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Ein paar Minuten später kam Eileen. Ich drückte
ihr auf, öffnete die Tür und wartete auf der Schwelle. Kurz darauf
tauchte sie mit einer Einkaufstüte vor der Brust auf der Treppe
auf. Sie trug einen gelben Anorak, der ihr nur bis zur Taille
reichte. Darunter schien sie ein smaragdgrünes Abendkleid zu
tragen. Der enge Rock des Kleids reichte ihr bis zu den Knöcheln
und hatte einen Schlitz an der Seite.
»Bin gleich wieder da«, sagte ich über die
Schulter.
»Lass dir Zeit, alter Mann«, antwortete
Kirkus.
Ich lief den Flur entlang. Während Eileen mir
entgegenkam, tauchte ihr linkes Bein aus dem Kleid auf, verschwand
wieder und schob sich erneut heraus. Sie trug offensichtlich keine
Strümpfe. Das Bein war nackt.
Als ich ihr die Einkaufstüte abnahm, legte sie eine
Hand auf meinen Hinterkopf, ich beugte mich zu ihr. Die Tüte wurde
zwischen uns eingeklemmt, das Papier zerknittert, der Inhalt
zusammengedrückt, ein paar Flaschen klimperten leise. Wir küssten
uns. Ihr Gesicht war kalt vom Wetter. Ich war vorsichtig mit ihren
Lippen, doch dann schlüpfte ihre Zunge in meinen Mund, und wir
legten uns richtig ins Zeug. Eileen stöhnte, und ich bekam einen
Ständer.
Viel zu schnell löste sie sich von mir. Ihre Lippen
und ihr Kinn waren feucht. Sie lächelte. »Das hat mir
gefehlt.«
»Mir auch.«
»Wir sollten Kirkus lieber nicht zu lange warten
lassen«, sagte sie. »Was ist los, ist er früher gekommen?«
»Eine halbe Stunde zu früh.«
»War es schön?«
»Oh ja.«
Ich trug die Einkäufe über den Flur. Eileen ging
neben mir und sagte: »Ein bisschen zu warm hier drin für die
Jacke.« Sie zog den Anorak aus. Ihr Kleid war tief ausgeschnitten;
ein V-förmiger Streifen nackter Haut reichte fast bis zur
Taille.
»Wow«, sagte ich.
Sie lächelte. »Gefällt es dir?«
»Du siehst fantastisch aus.«
Sie legte eine Hand auf meine Schulter und beugte
sich zu mir. Ihr Atem kitzelte mein Ohr, als sie flüsterte: »Wenn
Kirkus das gleiche Kleid trägt, fall ich tot um.«
»Du kleine Schlampe.«
Wir lachten beide, hörten aber auf, ehe wir an der
Tür zu meiner Wohnung waren.
Als wir eintraten, stand Kirkus auf.
»Hallo, Rudy«, sagte Eileen.
»Eileen. Heute sehen wir aber famos aus!« Er wippte
auf seinen Fußballen, legte den Kopf zur Seite und sagte: »Du bist
wohl auf dem Weg zum Abschlussball, was?«
»Ist nur ein altes Kleid«, sagte Eileen. »Freut
mich, dass du heute auch kommen konntest.«
»Ganz meinerseits.«
»Magst du Mexikanisch?«
»In welcher Hinsicht?«
»In Hinsicht auf Essen und Trinken«, sagte Eileen.
»Zum Beispiel Rindfleisch-Fajitas und meine berüchtigten hoochas
de los muertos.«
»Was ist das?«, fragte ich grinsend.
»Lass uns in die Küche gehen, dann zeig ich es
dir.«
Ich folgte Eileen mit Kirkus im Schlepptau in die
Küche und stellte die Einkaufstüte auf die Ablage. Eileen spähte
hinein und holte zunächst eine Literflasche Cuervo-Gold-Tequila und
dann eine etwas kleinere Flasche Triple Sec heraus.
Mit den Flaschen in Händen drehte sie sich um und
bemühte sich, ernst zu bleiben. »Man braucht das«, sagte sie, »und
das. Ein Glas, etwas Eis und viel davon.« Sie schüttelte die
Tequilaflasche. »Dann noch ein bisschen hiervon.« Sie schüttelte
den Triple Sec. »Gut mit einem Sargnagel verrühren.«
»Mit einer Zigarette verrühren?«, fragte ich.
»Unsinn. Mit dem Nagel eines Sargdeckels.«
»Ah. Leider habe ich gerade keine da.«
»Dann werden wir auf einen Finger zurückgreifen
müssen. Aber macht euch keine Sorgen, ich erledige das. Ed, hol
doch mal die Gläser.«
Ich nahm drei Gläser aus dem Schrank. Eileen ließ
mich Eiswürfel hineinfüllen. Dann schickte sie Kirkus und mich ins
Wohnzimmer. »Zu viele Leute in der Küche! Ich komme in einer Minute
mit den Drinks.«
»Und nutzt die Zeit und Privatsphäre, um mit dem
Finger umzurühren?«, fragte Kirkus.
Lächelnd ließ sie ihren Zeigefinger in der Luft
kreisen.
»Sehr hygienisch«, sagte er.
»Der Alkohol tötet die Keime ab«, erklärte sie.
»Das weißt du doch, oder?«
Lachend verließ ich die Küche.
Kurz darauf hockten wir alle im Wohnzimmer um den
Tisch herum, tranken hoochas de los muertos und knabberten
Tortillachips mit Salsa. Eileen saß neben mir auf dem Sofa. Wann
immer sie sich über den Tisch beugte, hing das Oberteil ihres
Kleids durch, und ich konnte ihre rechte Brust sehen … sowie einen
Bluterguss an der Seite, den man nicht erkennen konnte, wenn sie
aufrecht saß.
Der Anblick der glatten hellen Brust mit dem blauen
Fleck erregte mich und erinnerte mich daran, was wir zusammen
durchgemacht hatten, sorgte dafür, dass ich mich ihr näher fühlte.
Aber er rief auch das Gefühl hervor, ein mieser Kerl zu sein.
Eileen war zu schön, zu klug und lustig und lieb, um zu verdienen,
dass ich mich nachts davonschlich und Casey suchte.
Zum Glück war ich mit meinem Drink und den
Gesprächen so beschäftigt, dass ich kaum dazukam, an mein
Hintergehen zu denken.
Als unsere Gläser leer waren, brachte Eileen sie in
die Küche. Sie kam mit neuen Drinks zurück. Ich gelobte mir, den
zweiten hoocha langsamer anzugehen. Es waren nur
alkoholische Getränke darin - ein Margarita ohne Limettensaft
sozusagen -, und ich war schon leicht beschwipst.
Mit dem Rücken zu Kirkus beugte sich Eileen vor und
stellte die beiden Gläser auf den Tisch. Der Stoff ihres Kleids
hing herab, und ich konnte ihre linke Brust sehen. Sie schaukelte
leicht hin und her. Der Nippel war aufgerichtet. Ihr Lächeln
verriet, dass sie genau wusste, welchen Anblick sie mir bot. Ohne
sich aufzurichten, fragte sie: »Soll ich noch mehr Chips
bringen?«
»Ich kann aufstehen und welche holen.«
»Nein, nein, bleib, wo du bist. Ich hole sie.« Sie
richtete sich auf und wandte sich zu Kirkus. »Wie geht’s dir,
Rudy?«
Er grinste. »Tipptopp.«
»Reichst du mir mal mein Glas?«, fragte sie
mich.
Es war noch nicht ganz leer. Ich nahm es und gab es
ihr.
»Gracias«, sagte sie.
»De nada«, entgegnete ich und fragte mich im selben
Moment, ob ich auf Spanisch oder auf Französisch geantwortet hatte.
Eigentlich sollte das nicht so schwierig sein; ich hatte doch erst
ein Glas getrunken.
Während Eileen in die Küche ging, überlegte ich,
was »bitte« auf Französisch hieß. De nada? Oder war das Spanisch,
so wie ich es beabsichtigt hatte? Dann dachte ich an Hemingway.
»Nada unser, der Du bist im nada.« Also war es Spanisch. Oder auch
nicht. Er war immerhin ständig in Paris gewesen.
»Fehlt dir was, alter Knabe?«, fragte Kirkus.
Er war so ungefähr der Letzte, dem ich mein
Gedankenchaos anvertrauen würde. »Eileen fehlt mir. Und ihre
Chips«, sagte ich und bemühte mich um eine deutliche
Aussprache.
»Das habe ich gehört.« Eileen kam mit der Chipstüte
aus der Küche zurück. »Was denn jetzt, die Chips oder ich?«
»Du natürlich«, sagte ich.
»Wenn du das sagst«, meinte sie und beugte sich wie
vorher über den Tisch, um Chips in die Schüssel zu schütten. Genau
wie vorher starrte ich auf ihre Brüste. »Kann ich sonst noch was
für euch tun?«, fragte sie in gebückter Haltung. Ich sah ihr in die
Augen. Sie wirkte äußerst zufrieden mit sich.
»Du treibst den armen Jungen in den Wahnsinn«,
sagte Kirkus. Obwohl er nicht sehen konnte, was ich sah, hatte er
offenbar gemerkt, was vor sich ging.
Eileen grinste breit. »Stimmt das?«, fragte sie
mich.
»Mir geht’s gut«, sagte ich.
»Schön.« Sie richtete sich auf. »Jetzt müsst ihr
beide eine Weile ohne mich auskommen. Meine Fajitas rufen mich.
Sagt einfach Bescheid, wenn ihr was braucht.« Sie wandte sich zur
Küche.
Ich wollte nicht, dass sie ging. »Kann ich dir
helfen?«
»Nein, danke. Du bleibst hier und unterhältst
unseren Gast.«
»Vielleicht findest du manche Sachen nicht.«
»Wenn ich nicht weiterkomme, ruf ich dich.« Sie
ging in die Küche. Ein paar Augenblicke später wurde ihr Geklapper
von Willie Nelson und Ray Charles begleitet. Sie sangen »Seven
Spanish Angels«.
Ich trank einen Schluck und grinste Kirkus an.
»Tolle Musik«, sagte ich.
»Was mal wieder deinen schlichten Geschmack
beweist, mein Freund.«
»Leck mich am Arsch.«
»Sag nichts, was du nicht wirklich meinst.«
Ich lachte und schüttelte den Kopf. »So weit
kommt’s noch.«
»Die Dame, wie mich dünkt, gelobt zu viel«,
zitierte er.
»Ich bin keine Dame.«
»Ah, vive la différence.«
Obwohl ich den französischen Ausspruch verstand
(oder war es Spanisch? - diese verfluchten hoochas de los
muertos!), war ich nicht sicher, was er damit meinte. Ich
blickte ihn mit gerunzelter Stirn an.
»Tu nicht so, als würdest du es mir übelnehmen. Du
fühlst dich geschmeichelt.«
»Hä? Wieso geschmeichelt?«
Kirkus beugte sich zu mir und sagte leise: »Und das
solltest du auch, da du hier in deiner Wohnung zwei
wunderbare Menschen beherbergst, die dich am liebsten mit Haut und
Haaren auffressen würden.«
Einen schrecklichen Moment lang schoss mir durch
den Kopf, dass Eileen und Kirkus mir eine Falle gestellt hatten und
mich zum Abendessen verspeisen wollten. Nach dem, was ich
Mittwochnacht unter der Brücke gesehen und von Casey gehört hatte,
schien es nicht allzu weit hergeholt.
Sicher.
Natürlich wusste ich, worauf Kirkus
hinauswollte.
»Denk nicht mal dran«, ermahnte ich ihn.
»Ich kann wohl kaum widerstehen, daran zu
denken, mein Freund. Du bist wirklich zum Anbeißen.«
»Hör auf damit, ja?«
»Ach, entspann dich. Ich habe nicht vor, mich auf
dich zu stürzen. Schließlich bin ich immer noch ein Gentleman. Ich
habe mich nie jemandem aufgedrängt.«
»Freut mich zu hören.«
»Aber wenn du mich willst, musst du nur pfeifen. Du
weißt, wie man pfeift? Man spitzt einfach die Lippen und …«
»He, jetzt reicht’s.«
Eileen kam aus der Küche. Sie trug meine einzige
Schürze - ich selbst hatte sie noch nie umgebunden. »Eddie, kommst
du mal und räumst den Tisch ab?«
»Gerade nochmal davongekommen«, sagte ich.
Kirkus grinste. »Du bist entschuldigt.«