurück«, sagte
ich und legte auf.
Wieder tätschelte Lois mein Bein. »Wenn sie anruft,
während wir weg sind, geht ihre Nachricht auf meinen
Anrufbeantworter.«
»Während wir weg sind?«
»Lass uns zu Eileen fahren und nachsehen, ob sie da
ist.«
»Ich hab kein Auto.«
»Ich aber. Gehen wir.« Sie sprang vom Sofa auf. Als
ich ihr durchs Wohnzimmer folgte, sagte sie: »Warte an der Tür. Ich
bin sofort wieder da.«
Während ich in der Diele stand, eilte sie in den
hinteren Teil des Hauses. Ein paar Minuten später kam sie mit
weißen Turnschuhen an den Füßen und einer Handtasche
über der Schulter zurück. Sie ging so schnell, dass ihr Haar hin
und her schwang. Auch ihre Brüste wackelten, aber ich versuchte,
nicht hinzusehen. »Ich bin so weit«, sagte sie und riss die Tür
auf.
Ich trat aus dem Haus. Sie folgte mir, schloss die
Tür und lief die Verandatreppe hinab. Ich ließ die Gittertür
zuknallen und folgte ihr schnellen Schritts. Ihr Auto stand in der
Einfahrt.
Wir stiegen ein. Als sie den Schlüssel in die
Zündung steckte, fragte sie: »Richtung Campus?«
»Ja. Fairmont Ecke Church Street.«
»Alles klar.« Sie blickte über die Schulter und
setzte aus der Einfahrt zurück. Dann schaltete sie und fuhr auf der
Franklin nach Süden.
»Ich weiß das wirklich zu schätzen«, sagte
ich.
»Kein Problem. Ich hoffe nur, dass es sich als
falscher Alarm herausstellt.«
»Ich auch. Aber es würde mich wundern.«
»Wenn sie nicht da ist, unternehmen wir den
nächsten Schritt.«
»Und der wäre?«
»Lass uns darüber nachdenken, wenn es so weit
ist.«
»Okay.«
Lois sah mich einen Moment lang an. »Weißt du
schon, wie du die Situation klären willst?«
»Was meinst du?«
»Du scheinst dich mit zwei Frauen gleichzeitig
eingelassen zu haben.«
»Ja. Sieht so aus.«
»So was geht für eine immer schlecht aus.«
Als sie das sagte, erinnerte ich mich an meine
eigenen Gefühle, als ich Hollys Brief gelesen hatte: meine
Fassungslosigkeit, das Gefühl des Verlusts, der Schmerz bei der
Vorstellung, dass sie mit Jay zusammen war. Ich hatte mich gefühlt,
als wäre mein Herz zerrissen worden. Ich hatte gedacht, nie wieder
glücklich sein zu können.
So etwas kann ich niemandem antun.
Aber der Brief war erst am letzten Freitag
angekommen. Die größte Verzweiflung hatte nur ein paar Tage
angehalten. Montagnacht war es schon besser geworden - die Nacht,
in der Eileen bei Dandi Donuts auf mich gewartet und mich nach
Hause gefahren hatte und wir uns auf dem Fußboden im Wohnzimmer
geliebt hatten, die Nacht, in der ich zum ersten Mal das
geheimnisvolle Mädchen gesehen hatte, ihr gefolgt war, mich über
sie gewundert hatte und sie unbedingt hatte kennenlernen
wollen.
Eine von beiden hatte mich ins Leben
zurückgeholt.
Eine oder beide.
»Jemand wird zwangsläufig verletzt werden«, sagte
Lois. »Das ist immer so bei solchen Konstellationen.«
»Ich weiß.«
»Was hast du vor?«
»Ich bin noch nicht sicher.«
»Du willst Casey nicht wehtun.«
»Ich will niemandem wehtun.« Dann wurde mir
bewusst, dass sie das Mädchen Casey genannt hatte. »Also heißt sie
wirklich so? Casey? Sie hat damit herumgealbert, einen Namen zu
erfinden, mit dem ich sie anreden könnte, aber ich hab mir schon
gedacht, dass sie wirklich Casey heißt.«
»Es stimmt.«
»Und weiter?«
»Einfach Casey.«
»Willst du mir den Nachnamen nicht verraten?«
Lois warf mir einen kurzen Blick zu. »Ich würde ihn
dir gerne sagen, Eddie, aber ich kenne ihn selber nicht.«