26
Ungefähr eine Stunde lang sprachen wir darüber, was wir tun sollten. Wir aßen weiter Cracker mit Käse und tranken Rum mit Cola. Obwohl ich die Drinks schwach dosierte, war ich leicht angetrunken, als wir mit unserer Besprechung fertig waren.
Wir zogen uns im Schlafzimmer an. Ich hatte genügend saubere Kleidung für uns beide.
Eileen trug ihre eigenen Schuhe, aber eine braune Kordhose von mir und das blaue Sweatshirt, das ich bei meinen Abenteuern in der vergangenen Nacht angehabt hatte. Ich zog ein Chamoishemd, Jeans und Reebok-Turnschuhe an.
Meine Brieftasche ließ ich zu Hause, steckte aber mein Schweizer Armeemesser in die Hosentasche. Als ich meine kleine Maglite aus dem Nachtkästchen nahm, sagte Eileen: »Schade, dass du die nicht dabeihattest.«
»Ich wusste ja nicht, dass wir unter eine Brücke gehen würden.«
»Ist das die beste Taschenlampe, die du hast?«
»Die einzige. Aber sie ist ziemlich hell.«
Ich fand eine dunkelblaue Strickmütze für Eileen und eine Yankee-Baseballkappe für mich.
»Wie sieht’s mit Handschuhen aus?«, fragte Eileen.
»Baseballhandschuhe?« Wie gesagt, ich hatte schon ein paar Gläser intus.
»Gummihandschuhe oder so. Solche, die man zum Geschirrspülen benutzt.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Normale Handschuhe?«, fragte sie.
Ich zuckte die Achseln.
»Was machst du im Winter?«
»Ich stecke die Hände in die Taschen.«
»Dann hat sich das wohl erledigt.« Mit diesen Worten setzte sie die Mütze auf.
Wir gingen zur Tür. Ehe ich sie öffnete, drehte ich mich noch einmal zu ihr um. »Sollen wir das wirklich tun?«
»Ich glaub, uns bleibt nichts anderes übrig.« Sie sah sehr süß aus mit der Strickmütze; dadurch, dass sie ihr Haar hineingestopft hatte, wirkte sie jungenhaft. An ihrem linken Mundwinkel hing ein Cracker-Krümel. Mit der Fingerspitze wischte ich ihn ab.
Sie beugte sich vor und gab mir einen kurzen, aber weichen und warmen Kuss.
»Bringen wir es hinter uns«, sagte sie. »Ich will nicht zu spät zu meinem Zehn-Uhr-Seminar kommen.«
»Ich hoffe, das war ein Witz.«
»Nein.«
»Was immer wir auch tun«, sagte ich, »wir sollten damit vor Sonnenaufgang fertig sein.«
»Das weiß ich doch.« Sie öffnete die Tür.
Im Flur war niemand außer uns. Auf dem Weg nach unten befürchtete ich, den Fishers zu begegnen, aber ihre Tür war zu. Wir eilten daran vorbei und gelangten aus dem Haus, ohne gesehen zu werden.
Den Weg hatten wir uns bereits zurechtgelegt … ein Weg, auf dem bis kurz vor dem Ziel immer mindestens ein Block zwischen uns und dem Campus lag.
Wir gingen schnell.
Es wehte ein kühler Wind. Er trug einen seltsamen feuchten Geruch mit sich, wie es nur »in mitternächtlich toter Öd« der Fall war.
Letzte Nacht war ich ebenfalls zu dieser Zeit und sogar noch später draußen unterwegs gewesen. Auch da hatte ich in Schwierigkeiten gesteckt, aber nun waren die Probleme größer.
Was zum Teufel hat mich so aus der Bahn geworfen?, fragte ich mich.
Die Antwort war einfach.
Holly.
Holly hatte mein Herz gebrochen. Sie war der Grund dafür, dass ich begonnen hatte, nachts durch die Gegend zu laufen. Es lag an ihr, dass Eileen in mein Leben getreten war, und Eileen hatte Randy angezogen und mich unter die Brücke geführt, wo die Trolle über uns hergefallen waren … und ich einen von ihnen erledigt hatte.
Vielen Dank auch, Holly.
Aber vielleicht ist es auch eher Eileens Schuld als Hollys.
Eileen ist nur im Spiel, weil Holly mich abserviert hat.
Vielleicht sollte ich Holly dafür dankbar sein, dass sie Eileen in mein Leben geführt hat.
Vielleicht auch nicht.
Eins ist jedenfalls sicher, dachte ich, Holly gebührt Dank für das geheimnisvolle Mädchen. Ich wäre ihr nie begegnet, wenn Holly nicht meine Welt in Stücke geschlagen hätte.
Ich frage mich, wo sie ist.
Wahrscheinlich ein paar Kilometer weiter nördlich.
Schlendert sie einen Bürgersteig entlang? Schleicht sich in ein Haus? Trifft sich vielleicht wieder mit der Tequila trinkenden Frau, die ich in der Küche beobachtet habe?
Was, wenn Randy sie in die Finger bekommt?
Nein, er will Eileen.
Pech gehabt, Arschloch, die Trolle sind dir zuvorgekommen.
Zumindest haben sie es versucht.
Wo ist Randy jetzt?, fragte ich mich.
Direkt hinter uns.
Wäre das nicht fantastisch?
Ich hatte das Bedürfnis, mich umzudrehen, aber ich unterdrückte es. Zum einen würde Eileen mich fragen, warum. Zum anderen wusste ich nicht, was ich tun sollte, wenn er wirklich da wäre.
Während ich neben Eileen die Straße entlangging, wurde das Gefühl, dass uns jemand folgte, immer stärker.
Ich wagte nicht zurückzublicken.
Zeilen eines Gedichts schlichen sich in meine Gedanken:
Wie einer, der einsam die Straße zieht
Vor Angst und Schauer schwer,
Noch einmal sich wendend, weiterzieht
Und wendet sein Haupt nicht mehr,
Denn siehe, er weiß, der erzböse Feind
Stapft ihm auf den Fersen einher.
Wie treffend, dachte ich.
War das von Wordsworth? Nein, vor diesem Semester hatte ich kaum was von Wordsworth gelesen. Poe? Vermutlich nicht. Ich hatte zwar einige von Poes Gedichten auswendig gelernt, aber das schien zu keinem davon zu gehören.
Coleridge!
Ich war mir fast sicher. Es fühlte sich an wie Coleridge. Ich kannte nur drei Gedichte von Coleridge auswendig: »Christabel«, »Kubla Khan« und »Der alte Seefahrer«. Dieses war auf keinen Fall »Kubla Khan«.
Ich drückte Eileens Hand. Sie sah mich an, und ich rezitierte die Verse.
»Danke, dass du mir Angst einjagst«, sagte sie lächelnd.
»Es ging mir einfach so durch den Kopf. Sagt dir das was?«
 
»Es ist ein alter Seefahrer / Und hält einen von dreien an.«
»Ah! Okay, danke. Ich dachte, es wäre aus ›Christabel‹.«
»Nein, aus dem alten Seefahrer.«
»Hätte ich eigentlich wissen müssen.«
»Sie hingen kein Kreuz, doch beiderseits / Um den Hals mir den Albatros.«
»Ein hübsches Gedicht für eine Nacht, in der ich jemanden getötet habe.«
Eileen drückte meine Hand. »Wenn er tot ist, werden wir schon damit fertig.«
»Wenn du meinst.«
»Auf die eine oder andere Art.«
»Was meinst du damit?«, fragte ich.
»Tja, wir müssen sehen, was möglich ist. Vielleicht können wir ihn mit dem Auto wegfahren und irgendwo außerhalb der Stadt abladen. Vielleicht in Gunther Woods.«
»Funktioniert dein Wagen wieder?«
»Ich habe eine neue Batterie. Jetzt läuft er wieder. Ich habe mir überlegt, wir könnten die Leiche dichter zur Straße bringen, dann mein Auto holen und ihn in den Kofferraum legen.«
Ich stellte mir vor, wie wir versuchten, den toten nackten Penner zur Straße zu schleppen.
Ohne Handschuhe.
»Ich weiß nicht«, murmelte ich.
»Wir werden sehen«, sagte Eileen.
Nach einem äußerst gewundenen Weg erreichten wir den Old Mill einen Block östlich von der Division-Street-Brücke. Als wir die Böschung hinabstiegen, fiel mir auf, dass ich mir schon eine Weile keine Sorgen mehr darum gemacht hatte, ob uns jemand folgte.
Niemand ist hinter uns her, dachte ich.
Ach ja?
 
Als wir das Flussufer erreichten, flüsterte ich: »Lass uns hier eine Minute warten und uns vergewissern, dass niemand kommt.«
»War jemand hinter uns?«
»Nicht, dass ich wüsste. Ich bin nur vorsichtig.«
Eileen nickte leicht und sagte: »Ein bisschen Paranoia kann nicht schaden, wenn man an einen Tatort zurückkehrt.«
Wir duckten uns hinter ein paar Büschen. Eileen legte einen Arm um meinen Rücken, und ich konnte ihre Brust an der Seite meines Arms spüren.
Ihr Atem kitzelte an meinem Ohr, als sie flüsterte: »Wenn uns jemand folgt, dann hoffe ich, dass es keiner der ›erzbösen Feinde‹ ist.«
»Da schließe ich mich an.«
Dann waren wir eine Weile still und lauschten. Ich hörte den Wind in den Blättern über uns rauschen. Ein Auto fuhr vorbei, aber es schien weit entfernt zu sein. Hin und wieder zwitscherte ein Vogel. Eine Eule schrie. Ein kleines Tier trippelte irgendwo über uns durch das Gras.
Ich war mir jeden Moment bewusst, dass Eileens Brust meinen Arm berührte. Durch unsere Kleidung spürte ich die Wärme. Ich nahm auch die leichten Bewegungen wahr, wenn sie ein- und ausatmete.
Will sie mich damit erregen?, fragte ich mich.
Zumindest lenkte es mich von unseren Schwierigkeiten ab.
»Ich glaube nicht, dass jemand kommt«, sagte sie leise.
»Startklar?«
»Lass es uns hinter uns bringen.«
 
Ich übernahm die Führung. Wir folgten einem Pfad am Ufer des Flusses. Ich hielt meine Taschenlampe bereit, schaltete sie jedoch nicht ein.
Wir sprachen kein Wort.
Bald sahen wir die Division-Street-Brücke. Darunter war es völlig dunkel.
Wir können nicht unter die Brücke gehen, dachte ich. Die Männer könnten zurückgekommen sein.
Wenigstens habe ich dieses Mal eine Taschenlampe.
Nicht weit entfernt von der Brücke blieb ich stehen und musterte die Umgebung. Es sah alles so aus wie vorher, nur umgedreht, weil wir nun von der anderen Seite kamen. Es war, als betrachtete ich meine Erinnerungen an unseren ersten Ausflug in einem Spiegel.
In anderer Hinsicht unterschied es sich dennoch. An der Brüstung stand kein Liebespaar. Es fuhr kein Auto vorbei. Und der Zugang zur Dunkelheit unter der Brücke war stärker zugewachsen als auf der anderen Seite.
Um dort hinzugehen, würden wir uns einen Weg durch das Unterholz bahnen oder durch den Fluss waten müssen.
In beiden Fällen hören sie uns wahrscheinlich kommen, dachte ich.
Ich drehte mich zu Eileen um und flüsterte: »Was hältst du davon, die Sache abzublasen?«
»Was hältst du davon, ins Gefängnis zu kommen?«
»Ich habe nur Angst, wir könnten unser Glück überstrapazieren.«
»Denk einfach daran, wie toll wir uns fühlen, wenn wir das erledigt haben.«
»Ich weiß nicht. Ich hab kein gutes Gefühl.«
»Es wird nichts passieren. Wir haben die Taschenlampe.«
»Ja.«
»Wenn jemand da drunter ist … jemand Lebendiges … hauen wir ab, als wenn der Leibhaftige hinter uns her wäre.«
»Das glaube ich auch.«
»Es wird schon gutgehen.«
»Hoffentlich.«
»Gib mir doch die Taschenlampe, dann gehe ich vor.«
»Nein, schon in Ordnung.« Ich wartete keine weiteren Vorschläge ab, sondern drehte mich um und ging auf den dunklen Durchgang unter der Brücke zu.
Ich hatte ein beengtes Gefühl in der Brust, und meine Beine waren schwer. Mein Herz klopfte wild. Der Penis zog sich zusammen, der Hodensack schrumpelte. Mein Magen rebellierte.
Das ist keine gute Idee, dachte ich.
Aber ich ging weiter.
Ein Mann zu sein, ist nicht immer das reinste Honiglecken. Um zu vermeiden, dass Frauen uns für Trottel oder Feiglinge halten - und uns deshalb verachten oder verlassen -, tun wir, was sie von uns erwarten. Auch wenn wir es nicht tun wollen. Auch wenn wir es besser wissen.
Ich wusste, dass dies eine schlechte Idee war.
Aber ich hatte meine Einwände vorgebracht, und Eileen war noch immer dafür, weiterzumachen.
Okay. Wir werden sehen.
Ich begann, durch das hüfthohe Gebüsch zu stapfen. Es verhakte sich in meiner Jeans, raschelte und knackte. Trockene Blätter zerbröselten unter meinen Schuhen. Zweige zerbrachen.
Sie könnten uns aus einer Meile kommen hören.
Ich blieb stehen. Eileen legte eine Hand auf meinen Rücken und wartete hinter mir. Ich knipste die Taschenlampe an.
Der Lichtstrahl breitete sich kegelförmig durch die Dunkelheit aus, beleuchtete den Boden, den Fluss, eine alte Matratze mit Lumpen daneben, platt getretene Dosen und zerbrochene Flaschen.
Aber keinen nackten Mann, der ausgestreckt auf dem Boden lag.
Überhaupt keine Leute.
Bis ich den Strahl ein Stück nach links bewegte. Beinahe jenseits seiner Reichweite hob sich schwach ein Kreis kauernder Männer von der Dunkelheit ab. Behaart, verdreckt, blutig.
Alle sahen uns an.
Kauend.
Blut strömte aus ihren Mündern.
Hinter meinem Rücken stöhnte Eileen erschrocken auf, voller Verzweiflung und Entsetzen, als hätte sie gerade gesehen, wie ein niedlicher Panda enthauptet wurde.
Ich schaltete schnell die Taschenlampe aus.
»Verfluchte Scheiße«, flüsterte Eileen.
Ich wirbelte herum und keuchte: »Weg hier!«
Finster
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