50
Ich ging durch den Flur zum Schlafzimmer. Die Tür
war geschlossen. Ich klopfte leise, aber Eileen reagierte nicht,
also öffnete ich die Tür. Das Licht war eingeschaltet.
Eileen trug immer noch ihr Kleid, lag auf meinem
Bett und schnarchte. Ihre Arme lagen schlaff neben ihr, die Beine
hingen von der Bettkante herab, die Füße baumelten knapp über dem
Boden. Der Schlitz im Rock gab ihr linkes Bein frei; es war nackt
bis hinauf zur Hüfte.
Ich ging einen Schritt auf sie zu, dann überlegte
ich es mir anders. Ohne das Licht auszuschalten, trat ich zurück in
den Flur und schloss vorsichtig die Tür.
Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, hob Kirkus die
Brauen.
»Sie ist erledigt«, sagte ich.
»Erledigt?«
»Sie schläft.«
»Sie ist ohnmächtig geworden, meinst du.«
»Weiß nicht. Jedenfalls habe ich beschlossen, sie
nicht zu wecken.«
»Gute Idee.«
Schulterzuckend sagte ich: »Tja, das war’s dann
wohl. Danke, dass du vorbeigekommen bist, Rudy. Vielleicht
wiederholen wir das Ganze ja mal.«
»Aber die Nacht ist doch noch jung.«
»Hm, ich bin auch ziemlich müde. Ich mache
wahrscheinlich ein Nickerchen und versuche dann, noch eine Weile zu
lernen.«
Anstatt aufzustehen, breitete Kirkus die Arme über
die Lehne des Sofas aus. »Ich sollte wirklich nicht gehen, ohne
mich anständig bei der Gastgeberin bedankt zu haben.«
»Du kannst dich morgen bei ihr bedanken.«
»Oh nein, das gehört sich nicht. Ich bleibe. Sie
muss ja früher oder später aufwachen.«
»Kirkus.«
»Sei nett zu mir, Eddie. Ich bin immer noch dein
Gast.«
»Die Party ist vorbei, okay? Zeit zu gehen.«
»Aber, aber. Du willst doch nicht einen wunderbaren
Abend verderben, indem du zum Schluss noch verdrießlich wirst,
oder? Warum bietest du mir nicht noch was zu trinken an? Diese
hoochas sind äußerst schmackhaft. Wir werden beide noch ein
Gläschen genießen und dabei nett plaudern, dann mache ich mich auf
den Weg.«
Ich war drauf und dran, ihm zu widersprechen.
»Biiitte«, sagte er und klimperte mit den
Augenlidern.
»Lass das.«
»Noch einen klitzekleinen Drink. Für
unterwegs.«
»Dann gehst du?«
»Hand aufs Herz.« Mit großem Gestus fasste er sich
an die Brust.
»Also gut.« Ich machte mich auf den Weg in die
Küche. »Wir trinken noch einen, und dann gehst du. Ohne Wenn und
Aber.«
»Ich werde unverzüglich die Kurve kratzen.«
»Okay.«
In der Küche füllte ich Eis in unsere Gläser.
Eigentlich wollte ich nichts mehr trinken. Ich hatte schon jetzt
mehr als genug intus und hegte die Befürchtung, dass ich mich nach
einem weiteren Drink nicht mehr auf den Beinen halten könnte.
Und diese Beine hatten heute noch etwas vor.
Aber ich hatte keine Idee, wie ich das Aussehen
eines hoochas imitieren könnte, deshalb mixte ich zwei
echte. Mit den beiden Gläsern ging ich zurück ins Wohnzimmer.
Kirkus klopfte neben sich auf das Sofa. »Setz dich
hierher.«
»Nein danke«, sagte ich.
»Ich bin kein Aussätziger, alter Knabe.«
»Ich weiß.«
Ich blieb auf der anderen Seite des Tischs und
stellte unsere Gläser ab.
»Bitte.« Wieder klopfte er neben seinen Beinen auf
das Sofa. »Mach dir keine Sorgen, ich werde dich nicht
belästigen.«
»Freut mich zu hören.« Ich nahm meinen Drink und
setzte mich in den Sessel.
Er grinste flüchtig. »Du hast Angst vor mir.«
»Ich habe keine Angst vor dir.«
»Dann setz dich neben mich.«
»Mir gefällt’s hier gut.« Ich trank einen Schluck
und stellte das Glas auf dem Beistelltisch ab.
»Obwohl ich dich oft wegen verschiedener Aspekte
deiner ziemlich bedauernswerten Persönlichkeit angegriffen habe«,
sagte Kirkus, »hätte ich doch nie gedacht, dass du ein Homophober
bist.«
»Ein Homophober? Ist das so was Ähnliches wie ein
Xylophoner?«
»Ich finde das nicht lustig.«
»Ich eigentlich auch nicht. Du beleidigst mich
plötzlich.«
»Wenn du dir den Schuh anziehst …«
»Von einem Mann mit deiner Bildung hätte ich eine
originellere Redewendung erwartet.«
Er kicherte leise, schüttelte den Kopf und trank
von seinem Drink. »Sitz doch, wo du willst«, sagte er.
»Sehr großzügig.«
Er rutschte tiefer ins Sofa und nahm noch einen
Schluck. Dann sah er mich an und seufzte. »Eduardo, Eduardo.«
»Rudolph, Rudolph.«
»Was musst du nur von mir denken?«
»Im Moment möchte ich nur, dass du gehst, damit ich
mich ein bisschen aufs Ohr hauen kann.«
»Ich bin auch ein wenig müde.« Er gähnte gekünstelt
und schlug die Hand vor den Mund. »Und ich habe so einen
langen Heimweg. Vielleicht sollte ich hier ein Nickerchen
machen, ehe ich losgehe.«
»Ja, klar.«
»Wir schlafen beide.«
»Genau.«
»Nicht?«
»Nein.«
»Mein Gott, Junge, wovor hast du Angst?«
Es gab keine Antwort, die Kirkus nicht entweder
beleidigen würde oder ihm Anlass böte, mich zu verspotten, deshalb
zuckte ich nur die Achseln.
»Du hast Angst, dass ich dich belästige, wenn du
schläfst.«
Bingo.
»Das habe ich nicht gesagt«, entgegnete ich.
»So etwas würde ich niemals tun.«
»Wenn du es sagst.«
Seine Augen funkelten plötzlich. »Sollen wir es
ausprobieren?«
»Nein.«
Er lachte. »Feigling.«
»Komm, hör auf.«
»Nein«, sagte er stirnrunzelnd. »Du hörst auf. Denk
doch nicht immer das Schlechteste von mir. Was habe ich denn je
getan, dass du mich verdächtigst, ich würde dich im Schlaf
belästigen?«
»Da fällt mir im Moment nichts ein«, gab ich
zu.
»Und ich würde es auch nie tun.« Ein Lächeln zog
sich über sein Gesicht. »Obwohl ich in Versuchung geraten
könnte.«
»Tja, ich werde dich vor der Versuchung bewahren.
Trink aus, ja?«
»Du bist ein harter Kerl, Eduardo.«
»Ja.«
»Natürlich liebe ich harte Kerle.« Mit diesen
Worten hob er sein Glas, als prostete er mir zu, und trank den Rest
seines hoocha de los muertos.
Ich stand auf, ging zur Tür und öffnete sie.
»Jetzt kommt also der Rausschmiss, stimmt’s?«
»So würde ich das nicht ausdrücken. Die Party ist
einfach vorbei. Es ist Zeit, die Zelte abzubrechen und
weiterzuziehen.«
»Wie poetisch«, murmelte er.
»Ich wusste, dass es dir gefällt.«
Kirkus erhob sich mühsam vom Sofa, streckte sich
und gähnte, kam dann zur Tür und blieb vor mir stehen. Er wippte
ein paarmal auf den Fußballen. »War ein netter Abend«, sagte er
schließlich.
»Jau.«
»Sag der schlafenden Schönheit, das Mahl war
göttlich und ihre Cocktails fabelhaft.«
»Ich sag’s ihr.«
Er streckte mir die Hand entgegen, und ich
schüttelte sie. Als ich sie loslassen wollte, hielt er mich
fest.
»Bis zum nächsten Mal bei mir«, sagte er.
»Wir werden sehen.«
Er ließ meine Hand los. Während er rückwärts aus
der Wohnung ging, fragte er: »Sind wir immer noch Kumpel?«
»Kumpel?«
»Freunde, mein Junge.«
»Ich glaub schon.«
»Wie schön!« Er wirbelte herum und schlenderte den
Flur entlang.
Ich schloss die Tür.
»Na also«, flüsterte ich.
Ich war froh, ihn los zu sein, aber hatte auch ein
schlechtes Gewissen. Ich hatte ihn schlecht behandelt. Er hatte es
sich zwar selbst zuzuschreiben, doch deshalb fühlte ich mich nicht
besser.
Ich brachte unsere Gläser in die Küche. Seins war
leer, meins noch fast voll. Ich goss den Rest in den Ausguss. Dann
räumte ich den Tisch ab und begann, das Geschirr abzuspülen.
Ich musste lange an Kirkus denken. Auf eine gewisse
Art tat er mir leid. Er hatte harte Zeiten erlebt. Es gab keine
Entschuldigung dafür, wie seine Mitschüler mit ihm umgesprungen
waren … und die Tätowierung! Das Letzte, was er gebrauchen konnte,
war, dass auch ich auf ihm herumtrampelte.
Ich sollte netter zu ihm sein, dachte ich. Ich
sollte sein Freund sein.
Dann überlegte ich, wie ich mit ihm befreundet sein
könnte, wenn er sich die halbe Zeit über wie ein Arschloch
aufführte.
Eine Zeit lang fragte ich mich, warum er so ein
Arschloch war.
Eigentlich ist er keins, dachte ich. Er spielt es
nur. Und das ziemlich offensichtlich.
Das machte die Sache noch seltsamer. Warum sollte
er oder irgendjemand sonst eine derart kunstvolle Aufführung
inszenieren, nur um Leute zu nerven? Wollte er, dass ihn alle
verachteten?
Offenbar.
Eine Art von Selbstzerstörung?
Vielleicht wollte er die Menschen auf Distanz
halten und keine Bindungen eingehen. Wenn man Bindungen eingeht,
kann man verletzt werden.
Oder fallengelassen.
Während ich die Pfanne schrubbte, fragte ich mich,
was Holly wohl gerade tat. Ich warf einen Blick auf meine
Armbanduhr. Viertel vor acht. Vielleicht war sie auf dem Weg zum
Kino mit Jay-Jay, ihrem Wunderknaben.
Oder sind sie miteinander im Bett?
Ich stellte mir vor, wie Holly auf dem Rücken lag,
ein gut aussehender fremder Mann über ihr, der in sie hineinstieß …
und ich verspürte keine Eifersucht, keine bittersüße Sehnsucht nach
Holly, keinen Schmerz, keine Wut, im Grunde genommen nichts.
Ich trocknete die Pfanne ab und überlegte, was
Casey gerade trieb. Nicht mal acht. War sie irgendwo in einem Haus?
In ihrem eigenen oder einem fremden? Oder war sie draußen und zog
durch die dunklen Straßen?
Wenn ich jetzt hinausginge, würde ich dann das
Glück haben, sie zu finden?
Ich kann jetzt nicht raus, erinnerte ich mich,
Eileen ist hier.
Sie schläft.
Wirklich?
Ich spülte das restliche Geschirr, dann ging ich
durch den Flur zu meinem Schlafzimmer. Vorsichtig schob ich die Tür
einen Spalt auf und stellte fest, dass die Lampe noch brannte. Als
ich die Tür weiter öffnete, sah ich Eileen.
Sie lag immer noch krumm auf meinem Bett. Es sah
aus, als hätte sie sich nicht bewegt, seit ich sie zum letzten Mal
gesehen hatte.
Sie schlief tief und fest und schnarchte wie ein
Holzfäller.
Sie ist so erledigt, dachte ich, dass sie
wahrscheinlich in den nächsten Stunden nicht aufwacht. Wenn man sie
ließ, würde sie womöglich die ganze Nacht und den halben Morgen
durchschlafen.
Sie wird nie erfahren, dass ich weg
war.
Ich kann nicht einfach gehen und sie allein lassen,
sagte ich mir. Das wäre nicht anständig. Sie ist gekommen, um mit
mir zusammen zu sein. Sie hat die tollen Drinks und das Essen
zubereitet. Sie liebt mich. Ich kann sie nicht einfach
verlassen.
Sie schläft.
Aber was ist, wenn sie aufwacht? Dann wird sie
merken, dass ich weggegangen bin.
Schreib ihr einen Zettel.