57
Ich lief dem Pick-up hinterher, doch schon bald hatte er einen Häuserblock Vorsprung. Dann zwei. Er bog links ab. Als ich die Kreuzung erreichte, war er nirgendwo zu sehen.
Erschöpft und mit erneut schmerzendem Kopf blieb ich stehen. Ich lehnte mich gegen einen Baum, rang um Atem und versuchte mir einzureden, dass ich mich getäuscht hatte.
Vielleicht war es nicht Eileen gewesen. Ich hatte das Gesicht der Beifahrerin nicht besonders gut sehen können - nur einen kurzen Blick erhascht, bei schlechtem Licht und ihrem Haar im Weg. Sie könnte eine Fremde gewesen sein, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Eileen hatte.
Und Eileens Kleid getragen?
Es muss nicht Eileens Kleid gewesen sein, sagte ich mir. Offensichtlich ähnelte das Oberteil dem von Eileens Kleid. (Es sah genauso aus. Wem will ich eigentlich was vormachen?) Aber wer weiß, wie es unterhalb der Brust aussah? Und war es grün?
Auch der Pick-up musste nicht zwangsläufig der von Randy gewesen sein. Er hatte ihm zwar geglichen, aber es gab bestimmt eine Menge heller kleiner Pick-ups in der Stadt. Und auf den Fahrer hatte ich nicht einmal einen flüchtigen Blick werfen können.
Was ich gesehen hatte, könnte auch irgendein mir unbekanntes Paar aus der Gegend gewesen sein, auf dem Heimweg von einem förmlichen Anlass: Tanzabend, Dinnerparty oder Hochzeit.
Ganz bestimmt.
Es war Eileen. Schlafend oder bewusstlos (oder tot?) auf dem Beifahrersitz von Randys Pick-up. Irgendwie hatte er sie gefunden und geschnappt, und jetzt brachte er sie irgendwohin.
Ich hatte etwas Besonderes mit ihr vor, hatte er im Donutshop gesagt.
Du willst … dich mit ihr treffen?
Ich will es mit ihr treiben.
Er bringt sie irgendwohin, um genau das zu tun, wurde mir klar. An einen ungestörten Ort, wo er es mit ihr treiben kann. Wo er es ihr besorgen kann.
Oder liegt sie doch noch in meiner Wohnung im Bett und schläft?
Wohl kaum.
Es wäre aber möglich, sagte ich mir. Vielleicht war es wirklich nicht Eileen in dem Pick-up.
Doch, sie war es.
Ich brauchte Gewissheit.
Ruf sie an. Such ein Telefon und ruf sie an. Wenn sie abhebt, …
… was nicht passieren wird …
… ist alles in Ordnung.
Es könnte ein Münztelefon bei Dandi Donuts geben. Obwohl ich mich nicht erinnern konnte, dort in der Nähe eines gesehen zu haben, schien mir das einen Versuch wert.
Wenn ich den Weg finde.
An der Kreuzung, an der ich stehen geblieben war, gab es Straßenschilder, aber ich hatte noch keinen Blick darauf geworfen.
Hoffen wir das Beste.
Ich sah auf die Schilder. Olive und Franklin Street.
Franklin!
Irgendwie musste ich in meiner Verwirrung die Division Street überquert haben, ohne es zu bemerken.
Ich blickte in beide Richtungen die Franklin entlang. Die Häuser kamen mir vage bekannt vor. Höchstwahrscheinlich befand ich mich nach wie vor südlich vom Haus der Tequila-Frau.
Norden sollte zu meiner Linken liegen … die Richtung, in die Randy gefahren war.
Er bringt Eileen an einen Ort nördlich von hier.
Während ich begann, die Franklin Street entlangzugehen, wurde mir klar, dass Randys Ziel möglicherweise ganz in der Nähe lag. Vielleicht war er weitergefahren oder abgebogen, aber vielleicht hatte er auch irgendwo an der Franklin geparkt … oder in einer Einfahrt. Deshalb ging ich langsamer und hielt Ausschau nach dem Pick-up.
Außerdem sah ich mich nach dem Haus der Tequila-Frau um. Und nach Casey.
Casey würde mich zu einem Telefon bringen, dachte ich. Wahrscheinlich würde sie mich in das nächste dunkle Haus mitnehmen … oder in das Haus einer »Freundin« wie Marianne oder die Tequila-Frau.
Jetzt könnte ich Casey wirklich verdammt gut gebrauchen.
Ich gehe einfach weiter zu Dandi Donuts. Wenn ich das Haus der Tequila-Frau erreiche, ist es nicht mehr weit bis zur Dale Street. Dann über die Dale zurück zur Division, und ich bin am Donutshop.
Was soll das bringen?, fragte ich mich. Eileen wird sowieso nicht ans Telefon gehen.
Aber es könnte sein.
Es könnte wirklich sein, sagte ich mir. Das Gehirn kann einem Streiche spielen. Manchmal sieht man, was man erwartet zu sehen, und nicht das, was man vor Augen hat. Vielleicht sah die Frau in dem Pick-up ganz anders aus als Eileen. Der tiefe Ausschnitt ihres Kleids könnte in Wirklichkeit auch der V-Ausschnitt eines Pullovers gewesen sein.
Möglich.
Ich blieb an einer Kreuzung stehen und blickte zu beiden Seiten. Kein Verkehr. Randys Pick-up parkte weder am Straßenrand noch in einer Einfahrt in der Nähe. Keine Fußgänger in Sichtweite.
Schnell ging ich hinüber.
Die Veranda und die Fenster des Hauses an der Ecke waren dunkel.
Warum sollte ich die ganze Strecke bis zu Dandi Donuts laufen?
Ich stellte mir vor, wie ich mich in das Haus schlich, vorsichtig durch die Dunkelheit tappte und ein Telefon fand …
»Auf keinen Fall«, murmelte ich und ging weiter.
Aber was ist, wenn ich kein Münztelefon finde?
An der Ecke von Dale und Division Street muss es eins geben.
Nicht unbedingt. Und wenn, kann es auch außer Betrieb sein.
Ich werde mich nicht nochmal in ein leer scheinendes Haus schleichen! Nicht heute Nacht!
Jedenfalls nicht allein.
Als ich an der nächsten Kreuzung ankam, konnte ich das Haus der Tequila-Frau sehen. Ich zwang mich, den Blick abzuwenden und stattdessen zu beiden Seiten Ausschau nach Randys Pick-up und Casey zu halten. Erfolglos. Also überquerte ich die Kreuzung.
Auf der dem Haus der Tequila-Frau gegenüberliegenden Seite folgte ich der Franklin Street weiter nach Norden. Langsam.
Eine Zeit lang konnte ich das Küchenfenster sehen. Es war dunkel. Aber auf der Veranda brannte Licht. Und auch durch die Vorhänge vor dem großen Fenster an der Vorderseite fiel ein gedämpfter Schein.
Die Tequila-Frau - oder wer immer sich sonst noch im Haus befand - war offensichtlich noch nicht zu Bett gegangen.
Ich warf einen Blick auf meine Uhr: 23:48.
Sollte ich mich verstecken und hier auf Casey warten, statt zu Dandi Donuts zu gehen?
Es könnte Stunden dauern.
Und wenn sie sich jetzt gerade in dem Haus dort aufhält?
 
Ich vergewisserte mich, dass kein Verkehr kam und überquerte die Franklin Street.
Mein Mund war trocken. Mein Herz klopfte. Der Schmerz pulsierte erneut in meinem Kopf.
Es ist unmöglich, dass dies hier wirklich geschieht, dachte ich.
Klar, wieso nicht?
Ich stieg die Stufen zur Veranda hinauf.
Ich habe den Verstand verloren. Der Schlag auf den Kopf muss mich verwirrt haben.
Ich stand auf der Fußmatte und klingelte. Aus dem Haus ertönte ein Läuten. Ich verspürte das heftige Bedürfnis, wegzurennen.
Was soll ich sagen?
Ich hatte keine Ahnung.
Hinter dem Fliegengitter wurde die Haustür ein paar Zentimeter weit geöffnet, und ein vertikaler Lichtstreifen tauchte auf. Ungefähr auf der Höhe meines Halses spannte sich die Sicherheitskette. Dann zeigte sich ein Gesicht im Spalt.
Das Gesicht der Tequila-Frau.
Es war hübscher, als ich es in Erinnerung hatte. Und jünger.
Ihre großen blauen Augen sahen mich an.
»Ja?«, fragte sie. Sie klang weder ängstlich noch ärgerlich, nur ein wenig verdutzt.
»Ich heiße Ed«, sagte ich. »Tut mir wirklich leid, Sie zu stören, aber ich habe ein Problem und wollte fragen, ob ich Ihr Telefon benutzen könnte.«
Sie kniff die Augen zusammen, neigte den Kopf zur Seite und schien über meine Bitte nachzudenken.
»Ich weiß, dass es fast Mitternacht ist«, sagte ich, »aber es handelt sich um einen Notfall.«
»Wie heißt du?«, fragte sie.
»Ed«, wiederholte ich.
»Ed Logan?«
Ein erstauntes Starren war meine einzige Reaktion.
Sie schloss kurz die Tür und schwang sie anschließend weit auf. Dann stieß sie gegen die Fliegengittertür. »Komm rein, Ed«, sagte sie.
Finster
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