58
Sie kennt mich? Unmöglich.
Als ich ins Haus kam, trat sie in die Diele zurück. Sie war barfuß, trug eine hellbraune Kordhose und eine langärmlige weiße Bluse. Die Bluse hing über den Hosenbund, die oberen Knöpfe standen offen.
Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, streckte sie mir die Hand entgegen. »Ich bin Lois«, sagte sie.
»Hallo, Lois.« Ich nahm ihre Hand. Sie war warm und weich. Ich konnte kaum glauben, dass ich gerade die Hand der Frau schüttelte, die ich heimlich beobachtet hatte. Und sie kannte meinen Namen!
»Alles in Ordnung bei dir?«
»Woher weißt du, wer ich bin?«
»Ich glaub, wir haben eine gemeinsame Freundin«, sagte sie. »Ihr geht’s doch gut, oder?«
»Soweit ich weiß, schon. Ich hab sie heut Nacht noch nicht gesehen. Ich bin nur hergekommen, weil bei dir Licht brannte und ich wirklich dringend telefonieren muss.«
»Das Telefon steht da drüben.« Sie drehte sich um.
Ich folgte ihr ins Wohnzimmer. Außer uns war niemand dort. Der Fernseher war ausgeschaltet. Musik lief nicht. In der Stille konnte ich unsere Schritte auf dem Teppich hören. Der Schoß von Lois’ Bluse bedeckte ihren Hintern.
Sie ging zu einem Beistelltisch am anderen Ende des Sofas, nahm ein schnurloses Telefon und reichte es mir. »Bitte schön.«
»Danke.«
Als ich die Nummer eintippte, schlenderte Lois aus dem Zimmer, vermutlich, damit ich mich nicht gestört fühlte. Das kam mir sehr vertrauensvoll vor.
Auf dem Beistelltisch lag mit dem Umschlag nach oben ein aufgeschlagenes Buch. Sie musste gerade darin gelesen haben, als ich klingelte. Licht im August von Faulkner.
Nach ein paar Freizeichen startete mein Anrufbeantworter. Meine eigene Stimme sagte: »Dies ist der Anschluss von Ed Logan. Ich bin nicht zu Hause. Hinterlassen Sie bitte nach dem Signalton Ihren Namen und Ihre Nummer.« Und schon piepste es.
»Eileen?«, fragte ich. »Bist du da? Ich bin’s, Ed. Wenn du da bist, geh bitte ran.« Ich wartete ein paar Sekunden, dann sagte ich: »Eileen? Bist du da? Es ist wichtig. Ich muss mit dir sprechen. Bitte, geh ans Telefon, wenn du da bist.« Ich wartete noch eine Weile, ehe ich das Telefon zurück in die Station stellte.
Das ist übel, dachte ich. Wirklich übel. Die Frau im Pick-up war Eileen gewesen, keine Frage.
 
Lois kam zurück ins Zimmer »Alles okay?«
»Nein, leider nicht. Aber danke, dass ich dein Telefon benutzen durfte.«
»Kann ich dir irgendwie helfen?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich seufzend. Ich hatte Mühe, mich zu konzentrieren.
»Du siehst fertig aus. Setz und entspann dich. Willst du einen Schluck Kaffee? Oder einen Drink?«
»Ich glaub nicht.« Ich ließ mich aufs Sofa sinken und lehnte mich zurück. Es fühlte sich gut an.
Lois setzte sich neben mich. Sie drehte sich zu mir, schlug die Beine übereinander und legte einen Arm auf die Rückenlehne. So wie sie dasaß, spannte sich die Bluse über ihrer linken Brust. Dieselbe Brust, die ich Dienstagnacht nackt gesehen hatte.
Ich merkte, dass ich errötete.
»Du scheinst sehr erregt zu sein«, sagte Lois.
Weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte, nickte ich nur.
»Ich helf dir, wenn ich kann«, sagte sie. »Meine Freundin hält große Stücke auf dich.«
Bei diesen Worten wurde mir warm ums Herz. »Wirklich? Wir haben uns erst letzte Nacht kennengelernt.«
»Sie konnte kaum erwarten, herzukommen und mir alles zu erzählen.«
»Wann war sie hier?«
»Heute Morgen. Ganz früh. Sie war sehr aufgeregt und konnte gar nicht aufhören, von dir zu reden.«
»Das ist … schön.«
»Du musst ein ganz besonderer Mensch sein.«
»Eigentlich nicht.«
»Sie glaubt es jedenfalls. Das reicht mir.«
»Tja. Danke.«
»Ich würde dir gern helfen.«
»Danke.«
»Was kann ich für dich tun?«
»Ich bin nicht sicher.«
»Willst du mir erzählen, was los ist?«
»Hm«, sagte ich und dachte darüber nach.
»Hat es mit dem Mann zu tun, der hinter dir her war? Wie hieß er noch? Ralph?«
»Randy. Hat sie dir von ihm erzählt?«
»Sie erzählt mir so ziemlich alles.«
»Weißt du auch von Eileen?«
»Deiner Freundin?«
»Ja. Eileen. Ich weiß nicht, ob sie noch meine Freundin ist … aber ich glaube, dass ich sie vorhin gesehen habe. Vor ungefähr zehn Minuten. Ein Pick-up ist vorbeigefahren. Er hat ausgesehen wie der von Randy, und die Frau auf dem Beifahrersitz sah aus wie Eileen. Sie schien bewusstlos zu sein. Vielleicht hat sie auch nur geschlafen, ich weiß es nicht. Vielleicht war es auch gar nicht Eileen. Oder nicht mal Randys Pick-up. Aber ich hab Angst, dass er Eileen in die Finger bekommen hat und sie irgendwo hinbringt.«
»Du glaubst, er hat sie entführt?«
Ich nickte. »Aber vielleicht war sie es ja nicht. Deshalb wollte ich anrufen. Um rauszufinden, ob sie noch zu Hause ist. Es ist aber nur der Anrufbeantworter rangegangen. Also war sie wohl doch in dem Pick-up. Außer sie hat geschlafen und das Klingeln nicht gehört. Oder sie war gerade im Bad. Ich weiß es einfach nicht. Ich glaube, dass Randy sie geschnappt hat.«
»Hast du meine Nummer auf das Band gesprochen?«, fragte Lois.
»Nein.«
»Warum rufst du nicht nochmal an? Vielleicht ist sie ja doch da und konnte nur nicht rechtzeitig ans Telefon gehen.«
»Okay. Gute Idee.« Obwohl ich keine große Hoffnung hegte, beugte ich mich zum Beistelltisch und nahm das Telefon. Ich drückte die Wahlwiederholung. Nach der kurzen Melodie der Wähltöne erklang das Freizeichen. Wieder meldete sich der Anrufbeantworter und spielte meine Ansage ab. Dann piepste es. »Eileen«, sagte ich. »Hier ist Ed. Bist du da? Es ist ziemlich dringend, also geh bitte ran, wenn du da bist.«
Lois klopfte auf meinen Oberschenkel. »Hinterlass meine Nummer«, flüsterte sie.
»Bist du da?«, fragte ich noch einmal. »Okay. Also. Du kannst mich zurückrufen unter …« Ich entdeckte Lois’ Nummer über den Wähltasten und las sie ab. Dann wiederholte ich die Zahlen noch einmal langsamer. »Ruf mich so schnell wie möglich zurück«, sagte ich und legte auf.
Wieder tätschelte Lois mein Bein. »Wenn sie anruft, während wir weg sind, geht ihre Nachricht auf meinen Anrufbeantworter.«
»Während wir weg sind?«
»Lass uns zu Eileen fahren und nachsehen, ob sie da ist.«
»Ich hab kein Auto.«
»Ich aber. Gehen wir.« Sie sprang vom Sofa auf. Als ich ihr durchs Wohnzimmer folgte, sagte sie: »Warte an der Tür. Ich bin sofort wieder da.«
Während ich in der Diele stand, eilte sie in den hinteren Teil des Hauses. Ein paar Minuten später kam sie mit weißen Turnschuhen an den Füßen und einer Handtasche über der Schulter zurück. Sie ging so schnell, dass ihr Haar hin und her schwang. Auch ihre Brüste wackelten, aber ich versuchte, nicht hinzusehen. »Ich bin so weit«, sagte sie und riss die Tür auf.
Ich trat aus dem Haus. Sie folgte mir, schloss die Tür und lief die Verandatreppe hinab. Ich ließ die Gittertür zuknallen und folgte ihr schnellen Schritts. Ihr Auto stand in der Einfahrt.
Wir stiegen ein. Als sie den Schlüssel in die Zündung steckte, fragte sie: »Richtung Campus?«
»Ja. Fairmont Ecke Church Street.«
»Alles klar.« Sie blickte über die Schulter und setzte aus der Einfahrt zurück. Dann schaltete sie und fuhr auf der Franklin nach Süden.
»Ich weiß das wirklich zu schätzen«, sagte ich.
»Kein Problem. Ich hoffe nur, dass es sich als falscher Alarm herausstellt.«
»Ich auch. Aber es würde mich wundern.«
»Wenn sie nicht da ist, unternehmen wir den nächsten Schritt.«
»Und der wäre?«
»Lass uns darüber nachdenken, wenn es so weit ist.«
»Okay.«
Lois sah mich einen Moment lang an. »Weißt du schon, wie du die Situation klären willst?«
»Was meinst du?«
»Du scheinst dich mit zwei Frauen gleichzeitig eingelassen zu haben.«
»Ja. Sieht so aus.«
»So was geht für eine immer schlecht aus.«
Als sie das sagte, erinnerte ich mich an meine eigenen Gefühle, als ich Hollys Brief gelesen hatte: meine Fassungslosigkeit, das Gefühl des Verlusts, der Schmerz bei der Vorstellung, dass sie mit Jay zusammen war. Ich hatte mich gefühlt, als wäre mein Herz zerrissen worden. Ich hatte gedacht, nie wieder glücklich sein zu können.
So etwas kann ich niemandem antun.
Aber der Brief war erst am letzten Freitag angekommen. Die größte Verzweiflung hatte nur ein paar Tage angehalten. Montagnacht war es schon besser geworden - die Nacht, in der Eileen bei Dandi Donuts auf mich gewartet und mich nach Hause gefahren hatte und wir uns auf dem Fußboden im Wohnzimmer geliebt hatten, die Nacht, in der ich zum ersten Mal das geheimnisvolle Mädchen gesehen hatte, ihr gefolgt war, mich über sie gewundert hatte und sie unbedingt hatte kennenlernen wollen.
Eine von beiden hatte mich ins Leben zurückgeholt.
Eine oder beide.
»Jemand wird zwangsläufig verletzt werden«, sagte Lois. »Das ist immer so bei solchen Konstellationen.«
»Ich weiß.«
»Was hast du vor?«
»Ich bin noch nicht sicher.«
»Du willst Casey nicht wehtun.«
»Ich will niemandem wehtun.« Dann wurde mir bewusst, dass sie das Mädchen Casey genannt hatte. »Also heißt sie wirklich so? Casey? Sie hat damit herumgealbert, einen Namen zu erfinden, mit dem ich sie anreden könnte, aber ich hab mir schon gedacht, dass sie wirklich Casey heißt.«
»Es stimmt.«
»Und weiter?«
»Einfach Casey.«
»Willst du mir den Nachnamen nicht verraten?«
Lois warf mir einen kurzen Blick zu. »Ich würde ihn dir gerne sagen, Eddie, aber ich kenne ihn selber nicht.«
Finster
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