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Erstaunt starrte ich sie an. Obwohl ich gehofft
hatte, sie zu finden, hatte ich nicht erwartet, dass es so einfach
werden würde. Die Suche hätte drei oder vier Nächte dauern können
oder eine Woche oder einen Monat. Es wäre gut möglich gewesen, dass
ich sie nie wiedergesehen hätte.
Und da war sie nun und kam aus demselben Haus, in
das ich sie am Montag hatte reingehen sehen.
Auf dem Bürgersteig bog sie nach rechts und folgte
der Franklin Street nach Norden. Als sie die nächste Kreuzung
erreichte, hastete ich aus meinem Versteck.
Was, wenn die Tequila-Frau
hinausblickt?
Auf der Veranda schien niemand zu sein. Die
Eingangstür war geschlossen. Alle Fenster an der Vorderseite waren
dunkel, und ich konnte niemanden erkennen, der hinaussah.
Wenn sie mich gesehen hat, kann ich sowieso
nichts mehr daran ändern.
Ich blieb auf meiner Seite der Franklin und ging
bis zum Ende des Häuserblocks.
Morgen Nacht wird sie es dem Mädchen
erzählen.
Wenn nicht früher. Vielleicht sagt sie es ihr
nächsten Morgen am Telefon. Oder im Seminar. Oder bei der Arbeit.
Süße, als du letzte Nacht aus dem Haus gegangen bist, hab ich
einen Fremden beobachtet, der gegenüber aus dem Gebüsch gekrochen
kam und dir gefolgt ist. In meiner Vorstellung sprach sie in
einem weichen, schleppenden Tonfall wie eine Figur aus einem Stück
von Tennessee Williams. Du solltest gut aufpassen. Vielleicht
kommst du besser nicht mehr, bis sich die Angelegenheit erledigt
hat.
Andererseits gab es keinen vernünftigen Grund
anzunehmen, dass sie mich gesehen hatte. Als das Mädchen sich auf
den Weg machte, war sie vielleicht einfach im Bett geblieben. Oder
sie war für einen Schlummertrunk in die Küche gegangen.
Tatsächlich könnte sie auch die ganze Sache
verschlafen haben. Vielleicht hatte das Mädchen einen anderen
Bewohner des Hauses besucht.
Und wenn diese Person mich aus dem Fenster
beobachtet hatte?
Niemand hat mich gesehen!
Zumindest ist es unwahrscheinlich, sagte ich mir.
Aber wenn doch, wird das Mädchen es morgen wohl erfahren. Heute
Nacht böte sich mir meine einzige Chance.
Ich überquerte die Straße, und wir befanden uns nun
auf demselben Bürgersteig.
Obwohl sich zwischen uns fast ein ganzer
Häuserblock befand, verband uns der schmale, gerade
Betonstreifen.
Ihr Tempo war gemächlicher als meines. Sie
schlenderte daher, als wollte sie einfach nur die Nacht genießen.
Ich gestattete mir, ein Stück aufzuholen. Dann ging ich
langsamer.
Wie in der Nacht unseres ersten Zusammentreffens
erfüllte mich das Bewusstsein, wie seltsam es war, dass wir uns
angesichts der gewaltigen Ausmaße von Zeit und Raum im selben
Moment am selben Ort befanden.
Es gab so viele Möglichkeiten, die dieses
Zusammentreffen hätten verhindern können.
Und trotzdem war es geschehen.
Die Macht des Zufalls oder der Natur oder Gottes
hatte uns in dieser Nacht von allen Nächten des Jahres
zusammengeführt. Lediglich meine Entschlossenheit, sie zu finden,
hatte ein wenig nachgeholfen.
Was nun?
Ich wollte ihr nicht einfach nur folgen, sondern
sie kennenlernen.
Ich muss näher an sie heran.
Wie? Bis jetzt schien sie mich noch nicht bemerkt
zu haben. Aber es würde nicht mehr lange dauern.
Wenn sie mich kommen sieht, haut sie
ab.
Nicht zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich
mir, ich wäre unsichtbar. Dann würde ich rasch zu ihr aufschließen,
nur ein oder zwei Schritte hinter ihr bleiben und eine Zeit lang
beobachten, wie sie sich bewegt, ehe ich sie überholte und
rückwärts ging, um sie von vorn zu betrachten. Wenn sie mich nicht
sähe, könnte ich sie so lange anstarren, wie ich wollte. Ich müsste
nicht verschwinden, selbst dann nicht, wenn sie nach Hause ginge.
Ich konnte einfach mit ihr hineingehen. Vielleicht würde sie ein
Bad nehmen, bevor sie ins Bett ging.
Ich stellte mir vor, neben ihr im Schlafzimmer zu
stehen, während sie ihr Sweatshirt auszog.
Klar. Träum weiter.
Wie wäre es, wenn ich mich ihr von vorn näherte?
Das würde ihr wahrscheinlich keinen derartigen Schrecken einjagen.
Ich könnte um den Block rennen und sie überholen. Und dann sogar
vor ihr gehen, so dass sie mir folgt. Dann langsamer
werden. So würde sie zu mir aufschließen. Vielleicht.
Toller Plan, dachte ich. Immerhin besser als zu
versuchen, unsichtbar zu werden.
Es geht jedenfalls schon in die richtige
Richtung.
Es gab nur ein Problem. Um meinen Plan umzusetzen,
müsste ich einen Umweg machen und dann zur Franklin Street
zurückkehren, und dann wäre das Mädchen wahrscheinlich weg. So
laufen die Dinge in der Wirklichkeit.
Auf dem Papier sieht es gut aus …
Natürlich müsste sie nicht zwangsläufig
verschwinden. Es war gut möglich, dass sie noch ein Stück weiter
auf der Franklin nach Norden lief.
Nicht, wenn ich versuche, eine Bogen um sie zu
schlagen. Dann verpasse ich sie.
Es ist besser, wenn ich mich einfach zurückhalte
und ihr in sicherer Entfernung folge. Mal sehen, was passiert. Wenn
ich Glück habe, führt sie mich zu sich nach Hause.
Ein paar Minuten später überquerte sie die Franklin
Street.
Gut, dass ich mich entschieden hatte, keinen Bogen
um sie zu schlagen. Sie wäre weg gewesen, wie ich es vermutet
hatte.
Sie verließ die Franklin und ging auf einer
Querstraße nach Westen. Nachdem sie aus meinem Blickfeld
verschwunden war, rannte ich quer über die Franklin. Dann
schlenderte ich in gemächlichem Tempo bis zur Ecke vor. Dort
blickte ich beiläufig erst nach rechts, dann nach links.
Der Bürgersteig war leer.
Hab ich sie verloren?
Ehe ich den Schreck verdaut hatte, erregte eine
Bewegung meine Aufmerksamkeit. Sie überquerte gerade die Straße und
war schon fast auf der anderen Seite angelangt. Da ich befürchtete,
sie könnte sich umdrehen, hielt ich nach Deckung Ausschau. Die
Laternenpfähle waren zu schmal. Der Stamm des nächsten Baums
ebenfalls. Aber am Straßenrand parkte ein Auto. Ich lief hinüber
und duckte mich dahinter.
Ein mieses Versteck. Es verbarg mich vor dem
Mädchen, aber nicht vor anderen neugierigen Augen.
Ich spähte über die Motorhaube und sah, wie sie
über den Rasen auf ein zweigeschossiges Haus an der Straße zuging.
Hinter den Fenstern brannte kein Licht. Auch die Veranda war
dunkel.
Im Schein der Laternen stieg sie die Verandastufen
hinauf. Dann verschluckten sie die Schatten. Ich versuchte zu
erkennen, ob sich die Haustür öffnete. Vielleicht würde ein grauer
Streifen sichtbar werden und sich ausdehnen, so wie
Montagnacht.
Nichts Erkennbares tat sich.
Wenn es im Inneren genauso dunkel ist wie auf der
Veranda, überlegte ich, würde man von einer etwaigen Bewegung
nichts mitbekommen.
Was, wenn sie noch auf der Veranda
ist?
Vielleicht wohnt sie nicht dort und versteckt sich
nur auf der Veranda, weil sie befürchtet, verfolgt zu werden.
Denn siehe, sie weiß, der erzböse Feind
Stapft ihr auf den Fersen einher.
Stapft ihr auf den Fersen einher.
Sie hatte mich vielleicht flüchtig gesehen und
hielt mich für einen erzbösen Feind, der ihr folgte.
Ich schämte mich.
Ich bin nicht dein Feind, teilte ich ihr im
Geiste mit. Ich würde dir niemals wehtun. Es gibt überhaupt
keinen Grund, Angst vor mir zu haben.
Klar, dachte ich. Keinen Grund? Und was ist mit
meiner
Hinterherschleicherei? Wie könnte sie das völlig kaltlassen? Aus
ihrer Sicht könnte ich darauf aus sein, sie zu entführen … sie in
einen Wald zu schleppen (oder unter eine Brücke), ihr die Klamotten
vom Leib zu reißen und Sachen mit ihr anzustellen, die sie schreien
ließen.
Ich stellte sie mir an einem dunklen Ort vor, wie
sie nackt an ihren Handgelenken aufgehängt war und sich wand.
Das würde ich niemals tun, sagte ich ihr im
Geiste.
Beobachtet sie mich von der Veranda
aus?
Ich fühlte mich schrecklich verwundbar, wie ich
dort hinter dem Auto hockte. Es könnte jemand vorbeikommen. Gerade
in diesem Augenblick könnte mich jemand aus einem Haus beobachten.
Vielleicht war die Polizei schon unterwegs.
Wenn sie für einen blutigen Mord unter der Brücke
nicht ausrücken, sagte ich mir, dann kommen sie auch nicht wegen
mir.
Glaubst du?
Ich musste ein besseres Versteck finden. Aber wenn
das Mädchen mich von der Veranda aus beobachtete, würde sie sehen,
wie ich hinter dem Wagen hervorkam, und ihre schlimmsten
Befürchtungen würden sich scheinbar bestätigen. Dann hätte ich
keine Chance mehr, mich mit ihr anzufreunden.
Sie ist wahrscheinlich im Haus, sagte ich mir. Ich
habe nur nicht mitbekommen, wie sie die Tür geöffnet hat.
Aber wenn sie doch auf der Veranda ist
…
Ich hörte, wie sich ein Auto näherte. Es schien
noch
weit weg zu sein. Ich konnte nicht feststellen, aus welcher
Richtung es kam.
Genau das, was ich jetzt brauche.
Jeder, der rechts von mir über die Franklin oder
links von mir auf der von Norden nach Süden verlaufenden Straße
(der Name ist mir entfallen) entlangfuhr, würde sehen können, wie
ich mich hinter dem parkenden Auto versteckte.
Aber wenn ich weggerannt wäre, hätte sie mich sehen
können.
Was soll ich machen?
Das Motorengeräusch wurde lauter.
Scheiße, verdammte Scheiße!
Das parkende Auto, das mir so wenig Schutz bot, war
niedrig und stand dicht am Bordstein. Vermutlich konnte ich nicht
darunter kriechen, zumindest nicht von dieser Seite.
Als die Scheinwerfer die Kreuzung an der Franklin
Street beleuchteten, legte ich mich flach neben dem Auto ins Gras
und drückte mein Gesicht zwischen die überkreuzten Arme.
Zu dem Motorengeräusch und dem Zischen der Reifen
auf dem Asphalt hörte ich vertraute Musik. »Excitable Boy« von
Warren Zevon. Die Geräusche wurden lauter, als der Wagen über die
Kreuzung fuhr.
Ich hob meinen Kopf.
Ein kleiner heller Pick-up, wie Randy ihn
fuhr.