20
Obwohl ich es nicht wahrhaben wollte, glaubte ich
ihr.
»Bist du sicher?«, flüsterte ich.
»Jaaa. Oh Gott.«
»Es passiert schon nichts.«
»Er hat an meinen Haaren gezogen … deshalb sind wir
gefallen.«
Jemand war bei uns in der Dunkelheit gewesen, so
nah, dass er nach Eileens Haar greifen konnte, so verstohlen und
leise, dass wir seine Anwesenheit nicht einmal erahnt hatten.
Die Angst trieb mir eine Gänsehaut über den Körper,
wie letzte Nacht, als der alte Mann auf der Veranda das Streichholz
angezündet hatte. Ich wäre am liebsten aufgesprungen und wie der
Teufel davongerannt.
Das ging aber nicht. Meine Unterhose hing mir um
die Knöchel, und Eileen unter mir war nackt.
Und verwundet? Sie war hart gestürzt, mit meinem
ganzen Gewicht auf ihr auf den Boden geknallt, und wer weiß, was
dort unter ihr lag.
»Bist du verletzt?«, fragte ich leise.
»Nicht so schlimm.«
»Blutest du?«
»Ja. Jedenfalls ein bisschen.«
»Wir müssen verschwinden.«
Irgendwo zu meiner Linken ertönten schnaufende
Geräusche, als lachte jemand leise durch die Nasenlöcher.
Eileen umklammerte mich, und ihre Schenkel
schlossen sich fester um meine Hüfte. Sie zitterte unter mir.
»Es wird schon nichts passieren«, flüsterte ich mit
den Lippen an ihrem Hals.
»Ich hab solche Angst.« Sie begann zu weinen.
Kleine Krämpfe schüttelten ihren Körper. Ihre Schluchzer klangen
schrecklich laut in der Dunkelheit.
»Pssst«, machte ich.
Und derjenige, der vorhin so zischend gelacht
hatte, machte es nach.
Und noch jemand, rechts von mir.
Eileen keuchte auf und versteifte sich.
In einem verborgenen Winkel meines Gehirns hatte
ich vermutet, dass der Fremde in der Düsternis Randy wäre, dass er
uns irgendwie dort hinunter gefolgt war. Ich hatte es befürchtet,
aber auf eine gewisse Art auch gehofft. Randy war abscheulich, aber
immerhin kannte ich ihn. Er hatte einen Namen und ein Gesicht … und
ich hatte ihn schon einmal verletzt.
Als ich dann das zweite »Pssst« hörte, wurde mir
klar, dass Randy nichts damit zu tun hatte. Außerdem erinnerte ich
mich an das Schweizer Armeemesser in meiner Tasche.
In der Jeans, die um meine Knöchel gewickelt
war.
»Wir gehen besser«, sagte ich an Eileens
Hals.
Sie hielt mich weiter eng umschlungen.
»Lass mich los«, flüsterte ich.
Obwohl ich so leise sprach, konnten die Fremden in
der Dunkelheit wahrscheinlich jedes Wort verstehen. Ich wollte das
Messer nicht erwähnen.
»Bitte«, sagte ich.
»Du willst wegrennen.«
»Nein. Lass mich einfach los.«
»Versprochen?«
»Ja, versprochen.«
Sie lockerte ihre Umarmung. Ich drückte mich mit
den Händen auf beiden Seiten ihres Körpers vom Boden ab.
Dann zog ich Jeans und Unterhose hoch und richtete
mich auf.
»Eddie?«, fragte Eileen.
»Ich bin hier.« Als ich meine Hose zumachte,
klimperte die Gürtelschnalle.
»Hol mir meine Klamotten«, sagte sie.
»Mach ich.« Aber zuerst griff ich in die
Hosentasche und zog mein Messer heraus. Ich nahm es in die linke
Hand, betastete die stumpfen Seiten der eingeklappten Klingen und
Werkzeuge und versuchte, die Rille einer Klinge mit dem Daumennagel
zu erwischen.
»Eddie?« Es war fast ein Quieken.
»Was?«
»Wo bist du?«
»Direkt hier.«
»Er berührt mich!«
Jemand rammte mich von rechts. Der Aufprall warf
mich herum und ließ mich seitwärts durch die Dunkelheit taumeln.
Ich stolperte über meine eigenen Füße, stürzte, als vollführte ich
einen Kopfsprung in seichtes Wasser, und schlug so hart auf den
Boden, dass ich weiterschlidderte.
Ein Stück hinter meinen Füßen schrie Eileen:
»Eddie! Hol ihn von mir runter!«
Ich hörte ein Klatschen, wie von einer Faust, die
auf nackte Haut trifft.
»Lass sie in Ruhe!«, brüllte ich.
Während ich mich auf die Beine kämpfte, bemerkte
ich, dass ich mein Messer verloren hatte. Ich musste es
wiederfinden. Ich ließ mich auf die Knie fallen und suchte mit den
Händen den Boden ab.
Eileen wimmerte … vor Schmerz und Angst.
Zum Teufel mit dem Messer.
Ich packte einen schweren scharfkantigen Stein,
größer als meine Hand, stand auf und lief in Richtung der
Geräusche, die Eileen und ihr Peiniger abgaben.
Die Laute erschütterten mich. Schluchzen und
Gekicher, Schläge und Klatschen, Schmerzensschreie, Luftschnappen,
gemurmelte Flüche, feuchtes Schlürfen, erregtes Grunzen.
Ich rechnete damit, jeden Moment selbst zu Boden
geworfen zu werden.
Aber dann erreichte ich den Ursprung der
Geräusche.
Ich war froh, dass ich nicht sehen konnte, was
Eileen angetan wurde oder wer es ihr antat.
Ich stürzte mich darauf.
Es war ein richtiger Haufen: ich oben, die
Angreifer unter mir, Eileen ziemlich sicher ganz unten.
Köpfe, Arme, Ärsche überall.
Mehr als zwei Angreifer. Drei? Vier? Ich wusste es
nicht.
Ich rückte ihnen mit meinem Stein zu Leibe.
Dieses Mal waren sie mit Schreien an der
Reihe.
Ich konnte sie nicht sehen, und sie konnten mich
nicht sehen. Vermutlich verletzten sie sich gegenseitig ebenso, wie
ich sie verletzte. Während der ein oder zwei Minuten, die der Kampf
dauerte, wurde ich mit Ellbogen und Fäusten geschlagen, gekratzt
und gebissen.
Dann befand sich niemand mehr zwischen mir und
Eileen. Ich lag keuchend auf ihrem ausgestreckten zuckenden Körper
und hielt den Stein umklammert. Wo ich sie mit meiner nackten Haut
berührte, war sie nass und klebrig.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich.
Weinend schüttelte sie den Kopf. Ich spürte die
Bewegung an meiner Wange.
»Lass uns hier verschwinden«, sagte ich.
»Wo … sind sie?«
»Weg. Ich weiß nicht. Ich glaub, sie sind
abgehauen.«
»Beeilen wir uns«, sagte sie.
Ich stieß mich vom Boden ab. Als ich vor ihr
kniete, griff ich nach ihren Handgelenken. »Kannst du dich
aufsetzen?«
Eileen begann, sich aufzurichten, und ich zog an
ihren Armen. Sie zuckte zusammen und wimmerte.
Kurz darauf waren wir beide auf den Beinen. Sie
stand noch wackelig, und ich musste sie stützen. »Ich trage dich«,
sagte ich.
»Meine Klamotten.«
»Lass uns hier verschwinden, ehe wir nochmal
überfallen werden.«
Ehe sie widersprechen konnte, ließ ich den Stein
fallen und schwang sie auf meine Arme. Sie war zu erschöpft oder
verletzt, um sich dagegen zu wehren. Ich trug sie gegen meine Brust
gedrückt auf die graue Öffnung der Unterführung zu.
Bei jedem Schritt rechnete ich damit, erneut
angegriffen zu werden.
Schließlich schleppte ich sie aus der Dunkelheit
hinaus. Für ein paar Sekunden waren wir auf der freien Fläche, wo
uns jeder sehen konnte, der zum Fluss hinunterblickte. Ich sah mich
nicht um, aber niemand rief nach uns.
Ich eilte mit Eileen in den Schatten der Bäume am
Ufer. Dort legte ich sie sanft ins Gras. Dann blickte ich mich
um.
»Sieht so aus, als wären wir in Sicherheit«,
flüsterte ich.
Sie drückte meine Hand.
Wir waren in Dunkelheit gehüllt, aber die Schwärze
war nicht undurchdringlich. Zum ersten Mal, seit wir uns unter die
Brücke gewagt hatten, konnte ich Eileen sehen. Ich hatte gedacht,
sie hätte zumindest noch ihr Hemd, aber es war verschwunden wie der
Rest ihrer Kleidung. Sie schien an einigen Stellen zu bluten.
»Kannst du sagen, ob du irgendwo eine starke
Blutung hast?«, fragte ich sie. »Ob eine Arterie getroffen wurde
oder so?«
»Nichts in der Art.«
»Bist du sicher?«
»Ich … tropfe nur hier und da ein bisschen.«
»Okay. Gut. Wir sollten jetzt, glaub ich, lieber da
raufgehen an einen sicheren Ort, dann such ich ein Telefon und
…«
»Wir haben meine Handtasche liegen lassen!«,
platzte sie heraus, als wäre es ihr plötzlich eingefallen.
»Oh, Scheiße«, sagte ich.
»Mein ganzes Zeug ist da drin.«
Ich nickte und zog mein Hemd aus. »Zieh das an.«
Ich reichte es ihr. »Ich bin sofort zurück.«
»Nein. Lieber nicht.«
»Wir können deine Handtasche nicht
zurücklassen.«
»Ich kann meine Kreditkarten sperren lassen und
…«
»Sie wissen dann, wer du bist … und wo du
wohnst.«
Mit sehr schwacher Stimme sagte sie: »Aber ich will
nicht, dass sie dich erwischen.«
»Ich beeil mich«, sagte ich. »Wenn jemand dir was
tun will, schreist du, okay? Schrei einfach oder kreisch, und ich
komme zurückgerannt.«
»Vielleicht sollten wir lieber Hilfe holen.«
Ich schüttelte nur den Kopf. Es gab keine Zeit zu
verlieren - auch nicht für Erklärungen -, wenn wir die Handtasche
zurückhaben wollten.
Ich wirbelte herum und rannte auf die Brücke zu.
Niemand befand sich darauf.
Als die Dunkelheit mich verschluckte, hörte ich auf
zu rennen. Ich versuchte, mich an vorhin zurückzuerinnern und den
gleichen Weg zu gehen, den ich mit Eileen genommen hatte.
Ich hörte niemanden.
Sie sind wahrscheinlich weggerannt, sagte ich mir.
Sie müssen davon ausgehen, dass die Polizei schon unterwegs
ist.
Ich ging in die Hocke und tastete den Boden ab. Ich
spürte feuchte Erde, Steine und Zweige.
Ich ließ mich auf alle viere hinab und kroch
vorwärts. Wenn ich nur Handschuhe getragen hätte. Nicht wegen der
Kälte, sondern der Dinge, die ich in der Dunkelheit berührte.
Einige waren spitz, andere breiig, einige hart, andere
schleimig.
Schließlich fand ich einen Schuh. Er fühlte sich an
und roch wie ein ziemlich neuer Turnschuh.
Nachdem ich mir die Hände an meiner Jeans
abgewischt
hatte, suchte ich in derselben Gegend weiter und fand den Rest:
Eileens zweiten Schuh, ihre Jeans, ihren BH und die Handtasche. Das
Höschen und ihr Hemd schienen nicht dort zu sein.
Ich sollte lieber von hier verschwinden, solange
es noch geht.
Aber ich mochte Eileens Hemd. Ich wollte nicht,
dass sie es verlor, und auf keinen Fall wollte ich, dass jemand
anderes ihren Slip fand.
In der Hoffnung, dass Eileen eine Taschenlampe
hatte, schob ich eine Hand in ihre Tasche und wühlte darin herum.
Ich ertastete ihre Brieftasche, verschiedene zylinderförmige
Gegenstände und kleine Schachteln, eine Bürste, ein kleines
Ringbuch und einige unidentifizierbare Dinge, die in Plastikfolie
oder Papier eingewickelt waren. Aber keine Taschenlampe.
Als ich tiefer grub, fand ich am Boden der Tasche
einen Schatz von losen Dingen: Kaugummis, Münzen, halb
aufgebrauchte Rollen von etwas, das sich anfühlte wie Weingummis,
zwei Kondome in Plastikhüllen, eine Sammlung von Kugelschreibern,
Bleistiften und Filzstiften, ein paar Zigaretten und ein Heftchen
Streichhölzer.
Ja!
Ich zog das Heftchen heraus, klappte es auf, riss
ein Streichholz ab und zündete es an. Der Kopf loderte auf, und die
Helligkeit schmerzte in meinen Augen. Für ein oder zwei Sekunden
war ich geblendet.
Als ich wieder sehen konnte, schrie ich auf.
In dem schwachen Licht des Zündholzes sah ich auf
dem Boden, nur eine Armlänge vor mir, einen nackten Fuß.