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Nachdem ich meinen Laptop und die Bücher und
Unterlagen vom Küchentisch geräumt hatte, holte ich die
Platzdeckchen, die Servietten und das Besteck aus den
Schubladen.
»Dauert nicht mehr lange«, sagte ich zu
Kirkus.
Er hob sein Glas, zwinkerte mir zu und trank.
Ich ging zu Eileen. Sie stand vor dem Herd in einer
Ecke der Küche, die man vom Wohnzimmer aus nicht einsehen konnte.
In einer Hand hielt sie einen Pfannenwender, in der anderen ihren
Drink. Ich trat hinter sie, schob meine Hände unter die Schürze,
umarmte ihre Taille und blickte über ihre Schulter. Auf der
Gasflamme brutzelte eine Pfanne voller marinierter
Rindfleischstreifen.
»Riecht gut«, sagte ich.
Sie trank ihr Glas aus und stellte es ab. »Wie
läuft’s mit Kirkus?«
»Er ist scharf auf mich.«
»Sind wir das nicht alle?«
»Aber er hat versprochen, mich nicht zu belästigen,
solange ich nicht pfeife.«
An der Art, wie Eileens Wange sich gegen mein
Gesicht
drückte, merkte ich, dass sie lächelte. »Du weißt doch, wie man
pfeift?«, fragte sie.
»Hast du gelauscht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab den Film
gesehen.«
»Im Buch kam das nicht vor. Haben oder
Nichthaben. Die Sache mit dem Pfeifen, meine ich.«
»Das wusste ich nicht.«
»Jetzt weißt du’s.«
»Es ist ein schönes Gefühl, gut informiert zu
sein«, sagte sie, drückte ihren Hintern an mich, bewegte ihn hin
und her und strich damit über meinen Unterleib.
Ich pfiff leise, dicht an ihrem Ohr.
»Meintest du mich oder Kirkus?«, fragte sie.
Ich versuchte, ihr eine Hand in den Ausschnitt zu
schieben, aber sie hielt mich durch die Schürze am Handgelenk fest.
»Jetzt nicht, Süßer. Geh lieber zu deinem Freund und leiste ihm
Gesellschaft.«
»Ich kann dir helfen.«
»Ich kümmer mich um alles. Es dauert nur noch ein
paar Minuten. Geh schon, ja? Es ist unhöflich, ihn allein zu
lassen.«
»Na gut.« Ich küsste ihren Hals und ging zurück ins
Wohnzimmer. »Wie geht’s, Rudolph?«
»He, bitte.«
Ich setzte mich aufs Sofa und nahm meinen Drink.
Mein zweiter hoocha de los muertos war noch halbvoll, aber
das Eis geschmolzen. Ich trank einen Schluck. Er war immer noch
ziemlich kalt.
Im Radio sang Randy Travis »Heroes and
Friends«.
»Essen ist fast fertig«, sagte ich.
»Ich hab es nicht eilig«, meinte Kirkus.
»Amüsierst du dich?«
»Einigermaßen.«
»Freut mich.« Ich stippte einen Chip in die Salsa
und schaffte es, ihn in den Mund zu manövrieren, ohne zu
tropfen.
Während ich kaute, sagte Kirkus: »Wir sollten das
öfter machen. Nächstes Mal lade ich ein.«
Beinahe hätte ich gesagt: »Das kann aber noch eine
Weile dauern«, aber ich war in zu guter Stimmung, um gemein zu sein
… nicht mal zu Kirkus. Der Duft der Fajitas war wunderbar, Eileen
trug ein wunderbares Kleid, ich hatte einen guten Blick auf ihre
wunderbaren Brüste werfen können, und später wollte ich aus dem
Haus gehen und eine wunderbare Zeit mit Casey verbringen. Außerdem
war ich wohlig angeheitert von den hoochas. »Gut«, sagte
ich, »sag einfach Bescheid, wenn wir kommen sollen.«
Er hob die Brauen. »Würdet ihr tatsächlich kommen?«
Für einen Moment sah ich Hoffnung und Traurigkeit in seinen Augen
aufleuchten. Doch er verbarg die Gefühle schnell wieder hinter
seiner üblichen arroganten Haltung.
»Vielleicht«, sagte ich. »Es hängt davon ab.«
»Darf ich fragen, wovon?«
»Lass uns abwarten, wie der Abend so läuft.«
»Ich werde mich von meiner besten Seite
zeigen.«
Aus der Küche ertönte das Piepsen der
Mikrowelle.
»Dann bereite ich meine Spezialität zu«, sagte
Kirkus.
»Und das ist?«
»Braten.«
»Hoffentlich nicht aus Menschenfleisch.«
Er runzelte die Stirn. »Ich bevorzuge
Schwein.«
Eileen tauchte in der Küchentür auf. Sie hatte die
Schürze abgelegt und lächelte. »Kommt rein und schlagt zu,
Jungs.«
Kirkus und ich gingen zum Tisch und setzten uns.
Eileen nahm unsere Gläser. »Fangt schon mal an«, sagte sie. »Ich
gieße euch noch was ein.«
»Was sollen wir tun?«
»Schnapp dir eine Tortilla, streich saure Sahne
oder Avocadocreme oder was du willst drauf, beleg sie mit Fleisch
und Käse und Salat, roll sie zusammen und hau rein.«
»Leichter gesagt als getan.«
Kurz darauf kam sie mit drei vollen Gläsern ihres
Spezialgebräus an den Tisch. Sie setzte sich, hob ihr Glas und
sagte: »Die beste Medizin.«
Kirkus und ich griffen nach unseren Gläsern. Wir
beugten uns vor und stießen miteinander an.
Kirkus nippte an seinem Drink. »Grande«,
sagte er. »Mucho grande.«
Ich trank ebenfalls einen Schluck. »Rio
Grande.«
Eileen probierte ihren und sagte:
»Mississippi.«
Ich erhob mein Glas. »Auf Mark Twain.«
»Och nee«, sagte Kirkus.
»Hast du was gegen Mark Twain?«
»Er ist so plebejisch. Kein Wunder, dass du ihn
verehrst, Eduardo.«
»Huckleberry Finn ist der größte Roman aller
Zeiten.« Ich hatte einen winzigen Augenblick lang ein schlechtes
Gewissen, weil ich William Goldman verraten hatte. Aber wenn ich
behauptet hätte, The Temple of Gold oder Boys and Girls
Together wären die größten Romane …
»Ach, bitte«, sagte Kirkus.
»Es stimmt.«
»Amerikanisch«, sagte Eileen. »Der größte
amerikanische Roman vielleicht. Wenn man die Engländer, die
Russen und die Franzosen außen vor lässt …«
»Was haben die Franzosen denn jemals
geschrieben?«
»Dumas?«, sagte Eileen. »Schon mal was von Die
drei Musketiere gehört? Und was ist mit de Maupassant?«
»Nicht zu vergessen Sartre und Camus und Simone«,
sagte Kirkus.
»Ich mag Simone«, verkündete ich. »Der ist richtig
gut.«
»Sie«, sagte Kirkus.
»Mir gefällt sein Kommissar, Maigret.«
»Das ist Simenon«, korrigierte Eileen mich,
»Georges Simenon.«
»Ich habe von Simone de Beauvoir gesprochen, alter
Knabe.«
»Oh. Klar, natürlich. Die ist scheiße.«
Eileen lachte.
»Du musst es wirklich lieben, den Trottel zu
spielen«, meinte Kirkus.
»Also«, sagte ich, »wenn wir jetzt zu
Huckleberry Finn zurückkehren könnten, dem größten
amerikanischen Roman …«
»Völlig überschätzt«, unterbrach Kirkus.
»Hemingway sagt, es wäre der beste.«
»Das bestätigt meine Auffassung«, sagte
Kirkus.
»Ich plädiere für Atlas wirft die Welt ab«,
sagte Eileen. »Das ist das beste Buch, das ich je gelesen habe, und
es wird nicht mal in der Schule gelesen.«
»Wirklich nicht?«, fragte ich.
»Zumindest an keiner Schule, von der ich jemals
gehört habe. Und zwar deshalb, weil alle Lehrer Ayn Rand hassen.
Sie verbreiten Lügen über sie. Sie wollen nicht, dass Schüler ihre
Bücher lesen.« Stirnrunzelnd strich Eileen etwas saure Sahne auf
eine dampfende Tortilla. »Sie haben Angst vor jedem verdammten
Buch, das sie jemals geschrieben hat. Die meisten Lehrer sind
Kommunisten, falls ihr es noch nicht bemerkt habt.«
Da war plötzlich eine Seite Eileens, die ich noch
nicht kannte - die betrunkene, vermutete ich.
»Kommunisten?«, sagte Kirkus. »Um Himmels
willen.«
Sie kniff ein Auge zusammen und fixierte ihn. »Mein
Dad hat in Vietnam gegen die verfluchten Kommunisten gekämpft.
Findest du daran irgendwas lustig?«
»Tut mir leid, wenn ich dir auf die Zehen getreten
bin … oder auf die Zehen deines Vaters in seinen Kampfstiefeln.
Aber im Ernst, Kommunismus? Du musst zugeben, dass dieses
Thema mittlerweile ein wenig passé ist. Wodurch auch Ayn
Rands Bücher passé sind.«
»Hast du mal eins gelesen?«, fragte sie.
»Darauf würde ich meine Zeit nicht verschwenden«,
sagte Kirkus.
Sie zeigte mit der Gabel auf mich. »Was ist mit
dir, Eddie?«
»Leider nicht. Würde ich aber gern.«
Eileen drehte die Gabel zum Teller mit dem Fleisch
und
legte ein paar Streifen auf ihre Tortilla. »Atlas wirft die
Welt ab, Der ewige Quell, Vom Leben unbesiegt. Wir werden
gezwungen, jedes verdammte Buch zu lesen, das die paar ewigen
Auserwählten jemals geschrieben haben. Der große
Gatsby, um Gottes willen. Die Perle, um Gottes
willen.«
»Der scharlachrote Buchstabe«, ergänzte
ich.
»Nicht zu vergessen Madame Ovary«, sagte
sie. »Worum zum Teufel geht es darin überhaupt?«
Kirkus schüttelte den Kopf und wirkte sehr
enttäuscht von uns.
»Hunderte von Büchern«, fuhr Eileen fort.
»Bücher von jedem Hinz und Kunz, der jemals was geschrieben hat,
aber Ayn Rand? Nein. Nicht Rand. Sie ist besser als die meisten,
niemand ist besser als sie, aber sie wollen sie uns vorenthalten,
weil sie ihre Botschaft hassen.«
»Ihre Botschaft lautet Egoismus, meine Liebe«,
sagte Kirkus.
Eileen streute geriebenen Käse über das Fleisch und
begann, die Tortilla aufzurollen. »Sie wollen, dass du genau das
glaubst, um zu verhindern, dass du sie liest. Weißt du, was ihre
wahre Botschaft ist?«
»Ich fürchte, du wirst es uns erzählen.«
»Niemand hat das verdammte Recht«, sagte sie,
»etwas zu nehmen, was ihm nicht gehört. Eine Regierung zum
Beispiel. Die Regierung hat nicht das Recht, uns zu
irgendwas zu zwingen … nicht mal für das, was man
›Allgemeinwohl‹ nennt. Wir sind keine Sklaven. Wir haben einen
uneingeschränkten Anspruch auf die Früchte unserer Arbeit, und wir
schulden der Gesellschaft einen Dreck. Hast du schon mal von John
Galt gehört?«
»Natürlich«, sagte Kirkus und seufzte. »Wer ist
John Galt?«
»Wer ist John Galt?«, fragte Eileen
ihn.
»Augenscheinlich eine Schöpfung unserer
literarischen Göttin.«
»Er schaltete das Licht der Welt aus.«
Während sie diese Worte sprach, wurde ihre Stimme heiser, und
Tränen traten in ihre Augen.
»Und das bedeutet?«, fragte Kirkus.
»Es ist das, von dem sie nicht wollen, dass du es
herausfindest«, sagte Eileen. Sie wischte sich über die Augen,
trank einen Schluck und fügte hinzu: »Lies das Buch.« Dann nahm sie
ihre fertig gerollte Tortilla.
»Atlas wirft die Welt ab?«, fragte
ich.
Sie nickte und schniefte.
»Vielleicht werde ich es mal versuchen«, sagte
Kirkus. »Ein Roman, der die robuste Eileen zu Tränen rührt …«
»Pass auf mit Ausdrücken wie ›robust‹«, sagte
Eileen.
»Das bezog sich auf deinen Charakter, nicht auf
deinen Körperbau.«
»Stimmt was nicht mit meinem Körper?«
Ȇberhaupt nicht, Kleine. Von mir aus gesehen ist
er atemberaubend.«
»Danke.«
»Er ist doch atemberaubend, nicht wahr,
Eduardo?«, fragte er mich.
»Das will ich meinen«, sagte ich.
»Atemberaubend.«
»Das muss er natürlich sagen, schließlich ist er
dein Freund und kommender Liebhaber - verzeiht das Wortspiel -,
während ich völlig desinteressiert bin und die
Wahrheit ohne Angst vor Vergeltung aussprechen kann. Aus einer
absolut objektiven Perspektive kann ich sagen, dass dein Körper
wirklich extraklasse ist. Zumindest das, was ich davon gesehen
habe. Ich bin sicher, Edward ist in dieser Hinsicht im
Vorteil.«
»O je«, murmelte ich.
Er sah mich an. »Du hast ein Gespür für Wörter,
alter Knabe.« Zu Eileen sagte er: »Wo wir gerade davon reden, ich
hörte, dass die komplette Bande von Rüpeln Mittwochnacht ihre Augen
an deinen unbedeckten Titten geweidet hat. Anscheinend hat sie
jeder außer mir gesehen.«
Eileen starrte ihn an und legte den Kopf schräg.
»Wo hast du das denn aufgeschnappt?«
Kirkus sah mich an und grinste. »Sollte ich das
nicht erzählen?«
»Wolltest du nicht ›schweigen wie ein Grab‹?«,
fragte ich.
»Mir war nicht bewusst, dass das auch für die holde
Eileen gilt.«
Ich stöhnte.
»Kein Problem«, sagte Eileen. Dann schob sie sich
die Tortilla in den Mund und biss ein Stück ab. Während sie kaute,
wurden ihre Augen erneut feucht. Sie schluckte und wischte sich den
Mund mit einer Serviette ab. »Entschuldigt mich«, sagte sie.
Eileen schob ihren Stuhl zurück, stand auf und ging
aus der Küche.
Von meinem Platz aus sah ich, wie sie durchs
Wohnzimmer in den Flur ging. Kurz darauf wurde eine Tür
geschlossen. Offenbar war sie ins Badezimmer gegangen.
»Oje«, sagte Kirkus und grinste. »Meinst du, sie
hat etwas Falsches gegessen?«