63
Ich befand mich in sicherer Entfernung von der Unfallstelle und hatte keine Ahnung, was ich als Nächstes tun sollte. Mein Kopf tat wieder weh, meine Brust schmerzte von dem Aufprall des Airbags, und meine Knie waren weich. Ich fühlte mich schwach und zittrig.
Ich war auf mich allein gestellt. Keine Gefährtin. Kein Auto. Kaum noch Hoffnung, Eileen retten zu können.
Nur wegen der Fahrradhexe.
Widerliche Schlampe!
Es hatte fast den Anschein, sie wäre absichtlich vor uns auf die Straße gefahren, um einen Unfall auszulösen.
Niemand ist so verrückt. Es ist ein Wunder, dass sie nicht dabei umgekommen ist.
Jedenfalls gut, dass ihr nichts passiert ist. Lois wäre wirklich in Schwierigkeiten, wenn sie eine alte Frau auf dem Fahrrad überfahren hätte. Der Unfall mit dem parkenden Wagen war bei weitem nicht so schlimm. Vielleicht würde sie eine Vorladung wegen überhöhter Geschwindigkeit erhalten. Ihre Versicherungsbeiträge könnten steigen. Keine große Sache.
Hoffentlich geht es ihr gut.
Bestimmt, sagte ich mir.
Aber was soll ich jetzt tun?
Ich war entmutigt, und alles tat mir weh. Am liebsten wäre ich zurück in meine Wohnung gegangen.
Ich kann nicht aufgeben.
Außerdem hätte ich den Weg nach Hause nicht gefunden.
Erst mal rausfinden, wo ich bin.
Ich ging zur nächsten Kreuzung und las die Straßenschilder.
Beaumont und Pittman.
»Hä?«
Ich kannte keine von beiden.
»Scheiße.«
Ich blieb an der Ecke stehen und blickte in alle vier Richtungen. Die Straßen waren von Laternen und großen Bäumen gesäumt. Der Wind bewegte die Äste. Winkende Schatten belebten das Pflaster. Ich sah keine Autos und keine Menschen. Die Häuser unterschieden sich kaum von Hunderten anderen, die ich auf meinen Streifzügen durch die Stadt gesehen hatte. Alte, ein- oder zweigeschossige Mittelklassehäuser. Bei den meisten brannte Licht, wenn auch nur auf der Veranda, aber einige waren auch völlig dunkel.
Wo zum Teufel bin ich?
Ich habe mich nicht verlaufen, sagte ich mir. Das ist nur zufälligerweise die Kreuzung zweier Straßen, von denen ich noch nie gehört habe. Geh in eine Richtung, irgendeine Richtung, lauf ein oder zwei Blocks weiter, und du bist wieder auf vertrautem Terrain.
Und wenn nicht?
Links sah es nach einem angenehmen Weg aus, also überquerte ich die Pittman Street und ging die Beaumont entlang. Ich hatte keine Ahnung, ob ich nach Norden oder Süden ging.
Vielleicht kann ich es herausfinden.
Ja, klar. Bei dem Kopfweh, den Schmerzen und dem Zittern überall konnte ich kaum einen klaren Gedanken fassen.
Aber ich gab mir Mühe.
Vor unserer kurzen Verfolgungsjagd hatten wir die Straßen abgefahren, die in Ost-West-Richtung verliefen, und uns tendenziell nach Süden bewegt. Nachdem Lois sich an den Pick-up gehängt hatte, war sie nach rechts abgebogen. Aber in welche Richtung waren wir vorher gefahren? Nach Osten? Es kam mir so vor, aber ich war nicht sicher. Wenn es wirklich Osten war, hätte uns das Rechtsabbiegen nach Süden geführt.
Wenn es Westen war, waren wir an der Kreuzung nach Norden abgebogen.
Also, welche Richtung?
 
Mach dir keine unnötigen Gedanken darüber, sagte ich mir. Ich werde die Orientierung schon bald wiederfinden.
Nicht weit vor mir lag die nächste Kreuzung.
Ich erreichte sie und blieb stehen. Immer noch kein Verkehr und keine Leute. Nur die Schatten bewegten sich. Und die Äste der Bäume. Und das Blattwerk. Und das Laub, das herabgefallen war und durch die Nacht geweht wurde. Teils flog es vorbei, als wäre es in Eile, teils rutschte und trudelte es über den Bürgersteig.
Ich ging dichter an die Straßenschilder heran, nahm Lois’ schwere Ledertasche in die andere Hand und legte meinen Kopf in den Nacken.
Beaumont Ecke Johnson.
Johnson?
Von dieser Straße hatte ich ebenfalls noch nie etwas gehört.
Seufzend überquerte ich sie. Ich konnte nichts anderes tun, als meine Richtung beizubehalten.
Das kann nicht mehr lange so weitergehen, dachte ich. So groß ist die Stadt nicht, und einen Großteil davon habe ich schon erkundet. Ich muss zwangsläufig bald in eine vertraute Gegend kommen.
Vertraut? Es kam mir alles vertraut vor. Nur nicht vertraut genug.
Wahrscheinlich war ich schon einmal in der Beaumont Street gewesen, aber ich hatte nicht auf den Straßennamen geachtet.
Die nächste kenne ich bestimmt.
Ich erreichte die Kreuzung. Auf der linken Seite parkte ein Laster am Straßenrand. Kein Pick-up, sondern der große Kastenwagen einer Autovermietung. Er versperrte mir größtenteils den Blick in diese Richtung. Zur Rechten war die Straße in Schatten gehüllt. Dort standen Häuser und Autos, und Blätter wirbelten durch die Luft, und es gab keinen Anhaltspunkt dafür, wo ich mich befand. Also sah ich hinauf zu den Straßenschildern.
Beaumont Ecke Hammer.
Unmöglich. Wieder eine Straße, von der ich noch nie etwas gehört hatte?
Wo bin ich? Was ist, wenn ich gar nicht mehr in Willmington bin?
Mach dich nicht lächerlich, sagte ich mir. Aber es lief mir kalt den Rücken runter, und ich bekam eine Gänsehaut.
Beruhig dich, dachte ich. Ich bin immer noch in Willmington. Es ist nichts Übernatürliches geschehen. Ich weiß nur im Moment nicht, wo ich bin, das ist alles. Es kann nicht mehr lange dauern.
Ich trat vom Bürgersteig, um die Hammer Street zu überqueren.
Ring-ring!
Sie war aus dem Nichts gekommen, diese Hexe mit ihrer Stretchhose und der Baseballkappe, und jetzt stürzte sie auf mich zu wie ein Phantom aus einem Alptraum, grässlich wie das, was unter dem Bett eines verängstigten Kindes lauert. Das Blut gefror in meinen Adern, und ein Schrei versuchte sich aus meiner Kehle zu lösen.
Doch ehe ich den Mund öffnen konnte, nahm sie eine Hand vom Lenker, wedelte in der Luft herum und winkte mich zurück. »Aus dem Weg!«, kreischte sie heiser.
Aus dem Weg?
Aus dem WEG??
Sie war keine Alptraumgestalt, sondern ein aggressives altes Miststück!
Sie rauschte an mir vorbei, verpasste mich nur um wenige Zentimeter und hinterließ in ihrem Kielwasser den süßlichen Duft von Rosenparfüm.
»Passen Sie doch auf, wo Sie hinfahren!«, rief ich.
Sie hob ihren rechten Arm und streckte mir den Mittelfinger entgegen.
Das brachte das Fass zum Überlaufen.
»Also gut!«, brüllte ich.
Sie blickte zu mir zurück und sah, wie ich den langen Trageriemen der Tasche um meine Schulter schlang und losrannte. »Hui!«, krächzte sie. Dann drehte sie sich wieder nach vorn, hob ihren knochigen Hintern aus dem Sattel und trat fester in die Pedale.
Ich lief hinter ihr her. Die schwere Ledertasche baumelte an meiner Seite und schlug mir gegen die Taille. Zuerst holte ich auf. Dann wurde sie schneller und zog davon.
Das war’s, dachte ich. Sie entkommt mir. Ich muss verrückt gewesen sein, dass ich dachte, ich könnte jemanden auf einem Fahrrad einholen … besonders mit meinem schweren Gepäck. Was immer Lois auch in der Tasche hatte - Pistolen, Taschenlampen, Munition? -, es musste bestimmt acht Kilo wiegen.
Ich bin tatsächlich verrückt. Ich verfolge eine alte Frau! Was mache ich, wenn ich sie erwische? Sie verprügeln? Sie der Polizei ausliefern, weil sie Lois’ Unfall verursacht hat?
Überflüssige Spekulation, dachte ich. Ich habe sowieso keine Chance …
Der Abstand zwischen uns schien sich zu verringern.
Fährt sie langsamer?
Natürlich, dachte ich. Sie ist eine alte Frau. Sie ist erschöpft und hat sich wieder auf den Sattel gesetzt.
Ich war ungefähr fünfzehn Meter hinter ihr, als sie um eine Ecke fuhr. Durch eine Abkürzung quer über eine Wiese halbierte ich ihren Vorsprung. Ich lief schneller. Holte auf. Noch schneller. Nur noch vier Meter. Zwei. Ich legte noch einen Zahn zu, kam näher und näher, meine Füße flogen durch die Luft, berührten beinahe das Hinterrad ihres Fahrrads.
Ich trete einfach dagegen, dachte ich. Ein sauberer harter Tritt seitlich gegen das Rad, und sie fällt um.
Tu es nicht! Sie ist eine alte Frau!
Sie verantwortet unseren Unfall! Wegen ihr können wir Eileen nicht retten! Es ist alles ihre Schuld, und sie hat es mit Absicht getan!
Als ich nach ihrem Hinterrad trat, beschleunigte sie. Mein Tritt ging daneben. Der Fuß schwang zu weit zur Seite und kam schräg auf dem Boden auf. Irgendwie stolperte ich über meine eigenen Beine und fiel.
Finster
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