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»Abhauen«, schlug ich vor.
»Gute Idee«, sagte Casey. »Los.« Sie wirbelte herum
und rannte quer über den Spielplatz. Ich folgte ihr mit ein paar
Schritten Abstand und ließ sie die Führung übernehmen. Sie kannte
die Gegend besser als ich. Außerdem wollte ich hinter ihr bleiben,
um ihr Rückendeckung zu geben.
Ich blickte mich um und sah, dass der Mann uns
weiter verfolgte. Er schien weite schwarze Kleidung zu tragen. Mit
gesenktem Kopf setzte er uns nach, die stämmigen Beine bewegten
sich ziemlich schnell für einen so großen Mann, seine Arme pumpten
durch die Luft. Sein Laufstil wirkte ungleichmäßig. Die Figur aus
Hemingways Geschichte »Der Kämpfer« kam mir in den Sinn. Nicht Nick
Adams, sondern der verrückte Boxer Ad Francis. In der Verfilmung
wurde er von Paul Newman gespielt, aber unser Verfolger war viel
größer als Paul Newman, und ich hatte das Gefühl, er war auch nicht
Ad Francis. Ich wünschte, er wäre Ad Francis.
Als wir den Spielplatz überquert hatten, sah ich
mich wieder um. Er stapfte immer noch hinter uns her.
Aber er holte nicht auf.
Wir sprangen vom Bürgersteig und liefen diagonal
über die Straße. Es kamen keine Autos. Außer den Fahrzeugen, die am
Straßenrand oder in den Einfahrten parkten, waren auch keine in
Sicht.
An einer Einfahrt rannten wir auf den
gegenüberliegenden Bürgersteig und wandten uns nach rechts. Der
Gehweg war eng, deshalb hielt ich mich hinter Casey. Ich passte
meinen Schritt dem ihren an und beobachtete ihren tänzelnden
Pferdeschwanz.
Als wir uns dem Ende des Häuserblocks näherten,
warf ich einen Blick über die Schulter. Zuerst konnte ich unseren
Verfolger nicht entdecken, dann sah ich ihn weit hinter uns an
einer Wippe vorbeilaufen.
»Wir hängen ihn ab«, keuchte ich.
»Das Spiel heißt Mann oder Maus«, sagte Casey.
»Mäuse rennen nicht ewig, sondern verkriechen sich.«
»Aber …«
»Ich zeig’s dir.« Plötzlich schwenkte sie nach
links. Ich folgte ihr vom Gehweg hinunter, über den Rasen eines
Vorgartens und ein halbes Dutzend Stufen zu einer Veranda
hinauf.
Auf der Veranda war es dunkel. Es gab dort eine
Schaukel, und ich hoffte, dass kein alter Mann darauf saß, der uns
schweigend beobachtete.
Wir sind nicht einmal in der Nähe dieses Hauses,
dachte ich. Aber ganz sicher war ich nicht. Ich hatte nur eine vage
Vorstellung, wo wir uns befanden.
»Sei ganz still«, flüsterte Casey. Dann öffnete sie
die Fliegengittertür des Hauses.
»Was hast du …?«
»Pssst.« Sie schob die Haustür auf.
Ich folgte ihr hinein und zog die Fliegentür hinter
mir vorsichtig zu. Dann ging ich aus dem Weg, und Casey schloss
leise die schwere Holztür.
Sie griff nach meinem Arm. Ich sah sie an, konnte
sie aber kaum erkennen.
Von einer Seite fiel ein schwacher grauer
Lichtschimmer durch ein großes Fenster ins Wohnzimmer. Dort konnte
ich die undeutlichen Konturen von Möbelstücken ausmachen, aber der
Flur, in dem wir standen, war fast völlig dunkel.
Obwohl Caseys Hand an derselben Stelle auf meinem
Arm liegen blieb, spürte ich, dass sie sich bewegte. Sie zog sanft
an meinem Arm. Ich beugte mich zu ihr, und sie flüsterte: »Wir
bleiben hier, bis er weg ist.« Ihr Atem strich warm über die Seite
meines Halses.
»Wessen Haus ist das?«, fragte ich leise.
»Unseres.«
Ich verspürte eine riesige Erleichterung und auch
Freude darüber, dass sie mir genug vertraute, um mich mit zu sich
nach Hause zu nehmen.
Wenn sie die Wahrheit gesagt hatte.
Es schien ein großer Zufall zu sein, dass Caseys
Haus gleich gegenüber dem Spielplatz lag und sich als praktisches
Versteck vor unserem Verfolger anbot.
Vielleicht war es kein Zufall. Schließlich hatte
Casey seit unserem Zusammentreffen den Weg bestimmt. Sie hatte mich
in diesen Teil der Stadt geführt, mich zum Spielplatz und in dieses
Haus gebracht.
Vielleicht war nur unser Verfolger zufällig
aufgetaucht, und Casey hatte von vornherein geplant, mich
hierherzubringen.
»Wir sollten lieber die Schuhe ausziehen«, wisperte
sie an meinem Hals.
Sie ließ meinen Arm los.
Erst auf dem einen, dann auf dem anderen Bein
balancierend, zog ich meine Schuhe aus.
»Gib sie mir«, sagte Casey. »Ich stell sie zu
meinen.«
Ich streckte ihr mit beiden Händen die Schuhe
entgegen. Sie tastete sich an meinen Armen entlang, fand die Schuhe
und nahm sie. Als sie an mir vorbeiging, streifte sie mich.
Kurz darauf nahm sie wieder meinen Arm. »Komm, wir
gehen nach oben«, flüsterte sie.
Nach oben. In ihr Zimmer?
Ich dachte, wir wollten nur Freunde
sein?
Ich war erstaunt, aufgeregt und ängstlich.
Beruhig dich, sagte ich mir. Nur weil wir nach oben
gehen, heißt das nicht, dass wir miteinander schlafen.
»Wir müssen ganz leise sein«, sagte sie. »Ich will
niemanden aufwecken.«
»Wer ist denn außer uns noch hier?«
»Lass uns nachsehen.«
»Weißt du das nicht?«
»Pssst.«
Casey führte mich durch den Flur, und wir schlichen
eine Treppe hinauf. Es war so dunkel, dass es keine Rolle spielte,
ob ich meine Augen offen oder geschlossen hatte. Ich ließ sie
trotzdem offen. Casey hielt weiter meinen rechten
Arm fest. Meine linke Hand glitt über das Geländer. Wir bewegten
uns ganz langsam, ganz leise. Hin und wieder quietschte oder
knarrte eine Stufe.
Mein Gott, dachte ich, ich stehle mich mit Casey,
dem geheimnisvollen Mädchen, ins Obergeschoss.
Meine Aufregung war beinahe unerträglich. Meine
Angst auch.
Was ist, wenn uns ihre Eltern
erwischen?
Oder wenn sie uns nicht bemerken, wir uns in
Caseys Zimmer schleichen und uns lieben?
Oder wenn unser Verfolger gesehen hat, in
welches Haus wir gerannt sind und hinterherkommt, um uns zu
holen?
Ich war mir ziemlich sicher, dass Casey die Haustür
nicht abgeschlossen hatte.
Ich stellte mir vor, wie der große Mann
schwerfällig die Treppe hinaufstieg und oben angekommen ein Messer
zog.
Fee! Fie! Foe! Fum! Ich rieche Menschenfleisch
…
Scheiße.
Am Ende der Treppe führte Casey mich nach links.
Der Teppich dämpfte unsere Schritte. Vor uns befand sich ein
Fenster, durch das der schwache Schein der Nacht fiel. Das graue
Licht erhellte das Ende des Flurs, wurde aber in unsere Richtung
schwächer und ließ den Großteil des Korridors im Dunkeln.
Ein brummendes Geräusch jagte mir einen Schauder
über den Rücken.
Casey blieb stehen.
Links von uns befand sich eine offene Tür. Das
Brummen kam von dort, und mir wurde klar, dass jemand in
dem Zimmer schlief und schnarchte. Nein, es mussten zwei
Leute dort schlafen. Im dem Raum war es etwas weniger dunkel als im
Flur.
Casey zog sanft an meinem Arm, und ich folgte ihr
in das Zimmer. Zwischen zwei Fenstern stand ein sehr großes Bett.
Die Vorhänge waren zugezogen, doch es fiel Licht durch den Stoff
und die Lücken an den Rändern.
Tatsächlich schliefen zwei Menschen im Bett. Ihre
Köpfe ruhten auf den Kissen. Eine Person war bis zu den Schultern
zugedeckt, während die andere auf der Seite zusammengerollt und
ohne Decke dalag. Es schien eine Frau in einem dunklen Pyjama zu
sein, aber die Füße waren nackt. Es war kühl im Zimmer. Ich dachte,
dass sie kalte Füße haben müsste.
Ich nahm an, es handelte sich um Caseys
Eltern.
Seltsam, dass sie mich in ihr Zimmer brachte,
während sie schliefen.
Sie wird ihre Gründe dafür haben, dachte ich.
Ich wollte das Zimmer verlassen, doch Casey hielt
meinen Arm fest. Sie führte mich auf die rechte Seite des Betts, wo
das Fenster war. Dort ließ sie meinen Arm los. Mit beiden Händen
schob sie die Vorhänge auseinander. Licht fiel in den Raum. Zuerst
kam es mir so hell vor, dass ich befürchtete, die Schlafenden
würden aufwachen. Aber sie schnarchten weiter, und ich stellte
fest, dass das Licht eigentlich eher schwach war.
Während Casey die Vorhänge ganz öffnete, hörte man
das leise Schaben der Ringe an der Gardinenstange.
Die beiden schliefen weiter.
Casey trat zur Seite, um mir Platz am Fenster zu
machen.
Ich trat leise neben sie, bis mein Arm den ihren berührte. Durch
die Scheibe hatten wir einen guten Blick auf den Bereich vor dem
Haus.
Deshalb war sie also mit mir in das Zimmer
gegangen.
Bis auf ein paar im Schatten liegende Stellen waren
der Rasen, der Bürgersteig und die Straße sehr gut beleuchtet. Wir
konnten sogar Teile der Nachbargrundstücke zu beiden Seiten des
Hauses und auf der anderen Straßenseite erkennen.
Es war niemand zu sehen.
Wo ist er?
Vielleicht hatte unser Verfolger keine Ahnung, wo
wir steckten, und war weitergelaufen, um andere Straßen oder
Viertel nach uns abzusuchen. Möglicherweise hatte er auch
aufgegeben und war abgezogen.
Oder er wusste, wo wir waren. Er könnte sich da
unten irgendwo versteckt haben und darauf lauern, dass wir
herauskamen. Vielleicht im Gebüsch auf der anderen Straßenseite.
Oder hinter einem parkenden Auto. Oder hinter dem Stamm des Baums
in Caseys Vorgarten. Oder auf der Veranda. Oder schon im
Haus.
Wenn wir ihn nur sehen könnten!
Plötzlich fragte ich mich, ob er uns sehen konnte.
So dicht an der Scheibe hätten wir für jemanden, der zum Fenster
hinaufblickte, zu erkennen sein können.
Als hätte Casey den gleichen Gedanken gehabt, stieß
sie mich sanft an. Ich ging aus dem Weg. Sie griff mit beiden
Händen nach oben und zog die Vorhänge zu.
Dann nahm sie wieder meinen Arm und führte mich zur
Schlafzimmertür. Auf der Hälfte des Weges blieb sie
stehen. Sie drückte meinen Arm und ließ ihn los. Ich drehte mich
langsam um und sah zu, wie sie durch die Dunkelheit zu der Seite
des Betts schlich, auf der die unbedeckte Frau schlief.
Sie legte eine Decke über die nackten Füße.
Die Frau schnarchte weiter.
Casey kam zu mir zurück. Sie fasste meinen Unterarm
und brachte mich aus dem Zimmer.