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Wir gingen durch die Hintertür aus der Küche in
den Garten. Nach der Dunkelheit im Haus schien die Nacht draußen
geradezu hell. Wir standen auf der erhöhten Terrasse vor der Tür
und sahen uns um.
Keine Spur von dem Mann, der uns verfolgt
hatte.
Auch sonst war niemand zu sehen.
Wir stiegen die paar Stufen zum Garten hinunter und
gingen um das Haus herum. An der vorderen Ecke blieben wir im
Schatten stehen und warteten lange Zeit reglos.
Niemand in Sicht.
»Ich glaub, die Luft ist rein«, sagte ich.
»Sieht so aus.«
Weiterhin wachsam gingen wir zum Bürgersteig
vor.
»Ich bleib noch eine Weile bei dir«, sagte Casey.
»Dann machen wir besser Schluss.«
»Musst du noch woandershin?«
Sie nahm meine Hand. Wir gingen auf die nächste
Kreuzung zu. »Ich habe einiges zu erledigen«, sagte sie. »An
verschiedenen Orten.«
»So wie Mariannes Haus?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Marianne ist meine
Freundin. Ich besuche sie, wenn sich die Gelegenheit ergibt.«
»Aber nicht oft genug.«
»Das Haus kam uns gelegen, oder?«
Ich nickte und fragte: »Sorgt sie dafür, dass die
Tür für dich offen ist?«
»Das ist nicht nötig. Ihre Eltern schließen nie
ab.«
»Und sie haben keine Ahnung, dass du dich
hereinschleichst?«
»Nein, überhaupt nicht. Wenn sie es herausfänden,
würden sie in Zukunft die Tür abschließen. Auch wenn mich das nicht
aufhalten würde.«
»Du gehst auch rein, wenn die Türen abgeschlossen
sind?«
Sie strahlte mich an. »Das ist meine
Spezialität.«
»Du bist wirklich ein böses Mädchen.«
Ihr Lächeln bekam Risse. »Findest du?«
»Eigentlich nicht.«
»Gut. Ich nämlich auch nicht.«
»Wieso sind verschlossene Türen deine
Spezialität?«
»Ich bin gut darin, sie zu öffnen.«
»Und in fremde Häuser einzudringen?«
»Die Leute schließen ihre Türen nicht ab, um
mich fernzuhalten. Sie machen sich mehr Sorgen um Einbrecher
und Mörder und andere Verkörperungen des Bösen.«
»Oder vielleicht wollen sie auch jeden aussperren,
der nicht eingeladen ist.«
Wieder lächelte sie mich an. »Möglicherweise würden
sie mich einladen, wenn sie mich kennen würden.«
»Da bin ich sicher.«
»Marianne ganz bestimmt.«
»Aber nicht ihre Eltern.«
»Wohl kaum. Man kann nicht jedem gefallen, und ich
versuch es auch gar nicht erst. Das ist das Schöne, wenn man nachts
durch die Gegend zieht: Man ist meistens auf sich selbst gestellt
und muss sich nicht um andere Leute kümmern. Man kann sie
beobachten. Man kann sich vor ihnen verstecken. Man kann sie sogar
ziemlich gut kennenlernen, wenn man will, und das, ohne dass sie
einen selbst kennen.«
»Als wäre man unsichtbar.«
»Genau.«
»Und deshalb hast du dir angewöhnt, in die Häuser
der Leute zu schleichen?«
Ihr Lächeln verflüchtigte sie. »So was soll eben
einfach vorkommen.«
»Warum tust du es?«
»Warum nicht?«
»Es ist verboten. Es ist gefährlich.«
»Es ist aufregend.«
»Ist das der Grund?«, fragte ich.
»Ich mach es einfach. Es gefällt mir, und ich mache
es. Du hast es heute Nacht selbst getan. Was hast du dir dabei
gedacht?«
»Ich hab gedacht, du würdest da wohnen. Du hast
sogar gesagt, es wäre dein Haus.«
Sie drückte meine Hand. »Das war in übertragenem
Sinne gemeint, du Genie.«
»Wie kann einem das Haus eines andern in
übertragenem Sinne gehören?«
Ohne nachzudenken sagte sie: »Während ich drin bin,
ist es so, als gehörte es mir.«
»Das ist an den Haaren herbeigezogen.«
»Vielleicht.«
Plötzlich kam mir ein Gedanke und erfüllte mich mit
Sorge und Mitleid. »Hast du überhaupt ein Zuhause?«
»Wieso fragst du das?«
»Du streunst die ganze Nacht durch die Gegend und
gehst in die Häuser von fremden Leuten.«
»Bedeutet das für mich, kein eigenes Zuhause zu
haben?«
»Wäre möglich.«
»Muss aber nicht so sein.«
»Also, wo wohnst du?«
»Wo immer ich will«, sagte sie ernst.
»Du hast keinen Platz?«
»Doch, natürlich.«
»Ich meine einen eigenen, festen Platz. Nicht das
Haus eines anderen. Ein Haus oder eine Wohnung oder so, wo du
richtig wohnst.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht.«
»Ich hab den Eindruck, eher nicht.«
»Meinst du?«
»Wo sind deine Eltern?«, fragte ich.
»Wer sagt, dass ich welche habe?«
»Bist du Waise?«
»Dann wären sie gestorben.«
»Also hast du Eltern.«
»Irgendwo.«
»Aber nicht hier?«
»Jetzt frag ich dich mal was«, sagte sie.
»Okay.«
»Willst du mich morgen Nacht wiedersehen?«
»Klar.«
»Warum?«
»Warum? Weil …« Sei vorsichtig, warnte ich mich.
»Ich bin gern mit dir zusammen.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht. Weil du interessant bist. Und
lustig.«
»Ist Eileen nicht interessant und lustig?«
»Schon. Aber nicht so wie du.«
»Aber sie ist deine Freundin. Das hast du selbst
gesagt. Willst du morgen Nacht nicht mit ihr zusammen
sein?«
»Welche Nacht meinst du? Es ist schon Freitagmorgen
…«
»Für mich ist immer noch Donnerstagnacht.«
»Wann wird es Freitag?«
»Bei Sonnenaufgang.«
»Also meinst du mit ›morgen Nacht‹
Freitagnacht?«
»Genau.«
»Da hab ich noch nichts vor.«
»Was ist mit Eileen? Solltest du an einem
Freitagabend nicht deine Freundin treffen?«
Oh, Mann. Sie lässt nicht locker.
»Wir haben vereinbart, uns ein paar Tage nicht zu
sehen.«
»Wieso?«
Ich wollte Casey die Wahrheit sagen. Ihr zu
erklären, dass ich angegriffen worden war und wahrscheinlich einen
Mann getötet hatte und was sonst noch alles Mittwochnacht geschehen
war, hätte ich hinbekommen; mein wirkliches Problem bestand darin
zuzugeben, dass ich mit Eileen unter die Brücke gegangen war, um
mit ihr zu schlafen.
»Ich glaub, ich hab schon erwähnt, dass sie sich
nicht besonders fühlte, oder?«
Casey nickte.
»Es ist wahrscheinlich nichts Ernstes, aber sie
will nicht, dass ich mich anstecke. Deshalb werden wir uns morgen
bestimmt nicht treffen.«
»Bist du sicher, dass ihr keinen Streit
hattet?«
Ich runzelte die Stirn und antwortete nicht.
»Du siehst nämlich aus, als hättest du dich mit
jemandem geschlagen.«
Ich wäre beinahe zusammengezuckt. Die Prellungen
und Kratzer in meinem Gesicht hatte ich ganz vergessen. »Ach das«,
sagte ich.
»Du hast sie doch nicht verprügelt, oder?«
»Nein!«
»Was ist mit dir passiert?«
Um Zeit zu gewinnen, zuckte ich mit den Schultern.
Dann fiel mir etwas ein. »Ich kenn da einen Typen, Kirkus. Er ist
ein echter Vollidiot.« Bis jetzt hatte ich noch nicht gelogen. »Wir
arbeiten beide bei der Literaturzeitschrift der Uni mit. Ein
paarmal im Monat treffen wir uns, um die Geschichten und Gedichte
zu lesen, die die Leute einreichen.
Jedenfalls hat Kirkus meine Geschichte gelesen und …«
»Du hast eine Geschichte geschrieben?«
»Ja. Also, Kirkus hat sie gelesen und meinte, sie
wäre beschissen. ›Unbeholfen und angeberisch, voller sinnloser
Gewalt und überflüssigem Sex‹, hat er gesagt. Also habe ich ihn
einen engstirnigen, schnöseligen Analphabeten genannt, und so hat
eins zum anderen geführt.« Das entsprach immer noch der Wahrheit.
»Dann habe ich irgendwas gesagt, was ihn wirklich geärgert hat, und
er hat mir ins Gesicht geschlagen. Daraufhin habe ich
zurückgeschlagen.« Ich grinste und schüttelte den Kopf. »Es war
alles ziemlich dämlich. Wir haben aufeinander eingeprügelt und
beide ein paar blaue Flecken kassiert. Keine große Sache.«
Alles war wahr.
Aber es war im letzten Mai geschehen.
»Also hast du dich nicht mit Eileen
geprügelt?«
Was ist, wenn Casey sie sieht?
»Nein«, sagte ich. »Wir hatten noch nie richtig
Streit.«
»Hast du schon mal Frauen geschlagen?«
»Wenn du Kirkus nicht mitzählst, nein.«
»Ich dachte, er wäre ein Mann.«
»Das weiß man nicht so genau. Jedenfalls liegt
Eileen flach, weil sie leichtes Fieber hat. Vielleicht eine
Grippe.«
»Und was ist, wenn sie gesund wird?«
Ich nahm mir einen Moment Zeit, um mir eine gute
Antwort zu überlegen. Dann sagte ich: »Sie geht sowieso spätestens
um elf oder zwölf ins Bett. Und sie wohnt im
Wohnheim, nicht bei mir. Ich kann also ausgehen, wann ich
will.«
»Heimlich?«
»Sie muss nicht alles wissen, was ich so tue. Wir
sind nicht … verlobt oder so. Eigentlich sind wir überhaupt noch
nicht so lange zusammen.«
»Wie lange?«
Seit Montagnacht. Und nach Caseys Rechnung war nun
Donnerstagnacht.
»Also«, sagte ich, »wir kennen uns seit letztem
Frühling, aber vor diesem Semester waren wir noch nicht
zusammen.«
»Deshalb ist es also in Ordnung, sich hinter ihrem
Rücken mit einer anderen zu treffen?«
»Ich habe mich ja nicht mit dir verabredet. Wir
sind uns über den Weg gelaufen … vor ein paar Stunden oder
so.«
»Aber morgen Nacht treffen wir uns, oder?«
»Hoffentlich.«
»Wirst du Eileen das erzählen?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Also triffst du mich doch hinter ihrem
Rücken.«
»Ja, aber wir machen ja nichts.«
»Wir machen schon etwas.«
»Also, ja, aber nichts …«
Casey kam zu mir, schlang die Arme um mich und
küsste mich auf den Mund. Ich umarmte sie ebenfalls. Wir drückten
uns fest aneinander. Ich konnte ihre Brüste und ihre Rippen spüren,
ihren Bauch an meinem, den Schamhügel, der sich gegen meinen
Unterleib presste.
Ihr Mund löste sich von meinen Lippen. »Machen wir
jetzt etwas?«
»Allerdings.«
»Nur damit du Bescheid weißt«, sagte sie. »Also
dann, bis morgen Nacht.«
»Gehst du?«
Lächelnd entfernte sie sich rückwärts. »Auf die
Plätze, fertig …« Sie wirbelte herum. Während sie den Bürgersteig
entlangrannte, rief sie über ihre Schulter zurück: »Los!«
»Aber wo sollen wir …«
Sie verschwand hinter einer Hecke.
»… uns treffen?«
Sie antwortete nicht.
Ich rannte um die Hecke herum, aber sie war
verschwunden. Ich konnte sie nirgendwo entdecken.
»Casey?«, rief ich.
Keine Antwort.
Ich lief durch die Gegend und hielt nach ihr
Ausschau, weil ich dachte, sie würde mir vielleicht einen kleinen
Streich spielen und wieder auftauchen. Schließlich wurde mir klar,
dass sie für diese Nacht endgültig verschwunden war.
Ich gab auf und musste einen Moment lang überlegen,
wie ich zur Division Street kam, ehe ich mich auf den Heimweg
begab.
Hin und wieder bot sich mir die Gelegenheit, Mann
oder Maus zu spielen. Jedes Mal versteckte ich mich.
Aus meinen Verstecken beobachtete ich, was
geschah.
Ein Polizeiwagen fuhr vorbei. Und ein
Möbelwagen.
Und Linda und Walinda Wiggins in ihrem Jeep.
(Warum waren sie immer noch unterwegs?) Aber ich sah weder Randys
Pick-up noch den Lieferwagen, der mir auf der
Fairmont-Street-Brücke entgegen gekommen war.
Ein Mann im Sweatshirt rannte mitten auf der Straße
neben seinem Dobermann her. Ich konnte nicht erkennen, ob der Hund
angeleint war. Außerdem hörte ich das blecherne Rattern und Klirren
eines Einkaufswagens irgendwo in der Nähe, aber ich sah weder den
Wagen noch seinen Besitzer.
Ich begegnete keinen Trollen … oder irgendwelchem
»lichtscheuen Gesindel«, wie Casey es nannte.
Auch die Fahrradhexe sah ich nicht.
Vor allem entdeckte ich keine Spur von Casey.
Als ich den Fluss erreichte, rannte ich über die
Franklin-Street-Brücke.
Kurz darauf war ich in meiner Wohnung in
Sicherheit.