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»Wohnst du noch in der Church Street?«, fragte
sie.
»Ja.«
Letztes Jahr war Eileen aus dem einen oder anderen
Grund öfter dort gewesen, was aber immer mit Holly zu tun gehabt
hatte. Sie hatte Holly häufig bei mir abgesetzt oder sie abgeholt.
Bei verschiedenen Gelegenheiten hatten wir uns auch in kleiner
Runde getroffen.
Eileen und ich waren hin und wieder unter uns
gewesen, zum Beispiel, wenn wir zu dritt beisammen waren und Holly
im Bad verschwand oder irgendwelche Besorgungen machte. Es hatte
sich nichts zwischen uns abgespielt. Falls Eileen sich zu mir
hingezogen fühlte, behielt sie es für sich.
Und obwohl sie sehr hübsch war und ich sie als
Mensch gern mochte, hatte ich nie etwas von ihr gewollt. Bis auf
ihr schnellstmögliches Verschwinden, um mich mit Holly vergnügen zu
können.
»Wohnst du noch in denselben Räumen?«
»Ja.«
»Stört dich das nicht?«
»Was?«
»Die vielen Erinnerungen.«
»Kann sein.«
Kann sein? In den letzten Wochen des
vergangenen Studienjahres hatte Holly praktisch bei mir gewohnt.
Jetzt löste jede Ecke jedes Zimmers und jedes Möbelstück süße,
traurige Erinnerungen an sie aus. Obwohl sie sich leibhaftig
woanders rumtrieb (in Jays Bett?), spukte sie durch meine
Wohnung.
»Sie wollte dieses Semester bei mir einziehen«,
sagte ich.
»Ich weiß. Hast du mal darüber nachgedacht, dir was
anderes zu suchen?«
»Zu viel Aufwand. Ist ja auch nicht so
wichtig.«
»Die ganzen Dinge, die an sie erinnern …«
»Das Leben geht weiter.«
Ich kann eine Menge Klischees vom Stapel lassen,
wenn ich nichts zu sagen habe.
Diese Antwort brachte die Unterhaltung ziemlich zum
Erliegen, bis wir die Church Street erreichten. In der Straße gab
es tatsächlich mehrere Kirchen. Eine davon befand sich unmittelbar
neben dem zweigeschossigen Ziegelgebäude, in dem ich wohnte.
»Das würde schon reichen, damit ich
ausziehen würde«, kommentierte Eileen den Anblick der Kirche.
»Mich stört es nicht besonders.«
»Ich weiß. Mir würde es Angst einjagen.«
»Vielleicht weil du eine Heidin bist.«
Sie lachte. »Oder weil ich keine bin.« Sie hielt am
Straßenrand vor meinem Haus. Mit der Hand am Zündschlüssel fragte
sie: »Was dagegen, wenn ich kurz reinkomme?«
»Ich … äh …« Ehe ich eine Entscheidung treffen
konnte, unterbrach mich Eileen.
»Ich muss dringend zur Toilette. Entschuldigung.
Ich hätte im Donutshop gehen sollen, aber …«
»Nein, schon okay. Komm mit hoch.«
»Danke.« Sie schaltete Scheinwerfer und Motor aus
und zog den Schlüssel aus der Zündung. »Ich beeil mich«, sagte sie.
»Versprochen.«
»Kein Problem.«
Wir gingen zum Eingang. Ich schloss die Tür auf und
drückte sie vorsichtig hinter uns wieder zu. Im Inneren herrschten
Stille und der Geruch von kaltem Zigarettenrauch.
Wortlos durchquerten wir mit leisen Schritten den
Flur und näherten uns der Wohnungstür der Vermieter.
Normalerweise stand sie offen.
Die Vermieter, Mr. und Mrs. Fisher, saßen meist vor
dem Fernseher. Aber sie taten nur so, als sähen sie fern. In
Wahrheit beobachteten sie den Flur vor ihrer Wohnung, der zur
einzigen Treppe führte. Sie schienen eine unstillbare Neugier zu
pflegen, was das Kommen und Gehen
ihrer Mieter betraf. Ich wusste, dass sie begeistert wären, mich
zu dieser Uhrzeit mit Eileen zu erwischen.
Aber offenbar war es zu spät für sie. Die Tür war
geschlossen. Als wir daran vorbeischlichen, konnte ich nicht einmal
den Fernseher hören.
Ich rechnete halb damit, dass die Tür auffliegen
würde, während wir die Treppe hinaufstiegen, aber nichts geschah.
Schließlich erreichten wir den Absatz, bogen um die Ecke und nahmen
die letzten Stufen in Angriff.
»In Sicherheit«, flüsterte ich.
Eileen grinste.
Auch wenn wir von den Fishers nicht mehr viel zu
befürchten hatten, widerstrebte es mir, zu dieser späten Stunde in
dem stillen Gebäude zu sprechen. Schweigend kamen wir im ersten
Stock an und gingen über den Flur zu meiner Wohnungstür. Als ich
den Schlüssel ins Schloss steckte, spürte ich Eileen dicht hinter
mir, ohne dass sie mich tatsächlich berührte.
Sie folgte mir hinein.
Ein paar Lampen brannten. Ich hatte sie angelassen,
als ich zu meinem Spaziergang aufgebrochen war.
Ich schloss die Tür. Eileen legte eine Hand auf
meine Schulter und flüsterte: »Dauert nur eine Minute.«
»Du brauchst nicht mehr zu flüstern.«
»Okay«, sagte sie eine Spur lauter.
Dann nahm sie die Hand von meiner Schulter und
entfernte sich. Das Badezimmer ging von einem engen Korridor ab,
der zu meinem Schlafzimmer führte. Sie verschwand in dem Gang. Ein
paar Sekunden später wurde die Tür zugeschlagen.
Während ich auf sie wartete, sah ich mich schnell
in der Wohnung um. Ich war nicht auf Besuch vorbereitet. Im
Wohnzimmer herrschte ein Durcheinander aus Büchern, Zeitschriften,
Notizbüchern, Stiften und anderem Zeug. Immerhin war es nicht
schmutzig. Unordnung machte mir nichts aus, aber ich gab mir Mühe,
meine Wohnung einigermaßen sauber zu halten. Für die Unterkunft
eines allein lebenden männlichen Studenten, der sich das letzte
Wochenende in seiner Verzweiflung gesuhlt hatte, sah es gar nicht
mal übel aus.
Ich konnte hören, wie Eileen pinkelte.
Es war also nicht nur ein Vorwand gewesen.
Ich ging zum Wohnzimmertisch, fand die
Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein.
Ein Werbespot für Kondome: »… Sicherheit und
Vergnügen gehören zusammen.«
Ich schaltete um. In einem alten Schwarz-Weiß-Film
rannte Lon Chaney Jr. durch den Wald. Aus seinem verängstigten und
schuldbewussten Gesichtsausdruck schloss ich, dass es sich um
Der Wolfsmensch handelte.
Die Toilettenspülung wurde betätigt.
Ich legte die Fernbedienung weg und sah dem armen,
verfluchten Lawrence Talbot zu.
»Läuft was Gutes?«, fragte Eileen, als sie ins
Wohnzimmer kam.
»Alle guten Sachen laufen zu dieser Zeit - in
mitternächtlich toter Öd.«
»Wo Kirchhöf’ gähnen«, ergänzte sie das
Twain-Zitat. Dann gähnte sie selbst.
Auch ich gähnte.
Ansteckend.
»Tja«, sagte sie, »dann geh ich jetzt mal. Danke,
dass ich die Toilette benutzen durfte.«
»Danke fürs Mitnehmen.«
»War mir ein Vergnügen.« Sie ging zur Tür, doch
statt sie zu öffnen, lehnte sie sich mit dem Rücken dagegen und
blieb mir gegenüber stehen. Dann streckte sie die Hand aus und
strich mir über das Gesicht. »Kommst du klar?«
»Sicher.«
»Wirklich?«
Ich zuckte die Achseln.
»Ich bin mir da nicht so sicher«, sagte
Eileen. Sie nahm ihre Hand von meinem Gesicht, sah mir aber weiter
in die Augen. Ihr Blick war eindringlich und ernst. »Deshalb bin
auch raus zu Dandi Donuts gefahren. Du hast so einen …
verlorenen Eindruck gemacht.«
»Das ist der passende Ausdruck.«
»Ich will, dass es dir gutgeht, Ed.«
»Danke«, murmelte ich.
»Weil ich weiß, wie das ist.«
»Ja.«
»Jemanden zu verlieren, den man liebt.«
Ich nickte.
»Es ist hart. Es fühlt sich an wie das Ende der
Welt.«
»So in der Art.«
»Aber das stimmt nicht. Es ist nicht das Ende der
Welt. Das Leben geht weiter. Auch wenn es wehtut, machst du einfach
weiter. Und dann passieren auch wieder gute Dinge. Der Schmerz
wirkt nach, aber es gibt wieder Positives. Und irgendwann vergisst
du den Schmerz.«
»Wenn du es sagst.«
»Ja. Und ich meine es auch so.«
Und dann kam sie auf mich zu, legte ihre Arme um
mich und küsste mich. Ihr Mund schmeckte nach Lippenstift, Kaffee
und Donuts. Sie strich mit den Händen über meinen Rücken. Ich
spürte durch unsere Kleidung, wie sie ihre Brüste an mich drückte.
Dann schob sie ihre Hände unter die Rückseite meines Hemds, also
ließ auch ich meine Hände unter ihr Hemd gleiten. Die Haut ihres
Rückens war warm und weich, von der Taille bis zu den
Schultern.
Wo ist ihr BH geblieben?
Sie musste ihn im Bad ausgezogen haben.
Sie hat es geplant!
Ich fragte mich flüchtig, wie viel sie geplant
hatte und wie viel spontan geschehen war. Ein wenig ärgerte ich
mich darüber, hereingelegt und manipuliert worden zu sein. Mir war
vage bewusst, dass ich den Dummheiten ein Ende bereiten und sie
freundlich hinausbitten sollte.
Doch die glatte, weiche Nacktheit ihres Rückens
führte mir vor Augen, dass sie auch vorn nackt unter dem Hemd
war.
Sie hätte ihren BH nicht ausgezogen, wenn sie nicht
gewollt hätte, dass ich sie dort berührte. Deshalb erkundeten meine
Hände schon bald ihre prallen weichen Brüste. Sie waren größer als
Hollys. Als ich an den Brustwarzen spielte, stöhnte sie in meinen
Mund und erschauderte.
Dann löste sie meinen Gürtel. Sie öffnete den
Hosenknopf, zog den Reißverschluss herunter und schob ihre Hand in
meine Unterhose. Ihre Finger umschlossen mich sanft und kühl.
Ich folgte dem Beispiel und öffnete ihre
Jeans.
Sie trug keine Unterwäsche.
Ich musste zu lange gezögert haben, denn sie
flüsterte: »Fass mich an.«
Also drang ich mit meiner Hand vorne in ihre Hose.
An der Rückseite meiner Finger spürte ich, dass der Jeansstoff
feucht war.
»Komm schon«, stöhnte sie.
Ich glitt mit dem Finger in sie hinein. Sie war
nass und glitschig.
Und schon lag ich mit dem Rücken auf dem
Wohnzimmerteppich. Wir waren beide nackt, und Eileen hockte über
mir, die Knie neben meinen Hüften, ihre Hände umklammerten meine
Schultern, die Brüste schwangen hin und her, und sie hatte den Kopf
in den Nacken geworfen, während sie sich auf und ab bewegte, auf
und ab.
Wir lagen immer noch auf dem Fußboden, Eileen auf
mir. Wir schwitzten und waren außer Atem. Ich streichelte sanft
ihren Rücken.
Sie hob den Kopf und sah mir in die Augen. »Ich hab
dir doch gesagt, dass was Gutes geschehen wird.«
»Ich glaub, du hattest Recht.«
»Doch nicht das Ende der Welt?«
»Nö.«
»Freut mich zu hören.«
Dann stieg sie von mir herunter, sammelte ihre
Kleider ein und verschwand Richtung Bad. Nach ein paar Minuten kam
sie angezogen zurück. Sie hatte ihr Haar gebürstet.
Ihr Gesicht war noch gerötet, und in ihren Augen
lag ein glücklicher und benommener Ausdruck.
Ich stand auf und zog meine Jeans an.
Wir trafen uns an der Wohnungstür.
»Morgen bin ich ein Wrack«, sagte sie.
»Ich auch.«
Sie umarmte mich und gab mir einen kurzen Kuss.
»Ich muss los.«
Ich nickte. »Bis dann.«
»Sehen wir uns morgen?«
»Klar.«
Ich öffnete ihr die Tür und sah zu, wie sie
leichtfüßig und federnd durch den düsteren, stillen Flur ging. Sie
ließ ihre Arme schwingen. Ihr Haar tanzte durch die Luft. Ihre
Beschwingtheit erinnerte mich an das geheimnisvolle Mädchen. An der
Treppe drehte sie sich um und winkte.
Ich winkte zurück. Dann lauschte ich noch eine
Weile, um mich davon zu überzeugen, dass niemand sie im Treppenhaus
abfing.
Als ich hörte, wie die Haustür ins Schloss fiel,
wurde mir klar, dass ich sie nach unten zu ihrem Auto hätte
begleiten sollen.
Ihr wird schon nichts zustoßen, dachte ich.
Trotzdem war ich besorgt und eilte zum
Küchenfenster, von wo ich hinunter auf die Straße blicken konnte.
Ich sah, wie Eileen in ihren Wagen stieg und davonfuhr.
Danach stand ich noch lange einfach da und starrte
auf die verlassene Straße.
Ich versuchte zu verstehen, was gerade geschehen
war.
Aber vor allem fühlte ich mich leer und zufrieden.
Eileen
hatte mich überrascht, und ich machte mir ziemliche Sorgen
darüber, wo das alles hinführen sollte.