48
Nachdem ich meinen Laptop und die Bücher und Unterlagen vom Küchentisch geräumt hatte, holte ich die Platzdeckchen, die Servietten und das Besteck aus den Schubladen.
»Dauert nicht mehr lange«, sagte ich zu Kirkus.
Er hob sein Glas, zwinkerte mir zu und trank.
Ich ging zu Eileen. Sie stand vor dem Herd in einer Ecke der Küche, die man vom Wohnzimmer aus nicht einsehen konnte. In einer Hand hielt sie einen Pfannenwender, in der anderen ihren Drink. Ich trat hinter sie, schob meine Hände unter die Schürze, umarmte ihre Taille und blickte über ihre Schulter. Auf der Gasflamme brutzelte eine Pfanne voller marinierter Rindfleischstreifen.
»Riecht gut«, sagte ich.
Sie trank ihr Glas aus und stellte es ab. »Wie läuft’s mit Kirkus?«
»Er ist scharf auf mich.«
»Sind wir das nicht alle?«
»Aber er hat versprochen, mich nicht zu belästigen, solange ich nicht pfeife.«
An der Art, wie Eileens Wange sich gegen mein Gesicht drückte, merkte ich, dass sie lächelte. »Du weißt doch, wie man pfeift?«, fragte sie.
»Hast du gelauscht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab den Film gesehen.«
»Im Buch kam das nicht vor. Haben oder Nichthaben. Die Sache mit dem Pfeifen, meine ich.«
»Das wusste ich nicht.«
»Jetzt weißt du’s.«
»Es ist ein schönes Gefühl, gut informiert zu sein«, sagte sie, drückte ihren Hintern an mich, bewegte ihn hin und her und strich damit über meinen Unterleib.
Ich pfiff leise, dicht an ihrem Ohr.
»Meintest du mich oder Kirkus?«, fragte sie.
Ich versuchte, ihr eine Hand in den Ausschnitt zu schieben, aber sie hielt mich durch die Schürze am Handgelenk fest. »Jetzt nicht, Süßer. Geh lieber zu deinem Freund und leiste ihm Gesellschaft.«
»Ich kann dir helfen.«
»Ich kümmer mich um alles. Es dauert nur noch ein paar Minuten. Geh schon, ja? Es ist unhöflich, ihn allein zu lassen.«
»Na gut.« Ich küsste ihren Hals und ging zurück ins Wohnzimmer. »Wie geht’s, Rudolph?«
»He, bitte.«
Ich setzte mich aufs Sofa und nahm meinen Drink. Mein zweiter hoocha de los muertos war noch halbvoll, aber das Eis geschmolzen. Ich trank einen Schluck. Er war immer noch ziemlich kalt.
Im Radio sang Randy Travis »Heroes and Friends«.
»Essen ist fast fertig«, sagte ich.
»Ich hab es nicht eilig«, meinte Kirkus.
»Amüsierst du dich?«
»Einigermaßen.«
»Freut mich.« Ich stippte einen Chip in die Salsa und schaffte es, ihn in den Mund zu manövrieren, ohne zu tropfen.
Während ich kaute, sagte Kirkus: »Wir sollten das öfter machen. Nächstes Mal lade ich ein.«
Beinahe hätte ich gesagt: »Das kann aber noch eine Weile dauern«, aber ich war in zu guter Stimmung, um gemein zu sein … nicht mal zu Kirkus. Der Duft der Fajitas war wunderbar, Eileen trug ein wunderbares Kleid, ich hatte einen guten Blick auf ihre wunderbaren Brüste werfen können, und später wollte ich aus dem Haus gehen und eine wunderbare Zeit mit Casey verbringen. Außerdem war ich wohlig angeheitert von den hoochas. »Gut«, sagte ich, »sag einfach Bescheid, wenn wir kommen sollen.«
Er hob die Brauen. »Würdet ihr tatsächlich kommen?« Für einen Moment sah ich Hoffnung und Traurigkeit in seinen Augen aufleuchten. Doch er verbarg die Gefühle schnell wieder hinter seiner üblichen arroganten Haltung.
»Vielleicht«, sagte ich. »Es hängt davon ab.«
»Darf ich fragen, wovon?«
»Lass uns abwarten, wie der Abend so läuft.«
»Ich werde mich von meiner besten Seite zeigen.«
Aus der Küche ertönte das Piepsen der Mikrowelle.
»Dann bereite ich meine Spezialität zu«, sagte Kirkus.
»Und das ist?«
»Braten.«
»Hoffentlich nicht aus Menschenfleisch.«
Er runzelte die Stirn. »Ich bevorzuge Schwein.«
Eileen tauchte in der Küchentür auf. Sie hatte die Schürze abgelegt und lächelte. »Kommt rein und schlagt zu, Jungs.«
Kirkus und ich gingen zum Tisch und setzten uns. Eileen nahm unsere Gläser. »Fangt schon mal an«, sagte sie. »Ich gieße euch noch was ein.«
»Was sollen wir tun?«
»Schnapp dir eine Tortilla, streich saure Sahne oder Avocadocreme oder was du willst drauf, beleg sie mit Fleisch und Käse und Salat, roll sie zusammen und hau rein.«
»Leichter gesagt als getan.«
Kurz darauf kam sie mit drei vollen Gläsern ihres Spezialgebräus an den Tisch. Sie setzte sich, hob ihr Glas und sagte: »Die beste Medizin.«
Kirkus und ich griffen nach unseren Gläsern. Wir beugten uns vor und stießen miteinander an.
Kirkus nippte an seinem Drink. »Grande«, sagte er. »Mucho grande
Ich trank ebenfalls einen Schluck. »Rio Grande.«
Eileen probierte ihren und sagte: »Mississippi.«
Ich erhob mein Glas. »Auf Mark Twain.«
»Och nee«, sagte Kirkus.
»Hast du was gegen Mark Twain?«
»Er ist so plebejisch. Kein Wunder, dass du ihn verehrst, Eduardo.«
»Huckleberry Finn ist der größte Roman aller Zeiten.« Ich hatte einen winzigen Augenblick lang ein schlechtes Gewissen, weil ich William Goldman verraten hatte. Aber wenn ich behauptet hätte, The Temple of Gold oder Boys and Girls Together wären die größten Romane …
»Ach, bitte«, sagte Kirkus.
»Es stimmt.«
»Amerikanisch«, sagte Eileen. »Der größte amerikanische Roman vielleicht. Wenn man die Engländer, die Russen und die Franzosen außen vor lässt …«
»Was haben die Franzosen denn jemals geschrieben?«
»Dumas?«, sagte Eileen. »Schon mal was von Die drei Musketiere gehört? Und was ist mit de Maupassant?«
»Nicht zu vergessen Sartre und Camus und Simone«, sagte Kirkus.
»Ich mag Simone«, verkündete ich. »Der ist richtig gut.«
»Sie«, sagte Kirkus.
»Mir gefällt sein Kommissar, Maigret.«
»Das ist Simenon«, korrigierte Eileen mich, »Georges Simenon.«
»Ich habe von Simone de Beauvoir gesprochen, alter Knabe.«
»Oh. Klar, natürlich. Die ist scheiße.«
Eileen lachte.
»Du musst es wirklich lieben, den Trottel zu spielen«, meinte Kirkus.
»Also«, sagte ich, »wenn wir jetzt zu Huckleberry Finn zurückkehren könnten, dem größten amerikanischen Roman …«
»Völlig überschätzt«, unterbrach Kirkus.
»Hemingway sagt, es wäre der beste.«
»Das bestätigt meine Auffassung«, sagte Kirkus.
»Ich plädiere für Atlas wirft die Welt ab«, sagte Eileen. »Das ist das beste Buch, das ich je gelesen habe, und es wird nicht mal in der Schule gelesen.«
»Wirklich nicht?«, fragte ich.
»Zumindest an keiner Schule, von der ich jemals gehört habe. Und zwar deshalb, weil alle Lehrer Ayn Rand hassen. Sie verbreiten Lügen über sie. Sie wollen nicht, dass Schüler ihre Bücher lesen.« Stirnrunzelnd strich Eileen etwas saure Sahne auf eine dampfende Tortilla. »Sie haben Angst vor jedem verdammten Buch, das sie jemals geschrieben hat. Die meisten Lehrer sind Kommunisten, falls ihr es noch nicht bemerkt habt.«
Da war plötzlich eine Seite Eileens, die ich noch nicht kannte - die betrunkene, vermutete ich.
»Kommunisten?«, sagte Kirkus. »Um Himmels willen.«
Sie kniff ein Auge zusammen und fixierte ihn. »Mein Dad hat in Vietnam gegen die verfluchten Kommunisten gekämpft. Findest du daran irgendwas lustig?«
»Tut mir leid, wenn ich dir auf die Zehen getreten bin … oder auf die Zehen deines Vaters in seinen Kampfstiefeln. Aber im Ernst, Kommunismus? Du musst zugeben, dass dieses Thema mittlerweile ein wenig passé ist. Wodurch auch Ayn Rands Bücher passé sind.«
»Hast du mal eins gelesen?«, fragte sie.
»Darauf würde ich meine Zeit nicht verschwenden«, sagte Kirkus.
Sie zeigte mit der Gabel auf mich. »Was ist mit dir, Eddie?«
»Leider nicht. Würde ich aber gern.«
Eileen drehte die Gabel zum Teller mit dem Fleisch und legte ein paar Streifen auf ihre Tortilla. »Atlas wirft die Welt ab, Der ewige Quell, Vom Leben unbesiegt. Wir werden gezwungen, jedes verdammte Buch zu lesen, das die paar ewigen Auserwählten jemals geschrieben haben. Der große Gatsby, um Gottes willen. Die Perle, um Gottes willen.«
»Der scharlachrote Buchstabe«, ergänzte ich.
»Nicht zu vergessen Madame Ovary«, sagte sie. »Worum zum Teufel geht es darin überhaupt?«
Kirkus schüttelte den Kopf und wirkte sehr enttäuscht von uns.
»Hunderte von Büchern«, fuhr Eileen fort. »Bücher von jedem Hinz und Kunz, der jemals was geschrieben hat, aber Ayn Rand? Nein. Nicht Rand. Sie ist besser als die meisten, niemand ist besser als sie, aber sie wollen sie uns vorenthalten, weil sie ihre Botschaft hassen.«
»Ihre Botschaft lautet Egoismus, meine Liebe«, sagte Kirkus.
Eileen streute geriebenen Käse über das Fleisch und begann, die Tortilla aufzurollen. »Sie wollen, dass du genau das glaubst, um zu verhindern, dass du sie liest. Weißt du, was ihre wahre Botschaft ist?«
»Ich fürchte, du wirst es uns erzählen.«
»Niemand hat das verdammte Recht«, sagte sie, »etwas zu nehmen, was ihm nicht gehört. Eine Regierung zum Beispiel. Die Regierung hat nicht das Recht, uns zu irgendwas zu zwingen … nicht mal für das, was man ›Allgemeinwohl‹ nennt. Wir sind keine Sklaven. Wir haben einen uneingeschränkten Anspruch auf die Früchte unserer Arbeit, und wir schulden der Gesellschaft einen Dreck. Hast du schon mal von John Galt gehört?«
»Natürlich«, sagte Kirkus und seufzte. »Wer ist John Galt?«
»Wer ist John Galt?«, fragte Eileen ihn.
»Augenscheinlich eine Schöpfung unserer literarischen Göttin.«
»Er schaltete das Licht der Welt aus.« Während sie diese Worte sprach, wurde ihre Stimme heiser, und Tränen traten in ihre Augen.
»Und das bedeutet?«, fragte Kirkus.
»Es ist das, von dem sie nicht wollen, dass du es herausfindest«, sagte Eileen. Sie wischte sich über die Augen, trank einen Schluck und fügte hinzu: »Lies das Buch.« Dann nahm sie ihre fertig gerollte Tortilla.
»Atlas wirft die Welt ab?«, fragte ich.
Sie nickte und schniefte.
»Vielleicht werde ich es mal versuchen«, sagte Kirkus. »Ein Roman, der die robuste Eileen zu Tränen rührt …«
»Pass auf mit Ausdrücken wie ›robust‹«, sagte Eileen.
»Das bezog sich auf deinen Charakter, nicht auf deinen Körperbau.«
»Stimmt was nicht mit meinem Körper?«
»Überhaupt nicht, Kleine. Von mir aus gesehen ist er atemberaubend.«
»Danke.«
»Er ist doch atemberaubend, nicht wahr, Eduardo?«, fragte er mich.
»Das will ich meinen«, sagte ich. »Atemberaubend.«
»Das muss er natürlich sagen, schließlich ist er dein Freund und kommender Liebhaber - verzeiht das Wortspiel -, während ich völlig desinteressiert bin und die Wahrheit ohne Angst vor Vergeltung aussprechen kann. Aus einer absolut objektiven Perspektive kann ich sagen, dass dein Körper wirklich extraklasse ist. Zumindest das, was ich davon gesehen habe. Ich bin sicher, Edward ist in dieser Hinsicht im Vorteil.«
»O je«, murmelte ich.
Er sah mich an. »Du hast ein Gespür für Wörter, alter Knabe.« Zu Eileen sagte er: »Wo wir gerade davon reden, ich hörte, dass die komplette Bande von Rüpeln Mittwochnacht ihre Augen an deinen unbedeckten Titten geweidet hat. Anscheinend hat sie jeder außer mir gesehen.«
Eileen starrte ihn an und legte den Kopf schräg. »Wo hast du das denn aufgeschnappt?«
Kirkus sah mich an und grinste. »Sollte ich das nicht erzählen?«
»Wolltest du nicht ›schweigen wie ein Grab‹?«, fragte ich.
»Mir war nicht bewusst, dass das auch für die holde Eileen gilt.«
Ich stöhnte.
»Kein Problem«, sagte Eileen. Dann schob sie sich die Tortilla in den Mund und biss ein Stück ab. Während sie kaute, wurden ihre Augen erneut feucht. Sie schluckte und wischte sich den Mund mit einer Serviette ab. »Entschuldigt mich«, sagte sie.
Eileen schob ihren Stuhl zurück, stand auf und ging aus der Küche.
Von meinem Platz aus sah ich, wie sie durchs Wohnzimmer in den Flur ging. Kurz darauf wurde eine Tür geschlossen. Offenbar war sie ins Badezimmer gegangen.
»Oje«, sagte Kirkus und grinste. »Meinst du, sie hat etwas Falsches gegessen?«
Finster
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