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Ich ließ meinen Kopf sinken und schloss die Augen.
Der Pick-up fuhr über die Kreuzung hinweg auf der Franklin nach
Norden,
Es muss nicht Randy sein, sagte ich mir. Ich hatte
den Fahrer nicht gesehen und er mich wahrscheinlich auch nicht. In
einer Stadt von der Größe Willmingtons musste es eine Menge heller,
kleinerer Pick-ups geben.
Es war Randy. Er fährt durch die Straßen und
sucht mich. Oder Eileen.
Was ist mit dem geheimnisvollen Mädchen?, fragte
ich mich. Würde sie ihm auch gefallen?
Es machte mich krank, darüber nachzudenken, was
Randy ihr antun würde, wenn er die Gelegenheit bekäme.
Kennt sie ihn? Ist sie vor ihm auf der Hut?
Wahrscheinlich ist sie vor jedem auf der Hut … mich
eingeschlossen.
Plötzlich wurde mir klar, dass Randy (falls er es
war) einmal um den Block fahren könnte, um mich zu schnappen. Ich
sprang auf und rannte über die Straße, über den Rasen und die
Verandatreppe hinauf. Atemlos und mit klopfendem Herzen blieb ich
in der Dunkelheit stehen.
Das Mädchen schien nicht da zu sein. Weil ich mich
an den alten Mann erinnerte, der mich so erschreckt hatte, schlich
ich auf Zehenspitzen herum und inspizierte die Hollywoodschaukel
und alle dunklen Ecken, in denen sich jemand versteckt haben
könnte. Außer mir war niemand auf der Veranda.
Ich befürchtete, dass Randy jeden Moment
vorbeifahren
könnte, und ließ mich mit dem Rücken zum Geländer zu Boden
sinken.
Hier kann er mich unmöglich sehen.
Ich lauschte, ob der Pick-up zurückkehrte, hörte
aber nur ein schwaches Rauschen. Es hätte ein entferntes
Motorengeräusch sein können, aber es war so unbestimmt, dass es
nicht unbedingt von einem Fahrzeug stammen musste. Vielleicht flog
weit über mir ein Flugzeug vorbei. Vielleicht war es auch der Wind,
der überall in der Stadt in den Baumkronen rauschte.
Randys Pick-up war bestimmt nicht in der
Nähe.
Es sei denn, er hatte den Motor
ausgeschaltet.
Vielleicht hat er mich gesehen und kommt zu Fuß
zurück.
Ich wünschte, der Gedanke wäre mir nicht
gekommen.
Reglos und verängstigt saß ich eine Weile da und
traute mich kaum zu atmen. Nach ungefähr zehn Minuten legte sich
allmählich meine Befürchtung, dass Randy auftauchen würde.
Wahrscheinlich hatte er mich doch nicht gesehen.
Vielleicht war es auch gar nicht sein Pick-up.
In gleichem Maße wie meine Angst vor Randy
nachließ, kehrten meine Gedanken zu dem Mädchen zurück. Sie war in
dieses Haus gegangen. Sie war genau in diesem Moment irgendwo da
drin.
Wenn die Wände durchsichtig wären, könnte ich sie
sehen. Im ersten Stock wahrscheinlich. Vielleicht im Bad oder in
ihrem Bett.
War sie ins Bett gegangen, ohne sich ihr Gesicht zu
waschen? Oder sich die Zähne zu putzen? Oder zur Toilette zu
gehen?
In meiner Ecke auf der Veranda hätte ich hören
können, wenn Wasser durch die Leitungen lief. Ich hatte aber nichts
dergleichen wahrgenommen.
Vielleicht war sie schon fertig im Bad, als ich auf
die Veranda kam. Ich hatte das Haus von der anderen Straßenseite
mindestens fünf, vielleicht sogar zehn Minuten lang beobachtet.
Reichlich Zeit, um sich das Gesicht zu waschen, sich die Zähne zu
putzen und zur Toilette zu gehen.
Während ich die Veranda inspiziert und mir in
meiner Ecke Sorgen wegen Randy gemacht hatte, hätte sie in ihr
dunkles Schlafzimmer gehen, sich ausziehen, ihr Nachthemd oder was
immer sie zum Schlafen trug anziehen und sich ins Bett legen
können.
Sie liegt bestimmt gerade im Bett, dachte ich. Auf
der Seite zusammengerollt und bis zu den Schultern mit einem Laken
oder einer Decke zugedeckt. Was hat sie wohl an? Sie scheint nicht
der Typ für ein Rüschennachthemd oder einen Body zu sein. Sie trägt
eher einen Schlafanzug oder ein einfaches Baumwollnachthemd.
Oder gar nichts?
Ein bisschen kühl dafür.
Also stellte ich sie mir in einem weißen Nachthemd
unter der Decke vor. Ich konnte sie vor mir sehen, wie sie auf der
Seite lag, das Gesicht halb im Kissen vergraben, und ihr Hintern
unter dem Saum des Nachthemds hervorragte.
Wenn ich unsichtbar wäre, würde ich mich ins Haus
schleichen und ihr Schlafzimmer suchen. Ich würde neben ihrem Bett
stehen, ihr beim Schlafen zusehen und ihrem
Atem lauschen. Vielleicht würde ich ihr sogar vorsichtig die Decke
wegziehen und sie am Fuß des Betts zu Boden sinken lassen, um das
Mädchen unbedeckt betrachten zu können.
Ihr weißes Nachthemd leuchtet fast in der
Dunkelheit. Ihre Haut wirkt dunkel. Ich sehe die Kurven ihrer
nackten Hinterbacken und den im Schatten liegenden Spalt
dazwischen.
Möglicherweise schläft sie doch nicht im Nachthemd.
Vielleicht schläft sie nackt.
Viel besser.
Sie stöhnt im Schlaf und dreht sich auf den
Rücken.
Plötzlich kam in mir die Frage auf, ob die
Eingangstür abgeschlossen war, und riss mich aus meinen
Träumereien.
Das Mädchen könnte vergessen haben, sie
abzuschließen, nachdem sie sich hineingeschlichen hatte. Außerdem
hatte ich gehört und gelesen, dass ein ziemlich großer Prozentsatz
von Leuten selten ihre Auto- oder Wohnungstüren nachts abschließt.
Vor allem in kleinen Städten.
Was, wenn die Tür nicht abgeschlossen
ist?
Ich könnte sie aufmachen und mich hineinschleichen.
In der Dunkelheit des Hauses wäre ich fast unsichtbar. Ich
könnte in das Schlafzimmer des Mädchens gehen und neben ihrem Bett
stehen und …
Auf keinen Fall. Das mache ich nicht.
Aber ich könnte.
Ich könnte vieles tun. Aber ich werde es
nicht tun. Ich muss verrückt sein, überhaupt daran zu denken.
Erstens könnte ich erwischt werden. Zweitens würde ich es nicht
mal dann tun, wenn keine Möglichkeit bestünde, ertappt zu
werden.
Ist das wirklich so?, fragte ich mich. Warum habe
ich dann diese Fantasien über das Unsichtbarsein? Der einzige
Grund, unsichtbar zu sein, besteht darin, dass man dann tun kann,
was man will, ohne erwischt zu werden.
Tja, ich bin aber nicht unsichtbar. Wenn ich mich
in das Haus schleiche, könnte mich jemand dabei ertappen. Mir eins
überziehen. Auf mich schießen. Mich festhalten, bis die Polizei
kommt. Und was würde das Mädchen denken? Sie würde glauben, ich
wäre ein Krimineller oder ein Perverser. Danach würde sie niemals
wieder was mit mir zu tun haben wollen.
Aber wenn alle schlafen und ich ganz leise bin
…
Wieder stellte ich mir vor, wie ich am Bett des
Mädchens stand und auf sie hinabblickte.
Ich gehe nicht da rein, sagte ich mir.
Außerdem ist die Tür wahrscheinlich sowieso abgeschlossen.
Wenn sie abgeschlossen ist, hat sich die Sache
erledigt.
Damit wäre es gelaufen, klar. Eine unverschlossene
Tür zu öffnen war eine Sache - und vielleicht im Bereich des
Möglichen -, aber irgendwo einzubrechen kam überhaupt nicht
infrage.
Probier es aus.
Meine Aufregung und meine Angst wuchsen.
Keine große Sache, dachte ich. Steh einfach auf,
geh zur Tür und sieh nach, ob sie abgeschlossen ist. Warum nicht?
Was soll schon passieren? Wenn ich dabei erwischt werde, kann ich
so tun, als wäre ich betrunken oder verwirrt und
versehentlich am falschen Haus gelandet. Jedenfalls ist es ja wohl
kein Verbrechen, ein Türschloss zu prüfen.
Kein Verbrechen, aber falsch. Ich wusste, dass es
falsch war, wusste, dass es eine schlechte Idee war (genau wie
letzte Nacht unter die Brücke zu gehen), stand aber trotzdem auf.
Regungslos blickte ich mich aus meiner Ecke der Veranda in der
Nachbarschaft um. Teilweise waren die Straßen gut beleuchtet. Aber
Bäume warfen Schatten auf den Asphalt und die Rasen vor den
Häusern. Überall waren die hellen Stellen von dunklen Partien
umgeben.
Jeder konnte dort lauern und mich
beobachten. Oder hinter einem parkenden Auto. Oder hinter einem
Gebüsch. Oder in einem Haus auf der anderen Straßenseite.
Andererseits stand ich selbst im Dunkeln und war
wahrscheinlich kaum zu erkennen.
Also ging ich zur Tür, langsam und mit vorsichtigen
Schritten. Ein paarmal quietschten die Bodendielen unter meinen
Füßen. Die Geräusche ließen mich erschaudern, auch wenn sie so
leise waren, dass niemand sonst sie gehört haben konnte.
Es kann nicht wahr sein, dass ich das wirklich tue,
dachte ich.
Doch ich tat es.
Der Weg zum Eingang schien eine Ewigkeit zu dauern.
Ich konnte die Tür nicht einmal sehen, obwohl ich ungefähr wusste,
wo sie sich befand … vom Ende der Verandatreppe einfach
geradeaus.
Mit einer Hand ertastete ich in der Dunkelheit ein
festes, engmaschiges Netz.
Zwei Türen, nicht eine. Das verdoppelte meine
Chancen, nicht hineinzukommen.
Ich tastete an dem Fliegengitter nach unten und zur
Seite und fand die Klinke.
Tu’s nicht.
Ich zog sanft, und die Fliegengittertür öffnete
sich. Die Angeln waren offenbar gut geschmiert, denn es war kaum
ein Geräusch zu hören.
Die erste Hälfte ist geschafft.
Was mach ich hier?
Ich hielt die Fliegentür mit der Schulter offen und
berührte die innere Tür. Weiches Holz, mit glatter, lackierter
Oberfläche. Der Griff war kalt und fühlte sich nach schwerem
Messing an. Mit dem Daumen drückte ich langsam den Knopf hinein. Er
sank tiefer und tiefer, und ich hörte, wie der Riegel
zurückglitt.
Ich drückte vorsichtig gegen das Holz. Die Tür
öffnete sich ein paar Zentimeter.
Heilige Scheiße, sie ist offen!
Jetzt mach sie zu und verschwinde!
Ich schob die Tür ein wenig weiter auf. Obwohl ich
wusste, dass sie offen war, konnte ich weder den Rahmen noch die
Tür noch den Spalt dazwischen sehen.
Verflucht dunkel da drin.
Ich wäre wirklich unsichtbar.
Denk nicht mal daran.
Ich hatte mein ganzes Leben noch kein fremdes Haus
betreten, ohne eingeladen worden zu sein. Ich hatte nie jemanden
betrogen, nie geklaut, nie absichtlich eine rote Ampel überfahren,
nie in wichtigen Dingen gelogen, nie
jemanden schikaniert, nie eine Schlägerei angefangen, eigentlich
überhaupt nie etwas besonders Unmoralisches oder gar Illegales
getan …
Du hast letzte Nacht diesen Mann
umgebracht.
Wenn ich ihn wirklich getötet hatte, war es
Notwehr. Und Randy ins Bein zu stechen war ebenfalls Notwehr
gewesen.
Und ich habe die Tequila-Frau
beobachtet.
Das war tatsächlich ziemlich verwerflich. Aber
lange nicht so schlimm, wie mitten in der Nacht in ein fremdes Haus
zu schleichen.
Wenn ich das tue, habe ich eine gewisse Grenze
überschritten. Wo wird das enden? Vielleicht hört es nicht damit
auf, dass ich das Mädchen beim Schlafen beobachte. Vielleicht lasse
ich mich dazu verleiten, die Decke wegzuziehen, und schließlich
werde ich …
Nein! Ich werde nur beobachten.
Tu das nicht! Schließ sofort die Tür und
verschwinde, so schnell du kannst!
Ehe ich die Tür zuziehen oder weiter öffnen konnte,
wurde mir der Griff aus der Hand gerissen.