39
»Abhauen«, schlug ich vor.
»Gute Idee«, sagte Casey. »Los.« Sie wirbelte herum und rannte quer über den Spielplatz. Ich folgte ihr mit ein paar Schritten Abstand und ließ sie die Führung übernehmen. Sie kannte die Gegend besser als ich. Außerdem wollte ich hinter ihr bleiben, um ihr Rückendeckung zu geben.
Ich blickte mich um und sah, dass der Mann uns weiter verfolgte. Er schien weite schwarze Kleidung zu tragen. Mit gesenktem Kopf setzte er uns nach, die stämmigen Beine bewegten sich ziemlich schnell für einen so großen Mann, seine Arme pumpten durch die Luft. Sein Laufstil wirkte ungleichmäßig. Die Figur aus Hemingways Geschichte »Der Kämpfer« kam mir in den Sinn. Nicht Nick Adams, sondern der verrückte Boxer Ad Francis. In der Verfilmung wurde er von Paul Newman gespielt, aber unser Verfolger war viel größer als Paul Newman, und ich hatte das Gefühl, er war auch nicht Ad Francis. Ich wünschte, er wäre Ad Francis.
Als wir den Spielplatz überquert hatten, sah ich mich wieder um. Er stapfte immer noch hinter uns her.
Aber er holte nicht auf.
Wir sprangen vom Bürgersteig und liefen diagonal über die Straße. Es kamen keine Autos. Außer den Fahrzeugen, die am Straßenrand oder in den Einfahrten parkten, waren auch keine in Sicht.
An einer Einfahrt rannten wir auf den gegenüberliegenden Bürgersteig und wandten uns nach rechts. Der Gehweg war eng, deshalb hielt ich mich hinter Casey. Ich passte meinen Schritt dem ihren an und beobachtete ihren tänzelnden Pferdeschwanz.
Als wir uns dem Ende des Häuserblocks näherten, warf ich einen Blick über die Schulter. Zuerst konnte ich unseren Verfolger nicht entdecken, dann sah ich ihn weit hinter uns an einer Wippe vorbeilaufen.
»Wir hängen ihn ab«, keuchte ich.
»Das Spiel heißt Mann oder Maus«, sagte Casey. »Mäuse rennen nicht ewig, sondern verkriechen sich.«
»Aber …«
»Ich zeig’s dir.« Plötzlich schwenkte sie nach links. Ich folgte ihr vom Gehweg hinunter, über den Rasen eines Vorgartens und ein halbes Dutzend Stufen zu einer Veranda hinauf.
Auf der Veranda war es dunkel. Es gab dort eine Schaukel, und ich hoffte, dass kein alter Mann darauf saß, der uns schweigend beobachtete.
Wir sind nicht einmal in der Nähe dieses Hauses, dachte ich. Aber ganz sicher war ich nicht. Ich hatte nur eine vage Vorstellung, wo wir uns befanden.
»Sei ganz still«, flüsterte Casey. Dann öffnete sie die Fliegengittertür des Hauses.
»Was hast du …?«
»Pssst.« Sie schob die Haustür auf.
Ich folgte ihr hinein und zog die Fliegentür hinter mir vorsichtig zu. Dann ging ich aus dem Weg, und Casey schloss leise die schwere Holztür.
Sie griff nach meinem Arm. Ich sah sie an, konnte sie aber kaum erkennen.
Von einer Seite fiel ein schwacher grauer Lichtschimmer durch ein großes Fenster ins Wohnzimmer. Dort konnte ich die undeutlichen Konturen von Möbelstücken ausmachen, aber der Flur, in dem wir standen, war fast völlig dunkel.
Obwohl Caseys Hand an derselben Stelle auf meinem Arm liegen blieb, spürte ich, dass sie sich bewegte. Sie zog sanft an meinem Arm. Ich beugte mich zu ihr, und sie flüsterte: »Wir bleiben hier, bis er weg ist.« Ihr Atem strich warm über die Seite meines Halses.
»Wessen Haus ist das?«, fragte ich leise.
»Unseres.«
Ich verspürte eine riesige Erleichterung und auch Freude darüber, dass sie mir genug vertraute, um mich mit zu sich nach Hause zu nehmen.
Wenn sie die Wahrheit gesagt hatte.
Es schien ein großer Zufall zu sein, dass Caseys Haus gleich gegenüber dem Spielplatz lag und sich als praktisches Versteck vor unserem Verfolger anbot.
Vielleicht war es kein Zufall. Schließlich hatte Casey seit unserem Zusammentreffen den Weg bestimmt. Sie hatte mich in diesen Teil der Stadt geführt, mich zum Spielplatz und in dieses Haus gebracht.
Vielleicht war nur unser Verfolger zufällig aufgetaucht, und Casey hatte von vornherein geplant, mich hierherzubringen.
»Wir sollten lieber die Schuhe ausziehen«, wisperte sie an meinem Hals.
Sie ließ meinen Arm los.
Erst auf dem einen, dann auf dem anderen Bein balancierend, zog ich meine Schuhe aus.
»Gib sie mir«, sagte Casey. »Ich stell sie zu meinen.«
Ich streckte ihr mit beiden Händen die Schuhe entgegen. Sie tastete sich an meinen Armen entlang, fand die Schuhe und nahm sie. Als sie an mir vorbeiging, streifte sie mich.
Kurz darauf nahm sie wieder meinen Arm. »Komm, wir gehen nach oben«, flüsterte sie.
Nach oben. In ihr Zimmer?
Ich dachte, wir wollten nur Freunde sein?
Ich war erstaunt, aufgeregt und ängstlich.
Beruhig dich, sagte ich mir. Nur weil wir nach oben gehen, heißt das nicht, dass wir miteinander schlafen.
»Wir müssen ganz leise sein«, sagte sie. »Ich will niemanden aufwecken.«
»Wer ist denn außer uns noch hier?«
»Lass uns nachsehen.«
»Weißt du das nicht?«
»Pssst.«
Casey führte mich durch den Flur, und wir schlichen eine Treppe hinauf. Es war so dunkel, dass es keine Rolle spielte, ob ich meine Augen offen oder geschlossen hatte. Ich ließ sie trotzdem offen. Casey hielt weiter meinen rechten Arm fest. Meine linke Hand glitt über das Geländer. Wir bewegten uns ganz langsam, ganz leise. Hin und wieder quietschte oder knarrte eine Stufe.
Mein Gott, dachte ich, ich stehle mich mit Casey, dem geheimnisvollen Mädchen, ins Obergeschoss.
Meine Aufregung war beinahe unerträglich. Meine Angst auch.
Was ist, wenn uns ihre Eltern erwischen?
Oder wenn sie uns nicht bemerken, wir uns in Caseys Zimmer schleichen und uns lieben?
Oder wenn unser Verfolger gesehen hat, in welches Haus wir gerannt sind und hinterherkommt, um uns zu holen?
Ich war mir ziemlich sicher, dass Casey die Haustür nicht abgeschlossen hatte.
Ich stellte mir vor, wie der große Mann schwerfällig die Treppe hinaufstieg und oben angekommen ein Messer zog.
Fee! Fie! Foe! Fum! Ich rieche Menschenfleisch …
Scheiße.
Am Ende der Treppe führte Casey mich nach links. Der Teppich dämpfte unsere Schritte. Vor uns befand sich ein Fenster, durch das der schwache Schein der Nacht fiel. Das graue Licht erhellte das Ende des Flurs, wurde aber in unsere Richtung schwächer und ließ den Großteil des Korridors im Dunkeln.
Ein brummendes Geräusch jagte mir einen Schauder über den Rücken.
Casey blieb stehen.
Links von uns befand sich eine offene Tür. Das Brummen kam von dort, und mir wurde klar, dass jemand in dem Zimmer schlief und schnarchte. Nein, es mussten zwei Leute dort schlafen. Im dem Raum war es etwas weniger dunkel als im Flur.
Casey zog sanft an meinem Arm, und ich folgte ihr in das Zimmer. Zwischen zwei Fenstern stand ein sehr großes Bett. Die Vorhänge waren zugezogen, doch es fiel Licht durch den Stoff und die Lücken an den Rändern.
Tatsächlich schliefen zwei Menschen im Bett. Ihre Köpfe ruhten auf den Kissen. Eine Person war bis zu den Schultern zugedeckt, während die andere auf der Seite zusammengerollt und ohne Decke dalag. Es schien eine Frau in einem dunklen Pyjama zu sein, aber die Füße waren nackt. Es war kühl im Zimmer. Ich dachte, dass sie kalte Füße haben müsste.
Ich nahm an, es handelte sich um Caseys Eltern.
Seltsam, dass sie mich in ihr Zimmer brachte, während sie schliefen.
Sie wird ihre Gründe dafür haben, dachte ich.
Ich wollte das Zimmer verlassen, doch Casey hielt meinen Arm fest. Sie führte mich auf die rechte Seite des Betts, wo das Fenster war. Dort ließ sie meinen Arm los. Mit beiden Händen schob sie die Vorhänge auseinander. Licht fiel in den Raum. Zuerst kam es mir so hell vor, dass ich befürchtete, die Schlafenden würden aufwachen. Aber sie schnarchten weiter, und ich stellte fest, dass das Licht eigentlich eher schwach war.
Während Casey die Vorhänge ganz öffnete, hörte man das leise Schaben der Ringe an der Gardinenstange.
Die beiden schliefen weiter.
Casey trat zur Seite, um mir Platz am Fenster zu machen. Ich trat leise neben sie, bis mein Arm den ihren berührte. Durch die Scheibe hatten wir einen guten Blick auf den Bereich vor dem Haus.
Deshalb war sie also mit mir in das Zimmer gegangen.
Bis auf ein paar im Schatten liegende Stellen waren der Rasen, der Bürgersteig und die Straße sehr gut beleuchtet. Wir konnten sogar Teile der Nachbargrundstücke zu beiden Seiten des Hauses und auf der anderen Straßenseite erkennen.
Es war niemand zu sehen.
Wo ist er?
Vielleicht hatte unser Verfolger keine Ahnung, wo wir steckten, und war weitergelaufen, um andere Straßen oder Viertel nach uns abzusuchen. Möglicherweise hatte er auch aufgegeben und war abgezogen.
Oder er wusste, wo wir waren. Er könnte sich da unten irgendwo versteckt haben und darauf lauern, dass wir herauskamen. Vielleicht im Gebüsch auf der anderen Straßenseite. Oder hinter einem parkenden Auto. Oder hinter dem Stamm des Baums in Caseys Vorgarten. Oder auf der Veranda. Oder schon im Haus.
Wenn wir ihn nur sehen könnten!
Plötzlich fragte ich mich, ob er uns sehen konnte. So dicht an der Scheibe hätten wir für jemanden, der zum Fenster hinaufblickte, zu erkennen sein können.
Als hätte Casey den gleichen Gedanken gehabt, stieß sie mich sanft an. Ich ging aus dem Weg. Sie griff mit beiden Händen nach oben und zog die Vorhänge zu.
Dann nahm sie wieder meinen Arm und führte mich zur Schlafzimmertür. Auf der Hälfte des Weges blieb sie stehen. Sie drückte meinen Arm und ließ ihn los. Ich drehte mich langsam um und sah zu, wie sie durch die Dunkelheit zu der Seite des Betts schlich, auf der die unbedeckte Frau schlief.
Sie legte eine Decke über die nackten Füße.
Die Frau schnarchte weiter.
Casey kam zu mir zurück. Sie fasste meinen Unterarm und brachte mich aus dem Zimmer.
Finster
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