33
Ich ließ meinen Kopf sinken und schloss die Augen. Der Pick-up fuhr über die Kreuzung hinweg auf der Franklin nach Norden,
Es muss nicht Randy sein, sagte ich mir. Ich hatte den Fahrer nicht gesehen und er mich wahrscheinlich auch nicht. In einer Stadt von der Größe Willmingtons musste es eine Menge heller, kleinerer Pick-ups geben.
Es war Randy. Er fährt durch die Straßen und sucht mich. Oder Eileen.
Was ist mit dem geheimnisvollen Mädchen?, fragte ich mich. Würde sie ihm auch gefallen?
Es machte mich krank, darüber nachzudenken, was Randy ihr antun würde, wenn er die Gelegenheit bekäme.
Kennt sie ihn? Ist sie vor ihm auf der Hut? Wahrscheinlich ist sie vor jedem auf der Hut … mich eingeschlossen.
Plötzlich wurde mir klar, dass Randy (falls er es war) einmal um den Block fahren könnte, um mich zu schnappen. Ich sprang auf und rannte über die Straße, über den Rasen und die Verandatreppe hinauf. Atemlos und mit klopfendem Herzen blieb ich in der Dunkelheit stehen.
Das Mädchen schien nicht da zu sein. Weil ich mich an den alten Mann erinnerte, der mich so erschreckt hatte, schlich ich auf Zehenspitzen herum und inspizierte die Hollywoodschaukel und alle dunklen Ecken, in denen sich jemand versteckt haben könnte. Außer mir war niemand auf der Veranda.
Ich befürchtete, dass Randy jeden Moment vorbeifahren könnte, und ließ mich mit dem Rücken zum Geländer zu Boden sinken.
Hier kann er mich unmöglich sehen.
Ich lauschte, ob der Pick-up zurückkehrte, hörte aber nur ein schwaches Rauschen. Es hätte ein entferntes Motorengeräusch sein können, aber es war so unbestimmt, dass es nicht unbedingt von einem Fahrzeug stammen musste. Vielleicht flog weit über mir ein Flugzeug vorbei. Vielleicht war es auch der Wind, der überall in der Stadt in den Baumkronen rauschte.
Randys Pick-up war bestimmt nicht in der Nähe.
Es sei denn, er hatte den Motor ausgeschaltet.
Vielleicht hat er mich gesehen und kommt zu Fuß zurück.
Ich wünschte, der Gedanke wäre mir nicht gekommen.
Reglos und verängstigt saß ich eine Weile da und traute mich kaum zu atmen. Nach ungefähr zehn Minuten legte sich allmählich meine Befürchtung, dass Randy auftauchen würde.
Wahrscheinlich hatte er mich doch nicht gesehen. Vielleicht war es auch gar nicht sein Pick-up.
In gleichem Maße wie meine Angst vor Randy nachließ, kehrten meine Gedanken zu dem Mädchen zurück. Sie war in dieses Haus gegangen. Sie war genau in diesem Moment irgendwo da drin.
Wenn die Wände durchsichtig wären, könnte ich sie sehen. Im ersten Stock wahrscheinlich. Vielleicht im Bad oder in ihrem Bett.
War sie ins Bett gegangen, ohne sich ihr Gesicht zu waschen? Oder sich die Zähne zu putzen? Oder zur Toilette zu gehen?
In meiner Ecke auf der Veranda hätte ich hören können, wenn Wasser durch die Leitungen lief. Ich hatte aber nichts dergleichen wahrgenommen.
Vielleicht war sie schon fertig im Bad, als ich auf die Veranda kam. Ich hatte das Haus von der anderen Straßenseite mindestens fünf, vielleicht sogar zehn Minuten lang beobachtet. Reichlich Zeit, um sich das Gesicht zu waschen, sich die Zähne zu putzen und zur Toilette zu gehen.
Während ich die Veranda inspiziert und mir in meiner Ecke Sorgen wegen Randy gemacht hatte, hätte sie in ihr dunkles Schlafzimmer gehen, sich ausziehen, ihr Nachthemd oder was immer sie zum Schlafen trug anziehen und sich ins Bett legen können.
Sie liegt bestimmt gerade im Bett, dachte ich. Auf der Seite zusammengerollt und bis zu den Schultern mit einem Laken oder einer Decke zugedeckt. Was hat sie wohl an? Sie scheint nicht der Typ für ein Rüschennachthemd oder einen Body zu sein. Sie trägt eher einen Schlafanzug oder ein einfaches Baumwollnachthemd.
Oder gar nichts?
Ein bisschen kühl dafür.
Also stellte ich sie mir in einem weißen Nachthemd unter der Decke vor. Ich konnte sie vor mir sehen, wie sie auf der Seite lag, das Gesicht halb im Kissen vergraben, und ihr Hintern unter dem Saum des Nachthemds hervorragte.
Wenn ich unsichtbar wäre, würde ich mich ins Haus schleichen und ihr Schlafzimmer suchen. Ich würde neben ihrem Bett stehen, ihr beim Schlafen zusehen und ihrem Atem lauschen. Vielleicht würde ich ihr sogar vorsichtig die Decke wegziehen und sie am Fuß des Betts zu Boden sinken lassen, um das Mädchen unbedeckt betrachten zu können.
Ihr weißes Nachthemd leuchtet fast in der Dunkelheit. Ihre Haut wirkt dunkel. Ich sehe die Kurven ihrer nackten Hinterbacken und den im Schatten liegenden Spalt dazwischen.
Möglicherweise schläft sie doch nicht im Nachthemd. Vielleicht schläft sie nackt.
Viel besser.
Sie stöhnt im Schlaf und dreht sich auf den Rücken.
Plötzlich kam in mir die Frage auf, ob die Eingangstür abgeschlossen war, und riss mich aus meinen Träumereien.
Das Mädchen könnte vergessen haben, sie abzuschließen, nachdem sie sich hineingeschlichen hatte. Außerdem hatte ich gehört und gelesen, dass ein ziemlich großer Prozentsatz von Leuten selten ihre Auto- oder Wohnungstüren nachts abschließt. Vor allem in kleinen Städten.
Was, wenn die Tür nicht abgeschlossen ist?
Ich könnte sie aufmachen und mich hineinschleichen. In der Dunkelheit des Hauses wäre ich fast unsichtbar. Ich könnte in das Schlafzimmer des Mädchens gehen und neben ihrem Bett stehen und …
Auf keinen Fall. Das mache ich nicht.
Aber ich könnte.
Ich könnte vieles tun. Aber ich werde es nicht tun. Ich muss verrückt sein, überhaupt daran zu denken. Erstens könnte ich erwischt werden. Zweitens würde ich es nicht mal dann tun, wenn keine Möglichkeit bestünde, ertappt zu werden.
Ist das wirklich so?, fragte ich mich. Warum habe ich dann diese Fantasien über das Unsichtbarsein? Der einzige Grund, unsichtbar zu sein, besteht darin, dass man dann tun kann, was man will, ohne erwischt zu werden.
Tja, ich bin aber nicht unsichtbar. Wenn ich mich in das Haus schleiche, könnte mich jemand dabei ertappen. Mir eins überziehen. Auf mich schießen. Mich festhalten, bis die Polizei kommt. Und was würde das Mädchen denken? Sie würde glauben, ich wäre ein Krimineller oder ein Perverser. Danach würde sie niemals wieder was mit mir zu tun haben wollen.
Aber wenn alle schlafen und ich ganz leise bin …
Wieder stellte ich mir vor, wie ich am Bett des Mädchens stand und auf sie hinabblickte.
Ich gehe nicht da rein, sagte ich mir. Außerdem ist die Tür wahrscheinlich sowieso abgeschlossen.
Wenn sie abgeschlossen ist, hat sich die Sache erledigt.
Damit wäre es gelaufen, klar. Eine unverschlossene Tür zu öffnen war eine Sache - und vielleicht im Bereich des Möglichen -, aber irgendwo einzubrechen kam überhaupt nicht infrage.
Probier es aus.
Meine Aufregung und meine Angst wuchsen.
Keine große Sache, dachte ich. Steh einfach auf, geh zur Tür und sieh nach, ob sie abgeschlossen ist. Warum nicht? Was soll schon passieren? Wenn ich dabei erwischt werde, kann ich so tun, als wäre ich betrunken oder verwirrt und versehentlich am falschen Haus gelandet. Jedenfalls ist es ja wohl kein Verbrechen, ein Türschloss zu prüfen.
Kein Verbrechen, aber falsch. Ich wusste, dass es falsch war, wusste, dass es eine schlechte Idee war (genau wie letzte Nacht unter die Brücke zu gehen), stand aber trotzdem auf. Regungslos blickte ich mich aus meiner Ecke der Veranda in der Nachbarschaft um. Teilweise waren die Straßen gut beleuchtet. Aber Bäume warfen Schatten auf den Asphalt und die Rasen vor den Häusern. Überall waren die hellen Stellen von dunklen Partien umgeben.
Jeder konnte dort lauern und mich beobachten. Oder hinter einem parkenden Auto. Oder hinter einem Gebüsch. Oder in einem Haus auf der anderen Straßenseite.
Andererseits stand ich selbst im Dunkeln und war wahrscheinlich kaum zu erkennen.
Also ging ich zur Tür, langsam und mit vorsichtigen Schritten. Ein paarmal quietschten die Bodendielen unter meinen Füßen. Die Geräusche ließen mich erschaudern, auch wenn sie so leise waren, dass niemand sonst sie gehört haben konnte.
Es kann nicht wahr sein, dass ich das wirklich tue, dachte ich.
Doch ich tat es.
Der Weg zum Eingang schien eine Ewigkeit zu dauern. Ich konnte die Tür nicht einmal sehen, obwohl ich ungefähr wusste, wo sie sich befand … vom Ende der Verandatreppe einfach geradeaus.
Mit einer Hand ertastete ich in der Dunkelheit ein festes, engmaschiges Netz.
Zwei Türen, nicht eine. Das verdoppelte meine Chancen, nicht hineinzukommen.
Ich tastete an dem Fliegengitter nach unten und zur Seite und fand die Klinke.
Tu’s nicht.
Ich zog sanft, und die Fliegengittertür öffnete sich. Die Angeln waren offenbar gut geschmiert, denn es war kaum ein Geräusch zu hören.
Die erste Hälfte ist geschafft.
Was mach ich hier?
Ich hielt die Fliegentür mit der Schulter offen und berührte die innere Tür. Weiches Holz, mit glatter, lackierter Oberfläche. Der Griff war kalt und fühlte sich nach schwerem Messing an. Mit dem Daumen drückte ich langsam den Knopf hinein. Er sank tiefer und tiefer, und ich hörte, wie der Riegel zurückglitt.
Ich drückte vorsichtig gegen das Holz. Die Tür öffnete sich ein paar Zentimeter.
Heilige Scheiße, sie ist offen!
Jetzt mach sie zu und verschwinde!
Ich schob die Tür ein wenig weiter auf. Obwohl ich wusste, dass sie offen war, konnte ich weder den Rahmen noch die Tür noch den Spalt dazwischen sehen.
Verflucht dunkel da drin.
Ich wäre wirklich unsichtbar.
Denk nicht mal daran.
Ich hatte mein ganzes Leben noch kein fremdes Haus betreten, ohne eingeladen worden zu sein. Ich hatte nie jemanden betrogen, nie geklaut, nie absichtlich eine rote Ampel überfahren, nie in wichtigen Dingen gelogen, nie jemanden schikaniert, nie eine Schlägerei angefangen, eigentlich überhaupt nie etwas besonders Unmoralisches oder gar Illegales getan …
Du hast letzte Nacht diesen Mann umgebracht.
Wenn ich ihn wirklich getötet hatte, war es Notwehr. Und Randy ins Bein zu stechen war ebenfalls Notwehr gewesen.
Und ich habe die Tequila-Frau beobachtet.
Das war tatsächlich ziemlich verwerflich. Aber lange nicht so schlimm, wie mitten in der Nacht in ein fremdes Haus zu schleichen.
Wenn ich das tue, habe ich eine gewisse Grenze überschritten. Wo wird das enden? Vielleicht hört es nicht damit auf, dass ich das Mädchen beim Schlafen beobachte. Vielleicht lasse ich mich dazu verleiten, die Decke wegzuziehen, und schließlich werde ich …
Nein! Ich werde nur beobachten.
Tu das nicht! Schließ sofort die Tür und verschwinde, so schnell du kannst!
Ehe ich die Tür zuziehen oder weiter öffnen konnte, wurde mir der Griff aus der Hand gerissen.
Finster
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