43
Nach ein paar Stunden Schlaf, einer Dusche und einer Tasse Kaffee verließ ich das Haus, um mein Acht-Uhr-Seminar über romantische Literatur zu besuchen. Auf dem Bürgersteig kam mir Eileen entgegen.
Zuerst erschrak ich kurz, doch sie wirkte fröhlich. Als sie mich sah, lächelte sie, winkte und beschleunigte ihren Schritt.
Es war ein windiger Herbstmorgen. Ihr volles Haar wehte durch die Luft, ein paar Strähnen flogen ihr ins Gesicht. Sie trug einen grünen Pullover, einen karierten Rock und grüne Kniestrümpfe. Bei jedem Schritt wippten ihre Brüste unter dem Pullover auf und ab. Der Wind drückte den Rock gegen ihre Beine.
Sie sah wunderschön aus.
Bis auf ihr Gesicht. Obwohl auch das schon besser aussah als bei unserer letzten Begegnung am vorigen Morgen. Es klebten immer noch Pflaster über ihrer linken Augenbraue, auf dem rechten Wangenknochen und am Kinn, aber ihr Auge und die Lippe waren schon abgeschwollen. Man konnte auch keine blauen Flecken sehen. Ich nahm an, dass sie die Stellen mit Make-up kaschiert hatte.
»Guten Morgen«, sagte sie.
»Hallo.«
»Überrascht, mich zu sehen?«
»Ja.« Überrascht und verwirrt. Obwohl ich letzte Nacht nur ein paar Stunden mit Casey zusammen gewesen war, kam mir Eileen nun ein wenig fremd vor; größer, schwerer, älter, ruhiger und reifer, gefestigter, weniger gefährlich und aufregend.
Sie hatte nichts bei sich außer der Handtasche, die über ihrer Schulter hing. Als sie ihre Arme ausbreitete, stellte ich meine Büchertasche ab. Wir umarmten uns. Sie drückte sich an mich, und ich spürte ihre weichen Brüste. Ihre kalte Wange lag an meinem Gesicht.
»Ich hab dich so vermisst«, sagte sie.
»Ich dich auch. Ich hab dich auch vermisst.«
Sie lockerte ihre Umarmung, zog ihren Kopf zurück und küsste mich auf den Mund … eine sanfte Berührung, um ihre aufgeplatzte Lippe zu schonen. Sie trat einen Schritt zurück und sagte: »Ich wollte nur vorbeikommen und dich sicher zu deinem Seminar geleiten.«
»Einverstanden.« Ich schulterte meine Tasche, und wir gingen los. »Irgendwas Neues?«, fragte ich.
»Gar nichts. Es ist, als wäre Mittwochnacht gar nichts passiert.«
»Hoffentlich bleibt es so.«
»Ich glaube selber schon fast, es wäre nichts passiert. Nur, dass ich die Nachwirkungen spüre. Und sie auch sehe, wenn ich in den Spiegel gucke.«
»Du siehst viel besser aus.«
»Du auch. Aber ich fühle mich immer noch katastrophal.«
»Dich hat es viel schlimmer erwischt als mich«, sagte ich und fragte mich wieder, ob sie nicht doch vergewaltigt worden war.
»Das Schlimmste war, dass wir uns gestern nicht treffen konnten. Ich hab es gehasst.«
»Ich auch.«
»Und ich bin zu der Ansicht gekommen, dass es eigentlich sinnlos war. Ich meine, was haben wir zu verbergen?«
»Einen Mord.«
»Du hast niemanden ermordet. Selbst wenn du den Mann getötet hast, war es Notwehr. Aber anscheinend gibt es gar keine Ermittlungen. Ich glaube nicht, dass sie überhaupt eine Leiche gefunden haben. Aus Sicht der Polizei ist nichts passiert. Deshalb glaub ich nicht, dass wir uns noch voneinander fernhalten müssen.«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Wenn die Leute uns zusammen sehen, könnten sie auf den Gedanken kommen, dass wir unsere Verletzungen gemeinsam abbekommen haben.«
»Wir haben unsere Baumgeschichten«, sagte sie. Sie lächelte zwar, aber wirkte bekümmert. Offensichtlich hatte sie damit gerechnet, dass ich ihrer neuen Erkenntnis zustimmen würde.
Ich brauchte einen Augenblick, um mich an die Baumgeschichten zu erinnern. »Ich bin gegen einen Baum gerannt, als ich ein Frisbee fangen wollte, und du bist von einem runtergefallen, als du ein Kätzchen retten wolltest?«
»Einen Drachen.«
»Ah, stimmt. Meine professionelle Meinung als Amateurschriftsteller ist, dass die Geschichten schon für sich genommen ziemlich lahm und unglaubwürdig sind. Wenn man sie zusammenführt, glaubt sie kein Mensch mehr.«
»Meinst du wirklich, das spielt eine Rolle?«
»Es könnte wichtig werden, wenn die Leiche auftaucht.«
»Vielleicht«, sagte sie. »Aber Kirkus hat uns sowieso gesehen, direkt nachdem es passiert ist. Er weiß, dass wir verprügelt wurden.«
»Er wird es nicht verraten.«
»Meinst du?«
»Wenn er glauben würde, ich hätte jemanden umgebracht, würde er mich auf keinen Fall anzeigen. Er würde vielleicht damit drohen, aber es nicht tun. Er würde sein Wissen geheim halten und versuchen, mich damit zu manipulieren.«
Sie lächelte. »Meinst du wirklich?«
»Ziemlich sicher.«
»Warum zum Teufel sollte er das tun?«
»Er ist scharf auf mich.«
»Puh!«, stieß sie aus und lachte. Dann sagte sie: »Du bist schrecklich.«
»Ja, vielleicht, aber ich glaub, ich habe Recht. Er achtet darauf, dass er es nicht zu sehr zeigt …«
»Du meinst, er tarnt es durch offene Feindseligkeit?«, schlug Eileen vor und nickte mir grinsend zu.
»Genau.«
»So hab ich das noch nie gesehen. Ich habe ihn immer nur als aufgeblasene Nervensäge betrachtet, aber es könnte sein, dass du Recht hast.«
»Wenn es so ist, brauchen wir uns wahrscheinlich keine Sorgen zu machen, dass er der Polizei einen Tipp gibt.«
»Außer vielleicht in einem eifersüchtigen Wutanfall.«
»Nein.«
»Oder wenn sein Pflichtbewusstsein als braver Bürger das Verlangen nach dir überwiegt.«
»Kann ich mir nicht vorstellen.«
»Jedenfalls spielt es keine Rolle«, sagte Eileen, »da es keine Leiche und keine Ermittlungen gibt.«
»Noch nicht«, bemerkte ich.
»Ich glaube auch nicht, dass das geschehen wird. Diese widerlichen Typen unter der Brücke müssen irgendwas gemacht haben … die Leiche versteckt … oder begraben.«
»Oder sie haben sie komplett verschlungen«, warf ich ein.
»Bis auf die Knochen.«
»Vielleicht sogar die. Hunde fressen Knochen auch völlig auf.«
»Bäh.«
Als wir uns dem Campus näherten, füllten sich die Straßen und Bürgersteige mit Studenten und Lehrkräften. Ich kannte die meisten von ihnen. Bis jetzt schien aber noch niemand auf mich oder Eileen aufmerksam geworden zu sein.
»Vielleicht sollten wir uns lieber trennen«, sagte ich.
»Muss das sein?«
»Wenn wir zusammenbleiben, müssen wir bald anfangen, Fragen zu unseren Gesichtern zu beantworten. Und das gehört zu den Sachen, die sich die Leute merken und die sie weitererzählen.«
»Ich glaub nicht, dass es was ausmacht.«
»Ich bin derjenige, der den Mann getötet hat.«
»Das weißt du doch nicht mal.«
»Lass uns einfach auf Nummer sicher gehen. Okay? Heute sollten wir noch Abstand halten. Es ist Freitag, wir haben also das ganze Wochenende Zeit, die Wunden weiter heilen zu lassen, ehe uns alle zusammen sehen.«
Wir blieben an der Ecke stehen.
Eileens Lächeln war verflogen. »Du meinst, wir sollten uns bis Montag nicht sehen?«
»Vielleicht ist es besser so. Nur zur Sicherheit.«
Stirnrunzelnd fragte sie: »Ist irgendwas nicht in Ordnung?«
»Es war doch deine Idee, uns nicht zu treffen, bis unsere Gesichter verheilt sind. Erinnerst du dich nicht mehr an deine Nachricht?«
Sie nickte, aber sie wirkte nicht glücklich.
»Und wir haben gestern Abend darüber gesprochen.«
»Ich weiß«, sagte sie.
»Ich dachte, wir wären uns einig, dass wir uns … ich weiß nicht … ein paar Tage lang nicht zusammen blickenlassen.«
»Ja, schon«, gab sie zu.
»Wenn wir also einfach bis Montag warten …«
»Aber zusammen gesehen werden ist nicht das Gleiche wie zusammen sein. Wir können doch zusammen sein, wenn niemand in der Nähe ist, der uns sieht, oder? Das würde doch nichts gefährden.«
Nur mein nächtliches Treffen mit Casey.
Ich bemerkte, dass ich mich auf gefährlichem Terrain befand und sagte: »Du hast Recht.« Ich versuchte, ein erfreutes Gesicht zu machen. »Es geht lediglich darum, nicht zusammen gesehen zu werden. Also, was hältst du davon, später zu mir nach Haus zu kommen?«
»Du klingst nicht gerade überzeugt.«
»Doch, klar. Ja! Das wäre toll. Wir müssen in der Wohnung bleiben, aber …«
»Kein Problem.« Nun schien sie wieder fröhlicher. »Ich mach dir einen Vorschlag: Ich bringe alles mit. Getränke, Essen. Du musst nichts tun, nur da sein.«
»Super!«
»Wann soll ich kommen?«
Je früher, desto besser.
»Wie wär’s mit fünf?«
»Einverstanden. Bis später.« Lächelnd wirbelte sie herum und entfernte sich mit großen Schritten. Ihr Haar und der Rock wehten im Wind.
»Wirklich super«, murmelte ich.
Finster
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