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Nach ein paar Stunden Schlaf, einer Dusche und
einer Tasse Kaffee verließ ich das Haus, um mein Acht-Uhr-Seminar
über romantische Literatur zu besuchen. Auf dem Bürgersteig kam mir
Eileen entgegen.
Zuerst erschrak ich kurz, doch sie wirkte fröhlich.
Als sie mich sah, lächelte sie, winkte und beschleunigte ihren
Schritt.
Es war ein windiger Herbstmorgen. Ihr volles Haar
wehte durch die Luft, ein paar Strähnen flogen ihr ins Gesicht.
Sie trug einen grünen Pullover, einen karierten Rock und grüne
Kniestrümpfe. Bei jedem Schritt wippten ihre Brüste unter dem
Pullover auf und ab. Der Wind drückte den Rock gegen ihre
Beine.
Sie sah wunderschön aus.
Bis auf ihr Gesicht. Obwohl auch das schon besser
aussah als bei unserer letzten Begegnung am vorigen Morgen. Es
klebten immer noch Pflaster über ihrer linken Augenbraue, auf dem
rechten Wangenknochen und am Kinn, aber ihr Auge und die Lippe
waren schon abgeschwollen. Man konnte auch keine blauen Flecken
sehen. Ich nahm an, dass sie die Stellen mit Make-up kaschiert
hatte.
»Guten Morgen«, sagte sie.
»Hallo.«
»Überrascht, mich zu sehen?«
»Ja.« Überrascht und verwirrt. Obwohl ich letzte
Nacht nur ein paar Stunden mit Casey zusammen gewesen war, kam mir
Eileen nun ein wenig fremd vor; größer, schwerer, älter, ruhiger
und reifer, gefestigter, weniger gefährlich und aufregend.
Sie hatte nichts bei sich außer der Handtasche, die
über ihrer Schulter hing. Als sie ihre Arme ausbreitete, stellte
ich meine Büchertasche ab. Wir umarmten uns. Sie drückte sich an
mich, und ich spürte ihre weichen Brüste. Ihre kalte Wange lag an
meinem Gesicht.
»Ich hab dich so vermisst«, sagte sie.
»Ich dich auch. Ich hab dich auch vermisst.«
Sie lockerte ihre Umarmung, zog ihren Kopf zurück
und küsste mich auf den Mund … eine sanfte Berührung,
um ihre aufgeplatzte Lippe zu schonen. Sie trat einen Schritt
zurück und sagte: »Ich wollte nur vorbeikommen und dich sicher zu
deinem Seminar geleiten.«
»Einverstanden.« Ich schulterte meine Tasche, und
wir gingen los. »Irgendwas Neues?«, fragte ich.
»Gar nichts. Es ist, als wäre Mittwochnacht gar
nichts passiert.«
»Hoffentlich bleibt es so.«
»Ich glaube selber schon fast, es wäre nichts
passiert. Nur, dass ich die Nachwirkungen spüre. Und sie auch sehe,
wenn ich in den Spiegel gucke.«
»Du siehst viel besser aus.«
»Du auch. Aber ich fühle mich immer noch
katastrophal.«
»Dich hat es viel schlimmer erwischt als mich«,
sagte ich und fragte mich wieder, ob sie nicht doch vergewaltigt
worden war.
»Das Schlimmste war, dass wir uns gestern nicht
treffen konnten. Ich hab es gehasst.«
»Ich auch.«
»Und ich bin zu der Ansicht gekommen, dass es
eigentlich sinnlos war. Ich meine, was haben wir zu
verbergen?«
»Einen Mord.«
»Du hast niemanden ermordet. Selbst wenn du den
Mann getötet hast, war es Notwehr. Aber anscheinend gibt es gar
keine Ermittlungen. Ich glaube nicht, dass sie überhaupt eine
Leiche gefunden haben. Aus Sicht der Polizei ist nichts passiert.
Deshalb glaub ich nicht, dass wir uns noch voneinander fernhalten
müssen.«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Wenn die Leute uns
zusammen
sehen, könnten sie auf den Gedanken kommen, dass wir unsere
Verletzungen gemeinsam abbekommen haben.«
»Wir haben unsere Baumgeschichten«, sagte sie. Sie
lächelte zwar, aber wirkte bekümmert. Offensichtlich hatte sie
damit gerechnet, dass ich ihrer neuen Erkenntnis zustimmen
würde.
Ich brauchte einen Augenblick, um mich an die
Baumgeschichten zu erinnern. »Ich bin gegen einen Baum gerannt, als
ich ein Frisbee fangen wollte, und du bist von einem
runtergefallen, als du ein Kätzchen retten wolltest?«
»Einen Drachen.«
»Ah, stimmt. Meine professionelle Meinung als
Amateurschriftsteller ist, dass die Geschichten schon für sich
genommen ziemlich lahm und unglaubwürdig sind. Wenn man sie
zusammenführt, glaubt sie kein Mensch mehr.«
»Meinst du wirklich, das spielt eine Rolle?«
»Es könnte wichtig werden, wenn die Leiche
auftaucht.«
»Vielleicht«, sagte sie. »Aber Kirkus hat uns
sowieso gesehen, direkt nachdem es passiert ist. Er weiß, dass wir
verprügelt wurden.«
»Er wird es nicht verraten.«
»Meinst du?«
»Wenn er glauben würde, ich hätte jemanden
umgebracht, würde er mich auf keinen Fall anzeigen. Er würde
vielleicht damit drohen, aber es nicht tun. Er würde sein Wissen
geheim halten und versuchen, mich damit zu manipulieren.«
Sie lächelte. »Meinst du wirklich?«
»Ziemlich sicher.«
»Warum zum Teufel sollte er das tun?«
»Er ist scharf auf mich.«
»Puh!«, stieß sie aus und lachte. Dann sagte sie:
»Du bist schrecklich.«
»Ja, vielleicht, aber ich glaub, ich habe Recht. Er
achtet darauf, dass er es nicht zu sehr zeigt …«
»Du meinst, er tarnt es durch offene
Feindseligkeit?«, schlug Eileen vor und nickte mir grinsend
zu.
»Genau.«
»So hab ich das noch nie gesehen. Ich habe ihn
immer nur als aufgeblasene Nervensäge betrachtet, aber es könnte
sein, dass du Recht hast.«
»Wenn es so ist, brauchen wir uns wahrscheinlich
keine Sorgen zu machen, dass er der Polizei einen Tipp gibt.«
»Außer vielleicht in einem eifersüchtigen
Wutanfall.«
»Nein.«
»Oder wenn sein Pflichtbewusstsein als braver
Bürger das Verlangen nach dir überwiegt.«
»Kann ich mir nicht vorstellen.«
»Jedenfalls spielt es keine Rolle«, sagte Eileen,
»da es keine Leiche und keine Ermittlungen gibt.«
»Noch nicht«, bemerkte ich.
»Ich glaube auch nicht, dass das geschehen wird.
Diese widerlichen Typen unter der Brücke müssen irgendwas gemacht
haben … die Leiche versteckt … oder begraben.«
»Oder sie haben sie komplett verschlungen«, warf
ich ein.
»Bis auf die Knochen.«
»Vielleicht sogar die. Hunde fressen Knochen auch
völlig auf.«
»Bäh.«
Als wir uns dem Campus näherten, füllten sich die
Straßen und Bürgersteige mit Studenten und Lehrkräften. Ich kannte
die meisten von ihnen. Bis jetzt schien aber noch niemand auf mich
oder Eileen aufmerksam geworden zu sein.
»Vielleicht sollten wir uns lieber trennen«, sagte
ich.
»Muss das sein?«
»Wenn wir zusammenbleiben, müssen wir bald
anfangen, Fragen zu unseren Gesichtern zu beantworten. Und das
gehört zu den Sachen, die sich die Leute merken und die sie
weitererzählen.«
»Ich glaub nicht, dass es was ausmacht.«
»Ich bin derjenige, der den Mann getötet
hat.«
»Das weißt du doch nicht mal.«
»Lass uns einfach auf Nummer sicher gehen. Okay?
Heute sollten wir noch Abstand halten. Es ist Freitag, wir haben
also das ganze Wochenende Zeit, die Wunden weiter heilen zu lassen,
ehe uns alle zusammen sehen.«
Wir blieben an der Ecke stehen.
Eileens Lächeln war verflogen. »Du meinst, wir
sollten uns bis Montag nicht sehen?«
»Vielleicht ist es besser so. Nur zur
Sicherheit.«
Stirnrunzelnd fragte sie: »Ist irgendwas nicht in
Ordnung?«
»Es war doch deine Idee, uns nicht zu treffen, bis
unsere Gesichter verheilt sind. Erinnerst du dich nicht mehr an
deine Nachricht?«
Sie nickte, aber sie wirkte nicht glücklich.
»Und wir haben gestern Abend darüber
gesprochen.«
»Ich weiß«, sagte sie.
»Ich dachte, wir wären uns einig, dass wir uns …
ich weiß nicht … ein paar Tage lang nicht zusammen
blickenlassen.«
»Ja, schon«, gab sie zu.
»Wenn wir also einfach bis Montag warten …«
»Aber zusammen gesehen werden ist nicht das
Gleiche wie zusammen sein. Wir können doch zusammen sein,
wenn niemand in der Nähe ist, der uns sieht, oder? Das würde doch
nichts gefährden.«
Nur mein nächtliches Treffen mit
Casey.
Ich bemerkte, dass ich mich auf gefährlichem
Terrain befand und sagte: »Du hast Recht.« Ich versuchte, ein
erfreutes Gesicht zu machen. »Es geht lediglich darum, nicht
zusammen gesehen zu werden. Also, was hältst du davon, später zu
mir nach Haus zu kommen?«
»Du klingst nicht gerade überzeugt.«
»Doch, klar. Ja! Das wäre toll. Wir müssen in der
Wohnung bleiben, aber …«
»Kein Problem.« Nun schien sie wieder fröhlicher.
»Ich mach dir einen Vorschlag: Ich bringe alles mit. Getränke,
Essen. Du musst nichts tun, nur da sein.«
»Super!«
»Wann soll ich kommen?«
Je früher, desto besser.
»Wie wär’s mit fünf?«
»Einverstanden. Bis später.« Lächelnd wirbelte sie
herum und entfernte sich mit großen Schritten. Ihr Haar und der
Rock wehten im Wind.
»Wirklich super«, murmelte ich.