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»Das ist vermutlich weit genug«, sagte Lois. Wir
hatten die Stadt hinter uns gelassen - es gab keine Laternen und
kaum noch Häuser am Straßenrand. Es zweigten keine asphaltierten
Seitenstraßen mehr ab. Wir fuhren durch den Wald. Hin und wieder
führte eine unbefestigte Straße in die Dunkelheit.
»Wahrscheinlich ist er nicht so weit gefahren«,
stimmte ich ihr zu. Wenigstens hoffte ich das.
Es waren keine anderen Scheinwerfer in Sicht, also
fuhr Lois langsamer, kam beinahe zum Stehen und wendete. Kurz
nachdem wir erneut die Stadtgrenze überquerten, erreichten wir eine
Kreuzung. Lois bog rechts ab. »Hier sind kaum Häuser«, sagte sie.
»Aber vielleicht sollten wir sicherheitshalber trotzdem noch ein
Stückchen weiterfahren.«
»Einverstanden.«
Sie fuhr schnell. Wir hielten die Augen nach Randys
Pick-up auf. Nachdem wir einen guten Kilometer nach
Westen gefahren waren, bog Lois zweimal nach links ab, und wir
rasten zurück nach Osten auf die Franklin zu.
Ein paar Häuserblocks hinter der Franklin fuhr Lois
rechts, an der nächsten Kreuzung wieder rechts und wieder einen
Kilometer nach Westen, ehe wir zur nächsten Querstraße durchstachen
und zurück nach Osten fuhren.
Die ganze Zeit über hielten wir angestrengt
Ausschau.
Hin und wieder kamen wir an einem hellen Pick-up
vorbei. Die meisten parkten am Straßenrand oder in den Einfahrten
der Häuser. Manchmal konnte ich schon von weitem erkennen, dass ein
bestimmter Wagen nicht Randys sein konnte, doch gelegentlich musste
ich aussteigen und näher rangehen. Keiner war der Richtige. Es
handelte sich jedes Mal entweder um den falschen Hersteller oder um
ein älteres Modell, oder es gab irgendeine Besonderheit: einen
Aufkleber oder Dekorationen wie Würfel oder Collegeabzeichen oder
eine Koboldpuppe am Rückspiegel, irgendetwas jedenfalls, was
eindeutig nicht zu Randys Pick-up gehörte.
Zweimal sahen wir helle Pick-ups herumfahren. Einer
kam uns entgegen. Als wir auf einer Höhe waren, konnten wir
erkennen, dass der Fahrer ein stämmiger Mann mit Bart war. Der
andere näherte sich von hinten. Hinter der Fahrerkabine war eine
festmontierte Werkzeugkiste auszumachen.
Lois fuhr weiter. Wir blieben aufmerksam. Ich sah
mich nicht nur nach Randys Wagen, sondern auch nach Casey um.
Plötzlich fuhr ein Block vor uns ein Pick-up über
die Kreuzung.
»Hast du den gesehen?«, fragte ich.
»Ja.« Lois trat aufs Gas. »Konntest du ihn
einigermaßen erkennen?«
»Nein.«
»Spricht was dagegen, dass es seiner ist?«
»Soweit ich sehen konnte nicht. Er könnte es
sein.«
»Ich könnte nicht sagen, wie groß er war.
Du?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Schien jedenfalls weiß zu sein.«
»Wenn es Randys Wagen ist, warum kurvt er dann noch
durch die Stadt? Ich meine, er hat sie ja bereits
eingesackt.«
»Vielleicht sucht er dich«, sagte Lois und
fuhr schnell um die Ecke. Die Reifen quietschten. Ich kippte fast
zur Seite und hielt mich über meiner Schulter am Sicherheitsgurt
fest.
Als wir um die Kurve bogen, konnte ich in
ziemlicher Entfernung vor uns rote Rücklichter erkennen, nicht aber
das dazugehörende Fahrzeug. »Ich hoffe, er ist es«, sagte
ich.
»Das werden wir rausfinden.« Lois trat aufs
Gaspedal. An der nächsten Ecke hatten wir Vorfahrt und rasten über
die Kreuzung. Es war kein anderes Auto in Sicht. Lois beschleunigte
weiter. Wir holten auf.
Langsam konnte ich die groben Umrisse des Wagens
erkennen. »Es ist auf jeden Fall ein Pick-up.«
»Dachte ich mir schon.«
»Was, wenn er es tatsächlich ist?«
»In meiner Tasche stecken ein paar Pistolen.«
Die Ledertasche stand im Fußraum. Ich erinnerte
mich an ihr ungewöhnliches Gewicht.
»Zuerst müssen wir rausfinden«, sagte Lois, »ob er
es wirklich ist. Dann werden wir …«
Zwischen zwei parkenden Autos vor uns kam ein
Fahrrad auf die Straße gefahren.
»Scheiße!«, schrie Lois.
Im grellen Licht der Scheinwerfer drehte die alte
Frau uns ihr Gesicht zu und grinste.
Die Fahrradhexe!
Lois riss das Steuer herum.
Aber nicht rechtzeitig. Ich glaubte nicht, dass sie
es noch schaffen könnte. Die Fahrradhexe war so gut wie tot. Ich
stellte mir vor, wie sie über die Motorhaube auf mich zuflog, mit
dem Kopf voran, die umgedrehte Baseballkappe blieb auf ihrem
Schädel, ihr heimtückisches, schnurrbärtiges Gesicht schlug durch
die Windschutzscheibe …
Plötzlich war sie verschwunden.
Direkt vor uns stand stattdessen ein Auto. Ein
parkender Lieferwagen.
Wir knallten mit infernalischem Lärm in die Seite.
Ich spürte, wie ich nach vorn flog, aber ein Schlag gegen die Brust
warf mich zurück.
Durch das Klingeln in meinen Ohren hörte ich eine
Stimme. Es war Lois. Sie klang, als wäre sie zusammengeschlagen und
ein paarmal getreten worden. »Wenigstens hab ich sie nicht
erwischt.«
Ich ächzte.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie.
Ich hing in meinem Gurt auf dem Sitz. Vor mir
baumelte ein schlaffes Kissen aus der Ablage. Ein Airbag? Hatte der
mir gegen die Brust geschlagen?
Die Windschutzscheibe war unbeschädigt, aber die
Frontpartie von Lois’ Wagen war zerknautscht und hatte sich in die
eingedrückte Seite des Lieferwagens gebohrt. Dampf oder Rauch stieg
aus dem Motorraum auf. Ich hörte es zischen, knacken und
klirren.
Ich sah Lois an. »Ich glaub, mir ist nichts
passiert. Was ist mit dir?«
»Nur ein bisschen durchgeschüttelt. Du musst von
hier verschwinden.«
»Was?«
»Geh. Und nimm das Ding mit.«
»Welches Ding?« Meinte sie den Airbag?
»Die Tasche. Auf dem Boden.«
»Ach so.«
»Beil dich«, sagte sie.
Ich löste den Sicherheitsgurt und bückte mich nach
der Tasche neben meinen Füßen. Als ich sie hochhob und auf meinen
Schoß stellte, öffnete Lois ihre Tür.
»Los«, sagte sie und stieg aus. »Schnell. Lauf
weg.«
Ich stieß meine Tür auf. »Was ist los mit
dir?«
Sie beugte sich vor und sah zu mir in den Wagen.
»Ich kann nicht vom Unfallort weg. Aber du verschwindest. Los.
Gleich taucht die Polizei auf. Ich will nicht, dass sie sehen, was
in der Tasche ist.«
Plötzlich, endlich, begriff ich. Ich stieg mit der
Tasche aus, schlug die Tür zu und wandte mich zu Lois. Sie taumelte
zum Heck des Wagens. »Bist du sicher, dass du in Ordnung bist?«,
fragte ich.
»Komm her. Hilf mir.«
Ich lief hinten um das Auto herum. Sie schwankte
mir
entgegen, als könnte sie sich kaum auf den Füßen halten. Ihr Haar
war wirr, aber ich konnte weder Blut noch irgendwelche erkennbaren
Verletzungen entdecken. Die Bluse war ihr an einer Seite von der
Schulter gerutscht.
»Hilf mir zum Bürgersteig rüber«, sagte sie.
Ich legte einen Arm um sie. Sie stützte sich auf
mich, und ich führte sie von dem Autowrack weg.
Überall um uns herum liefen Leute aus den Häusern
in der Nähe ihre Verandatreppen hinunter und durch ihre Vorgärten.
Viele von ihnen waren im Bademantel. Einige Frauen hatten
Lockenwickler in den Haaren. Ich sah drei Leute, die mit ihren
Handys telefonierten.
Leise sagte Lois: »Du bist nach dem Unfall hier
vorbeigekommen. Du bist nichts als ein guter Samariter. Misch dich
unter die Leute und verschwinde, ehe die Polizei auftaucht.«
»Okay.«
»Ist noch jemand in dem Auto?«, rief ein Mann
irgendwo hinter mir.
»Nein, ich war allein«, sagte Lois.
Eine Frau mit einem Handy kreischte aus ihrem
Vorgarten: »Polizei und Krankenwagen sind unterwegs!«
»Ist jemand verletzt?«, fragte ein kräftiger Mann,
der von der anderen Straßenseite auf uns zugelaufen kam.
»Die Frau könnte verletzt sein«, antwortete
ich.
»Mir geht’s gut«, protestierte sie. »Ich bin nur …
durchgerüttelt worden.«
»Was ist mit dem Lieferwagen?«, fragte eine ältere
Frau. »Sitzt da einer drin?«
»Es sollte jemand nachsehen.«
»Der gehört mir«, sagte ein Mann. »Wenn da jemand
drin wäre, gäb’s Ärger. Wie zum Teufel ist das überhaupt
passiert?«
»Herman, das ist doch egal.«
»Meiner Versicherung ist das nicht egal. Hat jemand
gesehen, wie es passiert ist?«
Ein Chor von Stimmen antwortete: »Nein«, »Nichts
gesehen«, »Hab nur diesen schrecklichen Knall gehört.«
»Ich helfe Ihnen«, sagte ein Mann und eilte zu
uns.
»Hierher«, rief jemand anderes. »Kommen Sie
hierher.«
Ich ließ Lois los, und zwei Männer halfen ihr
hinüber zum Bürgersteig und legten sie ins Gras.
Aus der Ferne rief einer: »Hat schon jemand einen
Krankenwagen gerufen?«
Verschiedene Leute antworteten: »Ja«, »Ist
unterwegs«, »Schon erledigt.«
»Hat wirklich keiner was gesehen?« Der Mann klang
verärgert.
»Ach, sei still, Herman.« Das war anscheinend seine
Frau.
Auf dem Grünstreifen zwischen dem Bürgersteig und
der Straße hatte sich eine kleine Gruppe um Lois versammelt.
»Wo tut es weh?«, fragte jemand.
»Ein Krankenwagen ist unterwegs«, meinte jemand
anderes.
»Das wird schon wieder.«
»Versuchen Sie nicht, aufzustehen.«
»Bleiben Sie einfach ruhig liegen, Süße.«
»Irgendwas gebrochen?«
»Soll ich jemanden für Sie anrufen?«
»Der Krankenwagen ist bestimmt jeden Moment
da.«
»Ich hole ihr eine Decke.«
Der letzte Satz stammte von mir. Niemand sah mich
an, aber ich hörte ein paar Leute sagen: »Gute Idee.« Während ich
über die Straße eilte und die Ledertasche an meiner Seite hin und
her schwang, wurden die Stimmen leiser.
Als ich die Sirenen hörte, war ich bereits mehr als
einen Häuserblock vom Unfallort entfernt.