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Ich rechnete damit, dass der Lieferwagen mir
rückwärts hinterherjagen würde, so wie Randy es vor ein paar
Nächten getan hatte. Dann würde die Frau auf die Bremse treten, die
Seitentür auffliegen und der versteckte Mann herausspringen und
mich zur Strecke bringen.
Aber es geschah nichts dergleichen.
Während ich zur nächsten Ecke sprintete, blickte
ich zurück und sah, dass der Lieferwagen vorwärts weiterfuhr, mit
geschlossenen Türen.
War das nur ein Streich?, fragte ich mich. Kleine
Jungs erschrecken?
Klar.
Aus Angst, der Lieferwagen könnte zurückkommen,
rannte ich über die Straße und um die Ecke und versteckte mich
hinter einem Baumstamm. Ein paar Minuten vergingen.
Vielleicht sollte ich zusehen, dass ich nach Hause
komme, sobald es sicher ist, dachte ich. Man soll sein Glück nicht
überstrapazieren.
Und das Mädchen verpassen?
Es ist nicht mal sicher, dass ich sie überhaupt
finde. Und außerdem ist es das Risiko nicht wert.
Was, wenn ich in den Wagen gestiegen
wäre?
Denk gar nicht darüber nach, sagte ich mir. Ich bin
nicht eingestiegen, das ist das Entscheidende.
Auf der anderen Straßenseite ging ein Mann mit
einer dänischen Dogge an der Leine vorbei.
Das könnte ich gebrauchen, dachte ich. Einen
riesigen,
gefährlichen Hund. Der hält einem die Dämonen vom Leibe.
Der Mann und sein Hund verschwanden hinter einer
Ecke, aber ich blieb in meinem Versteck. Der Lieferwagen kam nicht
zurück. Es kamen auch keine anderen Fahrzeuge vorbei. Schließlich
wagte ich mich hinter dem Baum hervor und ging in die Richtung, aus
der ich gekommen war.
Der bessere Teil der Tapferkeit ist Vorsicht
…
Was ist eigentlich mit dieser Stadt los?
Vielleicht gibt es eine Irrenanstalt in der Nähe,
die nachts ihre Türen öffnet und alle Insassen frei auf den Straßen
herumlaufen lässt. Amüsiert euch gut, meine Lieblinge. Lasst mal
richtig die Sau raus. Aber ihr müsst vor Sonnenaufgang zurück
sein.
Nett.
Könnte man eine interessante Geschichte draus
machen, dachte ich. Ein bisschen weit hergeholt vielleicht, aber
das würde erklären, was hier los ist. Irgendwas stimmt mit diesem
Ort nicht. Es sind ja nicht alle Städte so bei Nacht.
Vielleicht doch.
Schon bald näherte ich mich wieder der
Fairmont-Street-Brücke. Wenn ich nach Hause wollte, musste ich
hinüber. Ich betrachtete die leere, schlecht beleuchtete Straße,
die niedrigen Steinbrüstungen und die Dunkelheit zu beiden
Seiten.
Früher oder später musste ich sie überqueren. Diese
Brücke oder eine andere, und niemand konnte wissen, was darunter
lauerte.
Es wird nichts passieren, sagte ich mir.
In den letzten Jahren war ich Hunderte Male über
solche Brücken gegangen - oft spät in der Nacht -, ohne
irgendwelche Komplikationen.
Das war, ehe ich Bescheid wusste.
Wir hatten Witze gerissen über Trolle, die unter
den Brücken lauerten, aber wir wussten nicht, dass dort wirklich
welche hausten.
Kurz vor der Brücke blieb ich stehen. Ich wollte
sie nicht noch einmal überqueren.
Abgesehen von den Ängsten, die ich mit der Brücke
verband, gefiel mir der Gedanke, einen Rückzieher zu machen,
überhaupt nicht. Sollte ich mein Vorhaben wirklich abblasen, nur
weil ein paar Spinner in einem Lieferwagen mich zu Tode erschreckt
hatten?
Wenn ich heute Nacht aufgebe, könnte es sein,
dass ich sie nie wiedersehe.
Ich muss sie sehen, dachte ich. Und mit ihr
reden. Und herausfinden, wie sie heißt und warum sie nachts durch
die Straßen zieht und ob sie einsam ist und wie es sich anfühlt,
mit ihr zusammen zu sein.
Kopfschüttelnd wandte ich der Brücke den Rücken zu
und entfernte mich.
Ich war wachsam. Hin und wieder zwang mich das
Auftauchen einer Person oder eines Fahrzeugs, in Deckung zu gehen.
Je länger ich unterwegs war, ohne dass irgendwelche Schwierigkeiten
auftauchten, desto mutiger wurde ich. Ich verbrachte weniger Zeit
damit, mich zu verstecken, und mehr Zeit damit, von einer
Querstraße zur nächsten zu eilen.
Nachdem ich fast eine Stunde auf der Fairmont
Street nach Norden gegangen war, bog ich rechts in eine
Seitenstraße. Ich folgte ihr in östlicher Richtung, kreuzte die
Division Street und ging weiter, bis ich auf die Franklin
stieß.
Während ich mich dem Gebiet des geheimnisvollen
Mädchens näherte, wurden meine Ängste von dem aufregenden Gefühl,
ihr vielleicht zu begegnen, verdrängt. Anstatt mich ständig nach
möglichen Gefahren umzublicken, hielt ich Ausschau nach ihr.
Sie muss irgendwo sein, sagte ich mir. Wenn nicht
auf diesem Bürgersteig, dann auf einem anderen. Oder in einem der
Häuser. Oder sie kauerte hinter einem Gebüsch, um sich vor einer
drohenden Gefahr zu verstecken.
Vielleicht verbarg sie sich auch vor mir.
Möglicherweise war ich schon an ihr vorbeigelaufen,
und sie hatte mich aus dem Schatten heraus beobachtet.
Bitte versteck dich nicht vor mir, sagte ich
ihr im Geiste. Vor mir brauchst du dich nicht zu fürchten. Ich
würde dir niemals wehtun.
Schließlich erreichte ich das Haus, in das sie
Montagnacht gegangen war … das Haus, in dem ich Dienstagnacht die
Tequila-Frau beobachtet hatte. Ich blickte zum Küchenfenster, doch
es war dunkel.
Am Ende des Straßenzugs überquerte ich die
Franklin. Ich ging auf der anderen Seite zurück und versteckte mich
zwischen den Büschen in einem Vorgarten direkt gegenüber dem
Haus.
Auf meiner Armbanduhr war es 00:40 Uhr.
Wahrscheinlich schlafen da drin alle, dachte
ich.
Aber wer?
Die Tequila-Frau wohnte bestimmt dort.
Was war mit dem geheimnisvollen Mädchen? Ich hatte
sie dort hineingehen sehen, aber später war sie in derselben Nacht
drüben auf der Division Street aufgetaucht. War sie nur
hierhergekommen, um die Tequila-Frau oder einen anderen Bewohner zu
besuchen?
Montagnacht könnte sie heimgegangen sein, um
irgendwas zu holen, sich hineingeschlichen und dieses Etwas
mitgenommen haben und dann zu ihrem eigentlichen Ziel
weitergegangen sein.
Aber diese Theorie hatte einen Haken. Nachdem sie
reingegangen war, hatte ich eine Weile dort rumgelungert, war dann
zu Dandi Donuts gegangen und hatte mit Eileen geplaudert …
Während Randy uns beobachtete.
Denk nicht an ihn. Zurück zur
Ausgangsfrage.
Das Mädchen. Der Zeitablauf.
Zwischen dem Zeitpunkt, zu dem sie ins Haus ging
und dem Moment, als ich sie auf der Division Street sah, war mehr
als eine Stunde vergangen.
Die beiden Orte lagen aber zu Fuß nur fünf Minuten
voneinander entfernt.
Meine Theorie erklärte nicht, was sie in dem
verbleibenden Zeitraum von mindestens einer Stunde getan
hatte.
Wenn sie so lange in dem Haus gewesen war, dann war
sie nicht einfach nur hineingehuscht, um was zu holen … oder andere
Schuhe anzuziehen oder eine Kleinigkeit zu erledigen.
Warum sollte jemand mitten in der Nacht nach Hause
zurückkehren, eine Stunde dortbleiben und dann wieder gehen? Was
hatte sie da drin getan? Ein Nickerchen gemacht? Geduscht? Einen
Kuchen gebacken?
Sex?
Es ergab keinen Sinn für mich, dass sie in ihrem
eigenen Haus Sex hatte und dann innerhalb einer Stunde wieder
gegangen war.
Ist es nicht ihr Haus?
Aber das heißt nicht, dass sie sich nicht dort
aufhält. Sie könnte jetzt gerade da drin sein. Oder auf dem Weg
dorthin.
Ich überlegte, an Ort und Stelle zu bleiben. Es war
gut möglich, dass sie bald rauskam oder reinging. Ich musste bloß
abwarten.
Ich wartete und wartete.
Natürlich konnte es auch sein, dass sie bei sich zu
Hause in einer anderen Straße tief und fest schlief. Oder dass sie
bei Dandi Donuts ein Teilchen aß oder irgendwo meilenweit entfernt
durch die Straßen schlenderte. Sie hätte überall sein können.
Was, wenn Randy sie geschnappt hat und über sie
hergefallen ist?
Es geht ihr gut, sagte ich mir.
Oder sie liegt tot unter einer Brücke
…?
Es geht ihr gut.
Oder wurde von den Leuten aus dem Lieferwagen
erwischt …?
Nein. Es geht ihr gut. Aber wahrscheinlich geht es
ihr nicht mehr lange gut, wenn …
Ich hörte in der Ferne ein Motorengeräusch. Es
wurde
langsam lauter. Das tiefe Brummen klang nach einem starken Motor.
Er könnte zu einem Lastwagen gehören. Oder einem Pick-up.
Randy auf Beutezug?
Vielleicht ist es auch der
Lieferwagen.
Obwohl ich zwischen den Büschen gut versteckt war,
schlug mein Herz heftig, während ich die Straße vor mir
beobachtete.
Scheinwerfer beleuchteten den Asphalt.
Ein Polizeiwagen fuhr langsam vorbei.
Fahr weiter! Fahr weiter! Fahr weiter!
Er fuhr weiter.
Als der Streifenwagen verschwunden war, hockte ich
zitternd und schwitzend und atemlos an meinem Platz.
Ich sollte froh darüber sein, dass es die Polizei
war, dachte ich. Die könnten schließlich meinen Arsch retten, wenn
es hart auf hart kommt.
Letzte Nacht haben sie sich nicht gerade mit
Ruhm bekleckert.
Was taten sie gestern Nacht? Haben sie wenigstens
einen Blick unter die Brücke geworfen?
Vielleicht stecken sie mit den Trollen unter
einer Decke.
Das schien sehr weit hergeholt, aber manchmal ist
die Wahrheit nicht das Wahrscheinliche.
Wenn sie nachts Verdächtige aufgreifen, bringen sie
die vielleicht unter eine der Brücken und übergeben sie den
Trollen.
Lächerlich. Aber man könnte eine Geschichte daraus
machen.
Warum würden Polizisten so etwas tun? Für eine
Flasche
Wein? Weil sie mitmachen? Ein Stück vom menschlichen Kuchen
abbekommen?
Ich hab’s! Die Polizisten schlagen zwei Fliegen mit
einer Klappe: Sie beseitigen die Verdächtigen für immer und halten
die Trolle davon ab, ihren Fleischbedarf aus der anständigen
Bevölkerung zu decken.
Aber was haben die Polizisten selbst davon?
Die Befriedigung, ihre Arbeit gut gemacht zu
haben.
Ich kicherte leise.
Das sind schon zwei Ideen für Geschichten. Nicht
schlecht für eine einzige Nacht.
Auch wenn ich das Mädchen nicht finde, war das
ein ziemlich lohnender …
Auf der anderen Straßenseite bewegte sich eine
dunkle Gestalt die Verandatreppe herab und über den Rasen auf die
Straße zu. Mit leichtem federndem Schritt kam die Gestalt aus den
Schatten. An ihrem Hinterkopf wippte ein Pferdeschwanz auf und
ab.