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Ich rannte durch das Haus und vermied es
irgendwie, gegen Möbel oder Wände zu prallen. Draußen sprang ich
von der Veranda, lief zur Straße, überquerte sie und rannte weiter.
Ich sprintete um eine Ecke, kreuzte eine weitere Straße, bog erneut
ab und erreichte schließlich in einer Gegend mit luxuriös
aussehenden Gebäuden ein zweigeschossiges Haus mit beleuchteter
Veranda, aber dunklen Fenstern.
Der Garten hinter dem Haus war eingezäunt, doch das
Tor war nicht abgeschlossen. Leise ging ich hinein. Dann
schlich ich an der Hauswand entlang. Hinter dem Haus stieß ich auf
einen Swimmingpool.
Das Becken war nicht beleuchtet. Ebenso wenig wie
die Terrasse und die Fenster auf der Rückseite.
Auf der Terrasse standen ein Grill, ein Tisch mit
Glasplatte und eisernen Stühlen, zwei Gartenstühle aus Aluminium
und ein Liegestuhl mit einem kleinen Beistelltisch. Auf dem Tisch
stand ein Glas. Ich griff danach. Es war aus dickem Plastik, und am
Boden befand sich ein Rest Flüssigkeit. Wahrscheinlich geschmolzene
Eiswürfel. Jemand musste hier draußen einen Cocktail getrunken
haben.
War er oder sie auch geschwommen? Für
Oktoberverhältnisse war es ein warmer und sonniger Tag
gewesen.
Ich beugte mich vor und strich über die
Gummibespannung des Liegestuhls. Sie war weich und kühl und
trocken. Die Bespannung sank ein, als ich mich setzte. Ich klappte
die Rückenlehne nach hinten und legte mich hin.
Blasse Wolkenfetzen trieben im Mondlicht über den
Himmel. Die nächtliche Brise trug den Geruch von Holzrauch aus den
Kaminen mit sich.
Schön, dachte ich.
Ich faltete die Hände vor dem Bauch und schloss die
Augen.
Der Wind fühlte sich im Gesicht zwar kühl an, aber
in meiner Jeans und meinem dicken weichen Hemd war mir angenehm
warm.
Die Anspannung und der Schmerz begannen sich
aufzulösen.
Das ist so herrlich, dachte ich, jetzt nur nicht
hier hinten erwischt werden.
Bei meinem Glück kletterte bestimmt gleich ein
vertrockneter alter Zombie aus dem Pool und wankte gekrümmt auf
mich zu.
Was ist nur mit dieser Stadt los?, fragte ich mich.
Überall, wo ich hingehe, stoße ich auf widerliche Typen und
Verrückte.
Nicht überall, sagte ich mir. Denk an Casey. Sie
ist weder widerlich noch verrückt. Und Marianne schien auch nett zu
sein. Und die Tequila-Frau bestimmt ebenfalls.
Wie wär’s, wenn eine von denen aus dem Pool
kletterte?
Welche?
Während ich den Pool vor meinem geistigen Auge sah,
tauchte jemand aus dem Wasser auf und schwang sich am Beckenrand
hoch. Die Tequila-Frau, schlank und wunderschön im Mondlicht. Ihr
Haar war nicht nass, aber ihr Nachthemd. Der helle Stoff klebte an
ihrem Körper und endete weit oben an ihren Schenkeln. Mit
langsamen, anmutigen Schritten kam sie auf mich zu. Auf dem Weg
verwandelte sie sich in Casey.
Gut, dachte ich. Ich kenne die Tequila-Frau ja
nicht mal richtig.
Casey trug Jeans und ein weites Sweatshirt. Ich
versuchte, sie mir in dem nassen, enganliegenden Nachthemd
vorzustellen, das nichts verbarg, aber es gelang mir nicht.
Sie hockte sich neben mich und strich mir über die
Stirn.
Du hast einen üblen Schlag auf die Birne
gekriegt, Chucky.
Kirkus ist auf mich gefallen.
Ich werde dich dort küssen, dann wird es
besser.
Leider befand sich die Beule an meinem Hinterkopf.
Ich dreh mich um, sagte ich. Doch ich bewegte mich nicht.
Obwohl ich unbedingt wollte, dass Casey meine Beule küsste, war
meine Lage einfach zu bequem.
Nur einen Augenblick noch, dann drehe ich mich um,
dachte ich.
Das nächste Mal, als ich ans Umdrehen dachte, war
ich entspannt, ausgeruht und munter. Ich schlug die Augen auf. Ein
paar blasse Wolkenfetzen trieben vorbei. Der Vollmond stand hoch
und hell am Himmel. Ich hatte anscheinend geschlafen.
Meine Kopfhaut war an einer Stelle gespannt und
wund, aber ansonsten fühlte sich mein Kopf ganz gut an. Mein
Nickerchen hatte den Tabletten offenbar Zeit gegeben, ihre Wirkung
zu entfalten.
Ich hielt meinen linken Arm vors Gesicht und
schaltete das Licht an meiner Armbanduhr an. 23:10.
Nicht schlecht!
Skeptisch bezüglich meines Kopfs, setzte ich mich
langsam auf. Dann erhob ich mich vom Liegestuhl und fühlte mich
immer noch gut.
Sehr gut.
Ich blickte mich um. Wie vor meinem
Erholungsschläfchen waren alle Lichter erloschen.
Meine Glücksnacht, dachte ich.
Ja, klar. Aber nur, wenn man Sunny Boy nicht
mitzählt und die Tatsache, dass Kirkus auf mich gefallen und mein
Kopf auf die Straße geknallt ist.
Na gut, dachte ich. Jetzt kann es nur besser
werden.
Ach, wirklich?
Hoffentlich. Hoffentlich habe ich wenigstens Kirkus
für diese Nacht abgehängt und keine Schwierigkeiten, Casey zu
finden. Das ist alles, was ich will. Ganz einfach. Casey und keinen
Kirkus.
Ich ging um das Haus herum und durch das Gartentor
hinaus. An der Ecke des Vorgartens blieb ich stehen. Die Gegend kam
mir nicht bekannt vor. Es war dunkler als bei meiner Ankunft. Ich
sah niemanden herumlaufen. Eine Zeit lang kam kein Auto. Dann
näherten sich zwei hintereinander und fuhren vorbei.
Viertel nach elf am Freitagabend. Viele Menschen
sind schon im Bett. Einige gehen gerade vom Kino oder von ihren
Freunden nach Hause. Andere sind noch unterwegs und machen einen
drauf.
Und wo ist mein guter Kumpel Kirkus?, fragte ich
mich. Zu Hause? Oder ist er zurück zu meiner Wohnung gegangen und
hat Eileen geweckt?
Wenn er das getan hat …!
Vielleicht ist er auch - Gott bewahre - zur Brücke
zurückgegangen und gesprungen. Wäre das nicht ein tragischer
Verlust?
Dieser Gedanke verschaffte mir ein schlechtes
Gewissen.
Das würde er nicht tun, sagte ich mir. Er wollte
eigentlich gar nicht springen, sondern ist in erster Linie auf die
Brüstung geklettert, um ein Drama aufzuführen. Er hätte das alles
nicht gemacht, wenn ich nicht dabei gewesen wäre.
Er hat es getan, um meine Aufmerksamkeit zu
erlangen.
Tja, das hat er geschafft.
Ich erinnerte mich plötzlich, wie sich sein offener
Mund und seine Hand in meinem Schritt angefühlt hatten. Das löste
eine seltsame Beklemmung aus, ein ähnliches Gefühl, als wäre man
versehentlich auf ein totes Vogelküken getreten.
Ich wischte mir mit dem Ärmel über die Lippen und
ging los. Auf dem Bürgersteig wandte ich mich nach links.
Man versucht, mit jemandem befreundet zu sein, und
dann macht er so etwas.
»Was hast du erwartet?«, murmelte ich.
An der nächsten Ecke las ich die Straßenschilder.
Olive und Conway Street. Beides hatte ich noch nie gehört.
Wo zum Teufel bin ich?
Nachdem ich vor Kirkus weggerannt war, hatte ich
mich darauf konzentriert (soweit mein gepeinigter Schädel zur
Konzentration fähig gewesen war), ihn abzuhängen, indem ich öfter
die Richtung wechselte. Ich hatte nicht darauf geachtet, wo ich
mich gerade befand. Auch nicht bei meiner Flucht aus Sunny Boys
Haus.
Macht nichts, sagte ich mir. Ich habe mich nicht
verlaufen, sondern bin nur nicht sicher, wo genau ich bin.
Kein Grund zur Unruhe.
Ich war offenbar irgendwo nördlich der
Fairmont-Street-Brücke. Das war jedenfalls mein Eindruck. Nachdem
ich Kirkus losgeworden war, war ich ungefähr Richtung Norden und
Osten gelaufen, nahm ich an.
Immerhin wusste ich, wo ich sein wollte …
beim Haus der Tequila-Frau an der Franklin Street, um endlich nach
Casey Ausschau halten zu können.
In welcher Richtung liegt es?
Weiter nördlich, vermutlich.
Aber wo ist Norden?
Ich drehte mich an der Kreuzung einmal um mich
selbst, blickte die Straßen entlang und sah Scheinwerfer, parkende
Autos, Bäume und Häuser. Aber nichts, was als Orientierungspunkt
dienen konnte.
Großartig.
Kein Problem, sagte ich mir. Ich habe reichlich
Zeit.
Such dir eine Richtung aus, irgendeine. Spielt
keine Rolle. Egal wohin ich gehe, früher oder später stoße ich auf
eine Straße, die ich kenne. Dann ist alles im Lot.
Ich bog nach rechts und schritt rasch aus. Je
schneller ich ging, desto früher würde ich eine vertraute Straße
finden und mich beruhigen.
Nicht zu wissen, wo ich mich befand, war nicht
gerade angenehm. Es verunsicherte mich und gab mir das Gefühl, in
der Twilight Zone gelandet zu sein.
Ich rechnete fast damit, dass der Moderator Rod
Serling hinter einem Baum hervortrat.
Stellen Sie sich vor … ein Mann namens Ed Logan
… In einer schönen Oktobernacht verlässt er seine Wohnung, um sich
auf die Suche nach seiner wahren Liebe zu begeben, aber stattdessen
muss er erfahren, dass die Straßen nicht immer dahin führen, wohin
sie zu führen scheinen, und dass die Liebe nicht immer »einen Weg
findet«, besonders in dieser Region, in der die Grenzen verwischen
und die wir die Twilight Zone nennen …
Ein Motorengeräusch unterbrach meine Gedanken. Ich
blickte über die Schulter zurück. Scheinwerfer. Sie kamen schnell
näher.
Mann oder Maus?
Zu spät zum Verstecken.
Also blieb ich reglos auf dem Bürgersteig stehen
und sah zu, wie die Scheinwerfer größer und heller wurden.
Ein Pick-up.
Er raste vorbei.
Es war ein kleinerer heller Pick-up. Den Fahrer
konnte ich nicht erkennen, aber es gelang mir, einen kurzen Blick
auf die Beifahrerin zu werfen.
Ihr Kopf hing schlaff herunter, als wäre sie
eingeschlafen. Er wackelte mit den Bewegungen des Fahrzeugs hin und
her. Genau wie ihre Schultern. Unangeschnallt wäre sie
wahrscheinlich nach vorn gekippt.
Durch die Schieflage ihres Kopfs war der größte
Teil des Gesichts von Haaren verdeckt.
Sie schien ein dunkles knappes Kleid mit tiefem
Ausschnitt zu tragen. Es stand weit offen, so dass man ein Stück
Haut und einen erheblichen Teil ihrer linken Brust erkennen
konnte.
Eileen?
In Randys Pick-up?
Der Wagen musste ungefähr fünfzehn Meter vor mir
gewesen sein, als ich meinen Schock überwunden hatte und die
Verfolgung aufnahm. Ich holte ein paar Sekunden lang auf, während
der Pick-up an einer Ampel wartete.
Dann fuhr er los und ließ mich zurück.