56
Ich rannte durch das Haus und vermied es irgendwie, gegen Möbel oder Wände zu prallen. Draußen sprang ich von der Veranda, lief zur Straße, überquerte sie und rannte weiter. Ich sprintete um eine Ecke, kreuzte eine weitere Straße, bog erneut ab und erreichte schließlich in einer Gegend mit luxuriös aussehenden Gebäuden ein zweigeschossiges Haus mit beleuchteter Veranda, aber dunklen Fenstern.
Der Garten hinter dem Haus war eingezäunt, doch das Tor war nicht abgeschlossen. Leise ging ich hinein. Dann schlich ich an der Hauswand entlang. Hinter dem Haus stieß ich auf einen Swimmingpool.
Das Becken war nicht beleuchtet. Ebenso wenig wie die Terrasse und die Fenster auf der Rückseite.
Auf der Terrasse standen ein Grill, ein Tisch mit Glasplatte und eisernen Stühlen, zwei Gartenstühle aus Aluminium und ein Liegestuhl mit einem kleinen Beistelltisch. Auf dem Tisch stand ein Glas. Ich griff danach. Es war aus dickem Plastik, und am Boden befand sich ein Rest Flüssigkeit. Wahrscheinlich geschmolzene Eiswürfel. Jemand musste hier draußen einen Cocktail getrunken haben.
War er oder sie auch geschwommen? Für Oktoberverhältnisse war es ein warmer und sonniger Tag gewesen.
Ich beugte mich vor und strich über die Gummibespannung des Liegestuhls. Sie war weich und kühl und trocken. Die Bespannung sank ein, als ich mich setzte. Ich klappte die Rückenlehne nach hinten und legte mich hin.
Blasse Wolkenfetzen trieben im Mondlicht über den Himmel. Die nächtliche Brise trug den Geruch von Holzrauch aus den Kaminen mit sich.
Schön, dachte ich.
Ich faltete die Hände vor dem Bauch und schloss die Augen.
Der Wind fühlte sich im Gesicht zwar kühl an, aber in meiner Jeans und meinem dicken weichen Hemd war mir angenehm warm.
Die Anspannung und der Schmerz begannen sich aufzulösen.
Das ist so herrlich, dachte ich, jetzt nur nicht hier hinten erwischt werden.
Bei meinem Glück kletterte bestimmt gleich ein vertrockneter alter Zombie aus dem Pool und wankte gekrümmt auf mich zu.
Was ist nur mit dieser Stadt los?, fragte ich mich. Überall, wo ich hingehe, stoße ich auf widerliche Typen und Verrückte.
Nicht überall, sagte ich mir. Denk an Casey. Sie ist weder widerlich noch verrückt. Und Marianne schien auch nett zu sein. Und die Tequila-Frau bestimmt ebenfalls.
Wie wär’s, wenn eine von denen aus dem Pool kletterte?
Welche?
Während ich den Pool vor meinem geistigen Auge sah, tauchte jemand aus dem Wasser auf und schwang sich am Beckenrand hoch. Die Tequila-Frau, schlank und wunderschön im Mondlicht. Ihr Haar war nicht nass, aber ihr Nachthemd. Der helle Stoff klebte an ihrem Körper und endete weit oben an ihren Schenkeln. Mit langsamen, anmutigen Schritten kam sie auf mich zu. Auf dem Weg verwandelte sie sich in Casey.
Gut, dachte ich. Ich kenne die Tequila-Frau ja nicht mal richtig.
Casey trug Jeans und ein weites Sweatshirt. Ich versuchte, sie mir in dem nassen, enganliegenden Nachthemd vorzustellen, das nichts verbarg, aber es gelang mir nicht.
Sie hockte sich neben mich und strich mir über die Stirn.
Du hast einen üblen Schlag auf die Birne gekriegt, Chucky.
Kirkus ist auf mich gefallen.
Ich werde dich dort küssen, dann wird es besser.
Leider befand sich die Beule an meinem Hinterkopf. Ich dreh mich um, sagte ich. Doch ich bewegte mich nicht. Obwohl ich unbedingt wollte, dass Casey meine Beule küsste, war meine Lage einfach zu bequem.
Nur einen Augenblick noch, dann drehe ich mich um, dachte ich.
Das nächste Mal, als ich ans Umdrehen dachte, war ich entspannt, ausgeruht und munter. Ich schlug die Augen auf. Ein paar blasse Wolkenfetzen trieben vorbei. Der Vollmond stand hoch und hell am Himmel. Ich hatte anscheinend geschlafen.
Meine Kopfhaut war an einer Stelle gespannt und wund, aber ansonsten fühlte sich mein Kopf ganz gut an. Mein Nickerchen hatte den Tabletten offenbar Zeit gegeben, ihre Wirkung zu entfalten.
Ich hielt meinen linken Arm vors Gesicht und schaltete das Licht an meiner Armbanduhr an. 23:10.
Nicht schlecht!
Skeptisch bezüglich meines Kopfs, setzte ich mich langsam auf. Dann erhob ich mich vom Liegestuhl und fühlte mich immer noch gut.
Sehr gut.
Ich blickte mich um. Wie vor meinem Erholungsschläfchen waren alle Lichter erloschen.
Meine Glücksnacht, dachte ich.
Ja, klar. Aber nur, wenn man Sunny Boy nicht mitzählt und die Tatsache, dass Kirkus auf mich gefallen und mein Kopf auf die Straße geknallt ist.
Na gut, dachte ich. Jetzt kann es nur besser werden.
Ach, wirklich?
Hoffentlich. Hoffentlich habe ich wenigstens Kirkus für diese Nacht abgehängt und keine Schwierigkeiten, Casey zu finden. Das ist alles, was ich will. Ganz einfach. Casey und keinen Kirkus.
Ich ging um das Haus herum und durch das Gartentor hinaus. An der Ecke des Vorgartens blieb ich stehen. Die Gegend kam mir nicht bekannt vor. Es war dunkler als bei meiner Ankunft. Ich sah niemanden herumlaufen. Eine Zeit lang kam kein Auto. Dann näherten sich zwei hintereinander und fuhren vorbei.
Viertel nach elf am Freitagabend. Viele Menschen sind schon im Bett. Einige gehen gerade vom Kino oder von ihren Freunden nach Hause. Andere sind noch unterwegs und machen einen drauf.
Und wo ist mein guter Kumpel Kirkus?, fragte ich mich. Zu Hause? Oder ist er zurück zu meiner Wohnung gegangen und hat Eileen geweckt?
Wenn er das getan hat …!
Vielleicht ist er auch - Gott bewahre - zur Brücke zurückgegangen und gesprungen. Wäre das nicht ein tragischer Verlust?
Dieser Gedanke verschaffte mir ein schlechtes Gewissen.
Das würde er nicht tun, sagte ich mir. Er wollte eigentlich gar nicht springen, sondern ist in erster Linie auf die Brüstung geklettert, um ein Drama aufzuführen. Er hätte das alles nicht gemacht, wenn ich nicht dabei gewesen wäre.
Er hat es getan, um meine Aufmerksamkeit zu erlangen.
Tja, das hat er geschafft.
Ich erinnerte mich plötzlich, wie sich sein offener Mund und seine Hand in meinem Schritt angefühlt hatten. Das löste eine seltsame Beklemmung aus, ein ähnliches Gefühl, als wäre man versehentlich auf ein totes Vogelküken getreten.
Ich wischte mir mit dem Ärmel über die Lippen und ging los. Auf dem Bürgersteig wandte ich mich nach links.
Man versucht, mit jemandem befreundet zu sein, und dann macht er so etwas.
»Was hast du erwartet?«, murmelte ich.
An der nächsten Ecke las ich die Straßenschilder. Olive und Conway Street. Beides hatte ich noch nie gehört.
Wo zum Teufel bin ich?
Nachdem ich vor Kirkus weggerannt war, hatte ich mich darauf konzentriert (soweit mein gepeinigter Schädel zur Konzentration fähig gewesen war), ihn abzuhängen, indem ich öfter die Richtung wechselte. Ich hatte nicht darauf geachtet, wo ich mich gerade befand. Auch nicht bei meiner Flucht aus Sunny Boys Haus.
Macht nichts, sagte ich mir. Ich habe mich nicht verlaufen, sondern bin nur nicht sicher, wo genau ich bin. Kein Grund zur Unruhe.
Ich war offenbar irgendwo nördlich der Fairmont-Street-Brücke. Das war jedenfalls mein Eindruck. Nachdem ich Kirkus losgeworden war, war ich ungefähr Richtung Norden und Osten gelaufen, nahm ich an.
Immerhin wusste ich, wo ich sein wollte … beim Haus der Tequila-Frau an der Franklin Street, um endlich nach Casey Ausschau halten zu können.
In welcher Richtung liegt es?
Weiter nördlich, vermutlich.
Aber wo ist Norden?
Ich drehte mich an der Kreuzung einmal um mich selbst, blickte die Straßen entlang und sah Scheinwerfer, parkende Autos, Bäume und Häuser. Aber nichts, was als Orientierungspunkt dienen konnte.
Großartig.
Kein Problem, sagte ich mir. Ich habe reichlich Zeit.
Such dir eine Richtung aus, irgendeine. Spielt keine Rolle. Egal wohin ich gehe, früher oder später stoße ich auf eine Straße, die ich kenne. Dann ist alles im Lot.
Ich bog nach rechts und schritt rasch aus. Je schneller ich ging, desto früher würde ich eine vertraute Straße finden und mich beruhigen.
Nicht zu wissen, wo ich mich befand, war nicht gerade angenehm. Es verunsicherte mich und gab mir das Gefühl, in der Twilight Zone gelandet zu sein.
Ich rechnete fast damit, dass der Moderator Rod Serling hinter einem Baum hervortrat.
Stellen Sie sich vor … ein Mann namens Ed Logan … In einer schönen Oktobernacht verlässt er seine Wohnung, um sich auf die Suche nach seiner wahren Liebe zu begeben, aber stattdessen muss er erfahren, dass die Straßen nicht immer dahin führen, wohin sie zu führen scheinen, und dass die Liebe nicht immer »einen Weg findet«, besonders in dieser Region, in der die Grenzen verwischen und die wir die Twilight Zone nennen …
Ein Motorengeräusch unterbrach meine Gedanken. Ich blickte über die Schulter zurück. Scheinwerfer. Sie kamen schnell näher.
Mann oder Maus?
Zu spät zum Verstecken.
Also blieb ich reglos auf dem Bürgersteig stehen und sah zu, wie die Scheinwerfer größer und heller wurden.
Ein Pick-up.
Er raste vorbei.
Es war ein kleinerer heller Pick-up. Den Fahrer konnte ich nicht erkennen, aber es gelang mir, einen kurzen Blick auf die Beifahrerin zu werfen.
Ihr Kopf hing schlaff herunter, als wäre sie eingeschlafen. Er wackelte mit den Bewegungen des Fahrzeugs hin und her. Genau wie ihre Schultern. Unangeschnallt wäre sie wahrscheinlich nach vorn gekippt.
Durch die Schieflage ihres Kopfs war der größte Teil des Gesichts von Haaren verdeckt.
Sie schien ein dunkles knappes Kleid mit tiefem Ausschnitt zu tragen. Es stand weit offen, so dass man ein Stück Haut und einen erheblichen Teil ihrer linken Brust erkennen konnte.
Eileen?
In Randys Pick-up?
Der Wagen musste ungefähr fünfzehn Meter vor mir gewesen sein, als ich meinen Schock überwunden hatte und die Verfolgung aufnahm. Ich holte ein paar Sekunden lang auf, während der Pick-up an einer Ampel wartete.
Dann fuhr er los und ließ mich zurück.
Finster
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