42
Wir gingen durch die Hintertür aus der Küche in den Garten. Nach der Dunkelheit im Haus schien die Nacht draußen geradezu hell. Wir standen auf der erhöhten Terrasse vor der Tür und sahen uns um.
Keine Spur von dem Mann, der uns verfolgt hatte.
Auch sonst war niemand zu sehen.
Wir stiegen die paar Stufen zum Garten hinunter und gingen um das Haus herum. An der vorderen Ecke blieben wir im Schatten stehen und warteten lange Zeit reglos.
Niemand in Sicht.
»Ich glaub, die Luft ist rein«, sagte ich.
»Sieht so aus.«
Weiterhin wachsam gingen wir zum Bürgersteig vor.
»Ich bleib noch eine Weile bei dir«, sagte Casey. »Dann machen wir besser Schluss.«
»Musst du noch woandershin?«
Sie nahm meine Hand. Wir gingen auf die nächste Kreuzung zu. »Ich habe einiges zu erledigen«, sagte sie. »An verschiedenen Orten.«
»So wie Mariannes Haus?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Marianne ist meine Freundin. Ich besuche sie, wenn sich die Gelegenheit ergibt.«
»Aber nicht oft genug.«
»Das Haus kam uns gelegen, oder?«
Ich nickte und fragte: »Sorgt sie dafür, dass die Tür für dich offen ist?«
»Das ist nicht nötig. Ihre Eltern schließen nie ab.«
»Und sie haben keine Ahnung, dass du dich hereinschleichst?«
»Nein, überhaupt nicht. Wenn sie es herausfänden, würden sie in Zukunft die Tür abschließen. Auch wenn mich das nicht aufhalten würde.«
»Du gehst auch rein, wenn die Türen abgeschlossen sind?«
Sie strahlte mich an. »Das ist meine Spezialität.«
»Du bist wirklich ein böses Mädchen.«
Ihr Lächeln bekam Risse. »Findest du?«
»Eigentlich nicht.«
»Gut. Ich nämlich auch nicht.«
»Wieso sind verschlossene Türen deine Spezialität?«
»Ich bin gut darin, sie zu öffnen.«
»Und in fremde Häuser einzudringen?«
»Die Leute schließen ihre Türen nicht ab, um mich fernzuhalten. Sie machen sich mehr Sorgen um Einbrecher und Mörder und andere Verkörperungen des Bösen.«
»Oder vielleicht wollen sie auch jeden aussperren, der nicht eingeladen ist.«
Wieder lächelte sie mich an. »Möglicherweise würden sie mich einladen, wenn sie mich kennen würden.«
»Da bin ich sicher.«
»Marianne ganz bestimmt.«
»Aber nicht ihre Eltern.«
»Wohl kaum. Man kann nicht jedem gefallen, und ich versuch es auch gar nicht erst. Das ist das Schöne, wenn man nachts durch die Gegend zieht: Man ist meistens auf sich selbst gestellt und muss sich nicht um andere Leute kümmern. Man kann sie beobachten. Man kann sich vor ihnen verstecken. Man kann sie sogar ziemlich gut kennenlernen, wenn man will, und das, ohne dass sie einen selbst kennen.«
»Als wäre man unsichtbar.«
»Genau.«
»Und deshalb hast du dir angewöhnt, in die Häuser der Leute zu schleichen?«
Ihr Lächeln verflüchtigte sie. »So was soll eben einfach vorkommen.«
»Warum tust du es?«
»Warum nicht?«
»Es ist verboten. Es ist gefährlich.«
»Es ist aufregend.«
»Ist das der Grund?«, fragte ich.
»Ich mach es einfach. Es gefällt mir, und ich mache es. Du hast es heute Nacht selbst getan. Was hast du dir dabei gedacht?«
»Ich hab gedacht, du würdest da wohnen. Du hast sogar gesagt, es wäre dein Haus.«
Sie drückte meine Hand. »Das war in übertragenem Sinne gemeint, du Genie.«
»Wie kann einem das Haus eines andern in übertragenem Sinne gehören?«
Ohne nachzudenken sagte sie: »Während ich drin bin, ist es so, als gehörte es mir.«
»Das ist an den Haaren herbeigezogen.«
»Vielleicht.«
Plötzlich kam mir ein Gedanke und erfüllte mich mit Sorge und Mitleid. »Hast du überhaupt ein Zuhause?«
»Wieso fragst du das?«
»Du streunst die ganze Nacht durch die Gegend und gehst in die Häuser von fremden Leuten.«
»Bedeutet das für mich, kein eigenes Zuhause zu haben?«
»Wäre möglich.«
»Muss aber nicht so sein.«
»Also, wo wohnst du?«
»Wo immer ich will«, sagte sie ernst.
»Du hast keinen Platz?«
»Doch, natürlich.«
»Ich meine einen eigenen, festen Platz. Nicht das Haus eines anderen. Ein Haus oder eine Wohnung oder so, wo du richtig wohnst.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht.«
»Ich hab den Eindruck, eher nicht.«
»Meinst du?«
»Wo sind deine Eltern?«, fragte ich.
»Wer sagt, dass ich welche habe?«
»Bist du Waise?«
»Dann wären sie gestorben.«
»Also hast du Eltern.«
»Irgendwo.«
»Aber nicht hier?«
»Jetzt frag ich dich mal was«, sagte sie.
»Okay.«
»Willst du mich morgen Nacht wiedersehen?«
»Klar.«
»Warum?«
»Warum? Weil …« Sei vorsichtig, warnte ich mich. »Ich bin gern mit dir zusammen.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht. Weil du interessant bist. Und lustig.«
»Ist Eileen nicht interessant und lustig?«
»Schon. Aber nicht so wie du.«
»Aber sie ist deine Freundin. Das hast du selbst gesagt. Willst du morgen Nacht nicht mit ihr zusammen sein?«
»Welche Nacht meinst du? Es ist schon Freitagmorgen …«
»Für mich ist immer noch Donnerstagnacht.«
»Wann wird es Freitag?«
»Bei Sonnenaufgang.«
»Also meinst du mit ›morgen Nacht‹ Freitagnacht?«
»Genau.«
»Da hab ich noch nichts vor.«
»Was ist mit Eileen? Solltest du an einem Freitagabend nicht deine Freundin treffen?«
Oh, Mann. Sie lässt nicht locker.
»Wir haben vereinbart, uns ein paar Tage nicht zu sehen.«
»Wieso?«
Ich wollte Casey die Wahrheit sagen. Ihr zu erklären, dass ich angegriffen worden war und wahrscheinlich einen Mann getötet hatte und was sonst noch alles Mittwochnacht geschehen war, hätte ich hinbekommen; mein wirkliches Problem bestand darin zuzugeben, dass ich mit Eileen unter die Brücke gegangen war, um mit ihr zu schlafen.
»Ich glaub, ich hab schon erwähnt, dass sie sich nicht besonders fühlte, oder?«
Casey nickte.
»Es ist wahrscheinlich nichts Ernstes, aber sie will nicht, dass ich mich anstecke. Deshalb werden wir uns morgen bestimmt nicht treffen.«
»Bist du sicher, dass ihr keinen Streit hattet?«
Ich runzelte die Stirn und antwortete nicht.
»Du siehst nämlich aus, als hättest du dich mit jemandem geschlagen.«
Ich wäre beinahe zusammengezuckt. Die Prellungen und Kratzer in meinem Gesicht hatte ich ganz vergessen. »Ach das«, sagte ich.
»Du hast sie doch nicht verprügelt, oder?«
»Nein!«
»Was ist mit dir passiert?«
Um Zeit zu gewinnen, zuckte ich mit den Schultern. Dann fiel mir etwas ein. »Ich kenn da einen Typen, Kirkus. Er ist ein echter Vollidiot.« Bis jetzt hatte ich noch nicht gelogen. »Wir arbeiten beide bei der Literaturzeitschrift der Uni mit. Ein paarmal im Monat treffen wir uns, um die Geschichten und Gedichte zu lesen, die die Leute einreichen. Jedenfalls hat Kirkus meine Geschichte gelesen und …«
»Du hast eine Geschichte geschrieben?«
»Ja. Also, Kirkus hat sie gelesen und meinte, sie wäre beschissen. ›Unbeholfen und angeberisch, voller sinnloser Gewalt und überflüssigem Sex‹, hat er gesagt. Also habe ich ihn einen engstirnigen, schnöseligen Analphabeten genannt, und so hat eins zum anderen geführt.« Das entsprach immer noch der Wahrheit. »Dann habe ich irgendwas gesagt, was ihn wirklich geärgert hat, und er hat mir ins Gesicht geschlagen. Daraufhin habe ich zurückgeschlagen.« Ich grinste und schüttelte den Kopf. »Es war alles ziemlich dämlich. Wir haben aufeinander eingeprügelt und beide ein paar blaue Flecken kassiert. Keine große Sache.«
Alles war wahr.
Aber es war im letzten Mai geschehen.
»Also hast du dich nicht mit Eileen geprügelt?«
Was ist, wenn Casey sie sieht?
 
»Nein«, sagte ich. »Wir hatten noch nie richtig Streit.«
»Hast du schon mal Frauen geschlagen?«
»Wenn du Kirkus nicht mitzählst, nein.«
»Ich dachte, er wäre ein Mann.«
»Das weiß man nicht so genau. Jedenfalls liegt Eileen flach, weil sie leichtes Fieber hat. Vielleicht eine Grippe.«
»Und was ist, wenn sie gesund wird?«
Ich nahm mir einen Moment Zeit, um mir eine gute Antwort zu überlegen. Dann sagte ich: »Sie geht sowieso spätestens um elf oder zwölf ins Bett. Und sie wohnt im Wohnheim, nicht bei mir. Ich kann also ausgehen, wann ich will.«
»Heimlich?«
»Sie muss nicht alles wissen, was ich so tue. Wir sind nicht … verlobt oder so. Eigentlich sind wir überhaupt noch nicht so lange zusammen.«
»Wie lange?«
Seit Montagnacht. Und nach Caseys Rechnung war nun Donnerstagnacht.
»Also«, sagte ich, »wir kennen uns seit letztem Frühling, aber vor diesem Semester waren wir noch nicht zusammen.«
»Deshalb ist es also in Ordnung, sich hinter ihrem Rücken mit einer anderen zu treffen?«
»Ich habe mich ja nicht mit dir verabredet. Wir sind uns über den Weg gelaufen … vor ein paar Stunden oder so.«
»Aber morgen Nacht treffen wir uns, oder?«
»Hoffentlich.«
»Wirst du Eileen das erzählen?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Also triffst du mich doch hinter ihrem Rücken.«
»Ja, aber wir machen ja nichts.«
»Wir machen schon etwas
»Also, ja, aber nichts …«
Casey kam zu mir, schlang die Arme um mich und küsste mich auf den Mund. Ich umarmte sie ebenfalls. Wir drückten uns fest aneinander. Ich konnte ihre Brüste und ihre Rippen spüren, ihren Bauch an meinem, den Schamhügel, der sich gegen meinen Unterleib presste.
Ihr Mund löste sich von meinen Lippen. »Machen wir jetzt etwas?«
»Allerdings.«
»Nur damit du Bescheid weißt«, sagte sie. »Also dann, bis morgen Nacht.«
»Gehst du?«
Lächelnd entfernte sie sich rückwärts. »Auf die Plätze, fertig …« Sie wirbelte herum. Während sie den Bürgersteig entlangrannte, rief sie über ihre Schulter zurück: »Los!«
»Aber wo sollen wir …«
Sie verschwand hinter einer Hecke.
»… uns treffen?«
Sie antwortete nicht.
Ich rannte um die Hecke herum, aber sie war verschwunden. Ich konnte sie nirgendwo entdecken.
»Casey?«, rief ich.
Keine Antwort.
Ich lief durch die Gegend und hielt nach ihr Ausschau, weil ich dachte, sie würde mir vielleicht einen kleinen Streich spielen und wieder auftauchen. Schließlich wurde mir klar, dass sie für diese Nacht endgültig verschwunden war.
Ich gab auf und musste einen Moment lang überlegen, wie ich zur Division Street kam, ehe ich mich auf den Heimweg begab.
Hin und wieder bot sich mir die Gelegenheit, Mann oder Maus zu spielen. Jedes Mal versteckte ich mich.
Aus meinen Verstecken beobachtete ich, was geschah.
Ein Polizeiwagen fuhr vorbei. Und ein Möbelwagen.
Und Linda und Walinda Wiggins in ihrem Jeep. (Warum waren sie immer noch unterwegs?) Aber ich sah weder Randys Pick-up noch den Lieferwagen, der mir auf der Fairmont-Street-Brücke entgegen gekommen war.
Ein Mann im Sweatshirt rannte mitten auf der Straße neben seinem Dobermann her. Ich konnte nicht erkennen, ob der Hund angeleint war. Außerdem hörte ich das blecherne Rattern und Klirren eines Einkaufswagens irgendwo in der Nähe, aber ich sah weder den Wagen noch seinen Besitzer.
Ich begegnete keinen Trollen … oder irgendwelchem »lichtscheuen Gesindel«, wie Casey es nannte.
Auch die Fahrradhexe sah ich nicht.
Vor allem entdeckte ich keine Spur von Casey.
Als ich den Fluss erreichte, rannte ich über die Franklin-Street-Brücke.
Kurz darauf war ich in meiner Wohnung in Sicherheit.
Finster
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