Kapitel V

Da sind sie, Sandras Verwandte. In einem Sekundenbruchteil registriert Nelly die Szene: grauer Marmorkamin an einer Wand, Louis-Philippe-Möbel, riesiges Sofa, vier Sessel, alles mit abgenutztem Originalgobelin bezogen. Vor dem Sofa ein grünes Marmortischchen. Auf dem Boden alte Teppiche, teils fadenscheinig und restaurierungsbedürftig, aber sehr wertvoll. Eine Wand wird von einem wunderschönen Kelim eingenommen. Antike Porzellanvasen und düstere Bilder in ebenso dunklen Rahmen vervollständigen die Einrichtung. In der Luft ein leichter Geruch nach Moder, nach geschlossenen Räumen, nach … Niedergang? Die anwesenden Personen, eben noch ins Gespräch vertieft, wenden sich zur Tür und starren Sandra und Nelly schweigend an.

Auf dem Sofa sitzt Cousine Marilena, die plastische Chirurgin, in einem grauen Seidenkostüm, das dunkle, mahagonirot schimmernde Haar perfekt frisiert. Sie ist runder als Sandra, hat ebenfalls braune Augen und braune Haut und ein breites Gesicht, das mit dem Alter dick zu werden droht. Daneben steht, an eine grüne Marmorsäule gelehnt und in einer Haltung, die an die sepiafarbenen Aufnahmen der letzten Jahrhundertwende erinnert, der Künstler der Familie, der berühmte Regisseur Alceo Pisu. Er ist mittelgroß und dunkel, doch seine wilde Mähne ist inzwischen recht graumeliert. Mit einem dannunzianisch gelangweilten Gesichtsausdruck hebt er verächtlich eine Braue, und das ist der einzige Funke Leben in dieser vollkommen reglos scheinenden Szenerie. Auf einem Sessel sitzt Alice Pisu, die Witwe, mit dem gleichen weggetretenen Gesichtsausdruck wie bei der Beerdigung. Neben ihr steht der Sohn Giancarlo. In einem weiteren Sessel sitzt die Tochter Serena, die traurigen Augen ins Leere gerichtet.

Als wäre die Klappe eines Regisseurs gefallen, kommt plötzlich Leben in das gerade noch unbewegte Bild. Es ist Sandra, die den Zauber bricht:

»Meine Lieben, das ist meine Freundin Nelly Rosso, Kommissarin bei der Genueser Polizei. Komm, Nelly, ich stelle dir meine Cousins vor.«

Doch weiter kommt sie mit der Bekanntmachung nicht. Der Mann neben der Marmorsäule, den Nelly als den Regisseur erkannt hat, macht eine ungehaltene Handbewegung, wie um eine Fliege zu verscheuchen, und verzieht den Mund, als hätte sich das Zimmer durch ihr Auftauchen mit einem üblen Gestank gefüllt.

»Ich verstehe einfach nicht, was für einen Scheiß du dir da in den Kopf gesetzt hast, Sa. Was hat deine Freundin mit Anselmos Tod zu tun? Die Polizei schnüffelt sowieso schon überall herum, sogar obduziert haben sie ihn. Ohne Ergebnis. Ein Unfall, es war ein beschissener Unfall. Können wir also bitte aufhören, die Sache auf Teufel komm raus schlimmer zu machen, als sie ohnehin schon ist?«

Zum bewegten Bild hat sich der Ton gesellt. Nicht gerade eine Verbesserung. Alceo Pisu hat einen harten Bariton, der das ganze Zimmer erfüllt, man hört, dass er gewohnt ist, herumzukommandieren. Sandra lässt sich jedoch nicht einschüchtern.

»Du führst dich mal wieder auf wie die Axt im Wald, Alceo. Ich habe mit allen gesprochen, mit Marilena, mit Alice, alle waren einverstanden, nur du musst mich vor meiner Freundin blöd dastehen lassen, die ihren freien Tag opfert, um euch ein paar Fragen zu stellen.«

Sie sieht Nelly an. »Entschuldige, meine Liebe, er kann nichts dafür, dass er so ein Trampeltier ist.«

Alceo bricht in Lachen aus, kommt auf Nelly zu und streckt ihr in einer wie einstudiert wirkenden, theatralischen Geste die Hände entgegen.

»Meine liebe … Nelly?« – »Dottoressa Nelly Rosso.« – »Meine liebe Dottoressa Rosso, entschuldigen Sie meine Ehrlichkeit, die stets hart an der Grenze zur Unverschämtheit ist. Ich bin Alceo Pisu, Anselmos Bruder. Ich habe gewiss nichts gegen Sie, im Gegenteil, es ist sehr freundlich von Ihnen, sich den schönen Sonntag mit vollkommen Unbekannten zu versauen, die dazu noch in Trauer sind, ein Riesenspaß! Aber die Frauen der Familie sehen überall Gespenster und Verschwörungen. Ich hingegen nehme das Schicksal, wie es ist. Anselmo ist von uns gegangen, weil seine Zeit gekommen war, das ist alles. Friede seiner Seele, das Leben geht weiter, lasst es uns genießen, solange wir können.«

Anselmos Tochter Serena bricht wiehernd in Tränen aus, die Mutter presst die Lippen zusammen. Nelly macht einen Schritt in das Zimmer, während Marilena Pizzi sich vom Sofa erhebt und mit ausgestreckter Hand auf sie zukommt. Fast die identische Geste wie von Alceo. Sind in dieser Familie alle Schauspieler?

»Eigentlich war es meine Idee, Sie einzuladen. Ich bin Marilena Pizzi. Ich möchte mich für meinen Bruder entschuldigen, er muss immer den Grobian spielen und im Mittelpunkt stehen, ohne geht es nicht, die anderen sind ihm egal. Verzeihen Sie ihm, auch wenn er es nicht verdient. Herzlich willkommen und danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«

Mit der Schnelligkeit einer Schlange fährt sie zu ihrem spöttisch dreinblickenden Bruder herum.

»Wenn dich das Ganze nicht interessiert, mein lieber Alceo, wieso ziehst du nicht einfach Leine? Von uns wird dich bestimmt keiner vermissen.«

Marilenas Tonfall ist sanft und freundlich. Alceo zuckt nur grinsend mit den Achseln.

»Tja, also … bei all diesen Weibern, die mir in den Rücken fallen, habe ich wohl keine Chance, ich ergebe mich. Gnade, Erinnyen, entmannt mich nicht.« Er dreht sich um und ruft in Richtung einer zweiten Tür: »Magraja, wo zum Teufel steckst du? Komm her, wir wollen was trinken.«

Von der herrischen Stimme gerufen – in so einem Ton ist man früher allenfalls mit seinen Dienstboten umgesprungen, denkt Nelly –, erscheint eine hochgewachsene, schlanke Frau in der Tür, jedoch mit hängenden Schultern und leicht zur Seite geneigtem Kopf, was sie kleiner aussehen lässt. Als wollte sie sich unsichtbar machen. Sie ist irgendwas zwischen dreißig und vierzig, ihre Haut ist glatt, ohne eine einzige Falte, bemerkt Nelly, von ihrer Erscheinung fasziniert. Sie hat ein blasses Gesicht mit hohen Wangenknochen, eine wohlgeformte Nase, zwei unglaublich grüne Augen und einen Mund, der aussieht wie eine Wunde. Das hellbraune, straff zurückgekämmte Haar ist zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trägt einen schwarzen Pulli und einen grauen Rock mit schwarzen Streifen, ihr Gesicht ist vollkommen ausdruckslos. Das muss die zweite Schwester sein, Maria Grazia – Magraja? Selbst in dieser Aufmachung ist sie die Schönste der ganzen Familie. Die anderen sind alle irgendwie grobschlächtig, vulgär, aber sie …

»Was möchtet ihr trinken? Tee? Kaffee? Es ist alles fertig, ich bring’s euch. Und für dich, Alceo«, der Anflug eines vielleicht ironischen, vielleicht resignierten Lächelns huscht über ihre Züge, »gibt es Port, wenn du willst.« Alceo nickt, die anderen entscheiden sich für Tee oder Kaffee, und sie verschwindet wie eine Komparsin von der Bühne.

Inzwischen fragt sich Nelly, was sie eigentlich in diesem Käfig voller Narren verloren hat. Vielleicht hätte sie besser zu Hause bleiben und Schubladen aufräumen sollen, eine Sache, die sie hasst und so gut wie nie tut. Pflichtschuldig und mit noch immer abwesendem Blick drückt Alice ihre schluchzende Tochter an sich.

»Mein Mann war ein anständiger Mensch. Niemand kann etwas gegen ihn gehabt haben, er war ein redlicher Mann.«

Alceo schnauft und zündet sich eine Zigarette an.

»Der übliche Schwachsinn. Hin und wieder macht sich ein Mann Feinde. Und ein Anwalt erst recht. Redlich – was für ein Quark. Du weißt ganz genau, dass dein Mann ein nervtötender Kotzbrocken war, noch unerträglicher als ich. Damit will ich aber nicht sagen, dass jemand mit ihm abgerechnet hat.« Mit einer ungehaltenen Geste hindert er Sandra daran, ihn zu unterbrechen. »Doch dieses Gegreine vom toten Papa geht mir auf die Eier. Nur weil einer stirbt, wird er deshalb nicht zum besseren Menschen, oder? Im Gegenteil, er fängt an zu stinken.« Der berühmte Regisseur feixt in die verstörte Runde. Es ist offensichtlich, dass diese Auftritte zum Repertoire gehören und er es genießt, seine Umwelt zu schocken oder zumindest vor den Kopf zu stoßen. Nelly fällt auf, dass sie gar keine Fragen zu stellen braucht, die Antworten kommen von ganz allein. Diesmal fühlt sich Giancarlo, der Sohn des Verstorbenen, dazu berufen, einzuschreiten. Um das väterliche Andenken zu schützen? Weit gefehlt.

»Ich bin ganz deiner Meinung, Onkel. Papa wusste, wie man sich Feinde macht.« Oh-oh, jetzt wird’s interessant. »Und in mancher Hinsicht war er ein richtiges Schwein.« Die Schwester springt auf, stürzt sich erbittert auf ihn, doch er packt sie nur hämisch grinsend bei den Handgelenken. »Er hat sogar die beste Freundin unserer lieben Serena gebumst. Ach komm, das wusstest du doch, hör auf, die untröstliche Tochter zu spielen, oder wär’s dir lieber gewesen, er hätte dich rangenommen? Du weißt ganz genau, dass er mir die Freundin ausgespannt hat, deine alte Busenfreundin Gioia. Ja, genau so war’s.« Er blickt triumphierend in die Runde, weil er es geschafft hat, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und seinem Onkel die Show zu stehlen. »Er hat meine Mutter unglücklich gemacht, sie in ein mit Psychopharmaka vollgestopftes Wrack verwandelt, und ich soll sagen, er sei ein redlicher Mann gewesen, nur weil er mir den Gefallen getan hat, ins Gras zu beißen? Ach, leckt mich doch alle am Arsch!«

In der Stille, die der Szene folgt, betritt Maria Grazia mit einem Tablett in der Hand den Raum. Sie stellt alles auf dem grünen Marmortisch ab und verteilt mit anmutigen Bewegungen die bestickten Servietten. Wer möchte Tee? Wer Kaffee? Wie viel Zucker? Nelly ist von ihren unglaublich schönen Händen fasziniert, den langen Fingern und perfekt geformten Nägeln. Sie füllt eine Tasse nach der anderen mit duftender schwarzer oder goldschimmernder Flüssigkeit, tut auf Verlangen Zucker hinein und reicht sie den Anwesenden, ohne dass ein einziger Tropfen auf dem wertvollen Teppich landet. Die anderen wirken völlig ausgepumpt. Niemand spricht, jeder ist froh über die Waffenruhe und konzentriert sich auf seine Tasse. Nelly steht auf, tritt an eines der vier hohen, dunkel gerahmten Fenster und wirft einen Blick hinaus. Sie schiebt den Vorhang zur Seite, der das Licht ausgesperrt hat. Ein Balkon flankiert den Saal auf ganzer Länge. Nelly öffnet die Tür und schlüpft hinaus, um die klare Luft zu atmen. Sandra gesellt sich zu ihr.

»Entschuldige, Nelly. Hätte ich das geahnt …«

»Lass gut sein, Sa. Ist ja nicht deine Schuld, und der Tee ist ausgezeichnet. Zeigst du mir den Rest der Wohnung?«

Nelly geht hinein und stellt die Tasse zurück aufs Tablett. Maria Grazia trinkt im Stehen, neben der Tür, wie eine Angestellte. Sandra winkt sie heran.

»Magraja, Nelly würde gern die Wohnung sehen, wärst du so nett?«

»Aber natürlich, kommt, hier entlang.«

Nelly bemerkt, wie schlank sie ist und wie behände sie sich bewegt, wie jemand, der körperliche Arbeit gewöhnt ist, trotz der krummen Schultern und des ausweichenden Blicks. Sie laufen den endlosen Flur entlang, Maria Grazia öffnet die Türen zu zahllosen Zimmern: Bibliothek, Papas Arbeitszimmer, Anselmos Arbeitszimmer, Alceos Zimmer, Bad, noch ein Bad, dann biegen sie in einen abzweigenden Korridor und erreichen nach ein paar fensterlosen Räumen die Küche. O Gott, was ist das denn? Die Küche ist riesig. Die Möbel stammen aus den Sechzigern oder Siebzigern. Nur der Kühlschrank sieht neuer aus. Ein einziges Fenster und eine Tür, die auf einen Balkon hinausgeht. Nelly tritt hinaus, blickt hinunter, und ihr stockt der Atem. Der Innenhof ist ein finsteres, bodenloses Loch. Auf der einen Seite wird die sechste Etage um drei weitere überragt – war die sechste nicht die letzte? Dazu geht es mehrere Stockwerke tief in den Bauch der Erde hinab, bis weit unterhalb des Straßenniveaus, von dem aus Nelly das Haus betreten hat. Ein graues Wetterdach verdeckt den Himmel. Balkons und Eisenstiegen, überall liegt altes Zeug herum, eine Haushaltshölle, in der Generationen von Bediensteten gedarbt haben.

»Beeindruckend, nicht?« Sandra ist unbemerkt neben sie getreten.

»Das kannst du laut sagen.«

Sehnsüchtig denkt Nelly an ihre kleine Terrasse und kann es gar nicht abwarten, endlich von hier zu verschwinden. Doch die beiden Frauen führen sie in ein schummriges Schlafzimmer, fernab vom Rest des Hauses. Einsam, riesig und schlecht beheizt. Unangenehmer Uringeruch liegt in der Luft. Maria Grazia blickt sie entschuldigend an. Im Ehebett erkennt Nelly einen zusammengekauerten Schemen. Auf der Kommode allerlei medizinische Instrumente, Arzneimittel, ein Blutdruckmessgerät. Auf einem Stuhl eine mit einem Handtuch zugedeckte Bettpfanne.

»Seit drei Jahren ist Mama in diesem Zustand. Nach ihrem Schlaganfall hat sie sich nicht mehr erholt. Manchmal geht es ihr ganz gut, dann kriegt sie mit, was um sie herum passiert, und versucht, etwas zu sagen. Ich tue für sie, was ich nur kann.«

Nelly denkt, in so einem Zustand wäre es besser, gar nichts mehr mitzukriegen, doch sie nickt.

»Und was halten Sie von den Drohbriefen, Maria Grazia? Hier sind die doch auch angekommen, nicht wahr?«

Maria Grazia zieht die Schultern hoch und presst die Lippen zusammen.

»Ich habe dazu keine Meinung. Natürlich ist das sehr merkwürdig. Seit Papa gestorben ist, hängt der Familiensegen schief. Er hat die Kinder zusammengehalten. Er war ein ganz besonderer Mensch, wissen Sie? Sehr stark.«

Marilena ist im Flur aufgetaucht und hat den letzten Satz mitbekommen. Mit einem spöttischen kleinen Lachen gesellt sie sich zu Nelly und den anderen beiden.

»Unsere kleine Magraja lobt Papa mal wieder in den Himmel. Ihr geliebter Papi … Liebe Dottoressa Rosso – darf ich Sie Nelly nennen?« – »Bitte.« Nellys Blick fällt auf die speckige Hand mit den kurzen, schwarz lackierten Nägeln, die sich ihr auf den Arm legt und sie zu einer Seitentür zieht, während Maria Grazia wie erstarrt dasteht und sofort kapiert hat, dass die Schwester sie bei der Unterredung mit dem Gast nicht dabeihaben will.

»Sie müssen nicht glauben, dass wir alle völlig durchgedreht sind, Nelly. Wir sind eine ganz normale Familie, oder vielmehr, wenn man unsere Lebensläufe ansieht, meinen, Anselmos, Alceos, durchaus über dem Durchschnitt. Anselmos plötzlicher, sinnloser Tod hat uns tief erschüttert, Alceo mehr als alle anderen. Und was Giancarlo angeht, so war der schon immer neidisch auf seinen Vater. Er hat nichts auf die Reihe gekriegt, wissen Sie? Er hat die Uni nicht fertiggemacht, dabei ist er gar nicht blöd. Nur dass er mit zwanzig plötzlich diese Krisen bekommen hat … Nun ja, er leidet an Schizophrenie. Mit Medikamenten kriegt man die Krankheit zwar in den Griff, aber mehr erreicht man im Leben nicht, nicht wahr?«

Mit zur Seite geneigtem Kopf beobachtet sie die Wirkung ihrer Worte.

»Wie traurig für ihn. Und seine Freundin? Wieso hat sie ihn verlassen?«

»Na, deswegen, nicht wahr? Wenn Sie wüssten, wie der wird, wenn er nicht dauernd unter Kontrolle ist. Den müsste man einliefern. Die arme Gioia hat das einfach nicht mehr ausgehalten, von wegen Affäre mit meinem Bruder Anselmo. Er ist nicht nur schizophren, sondern auch paranoid, überall sieht er Feinde, Fallen, Hinterhalte. Dass seine Mutter Psychopharmaka nimmt, liegt ganz bestimmt nicht an meinem Bruder.«

Nelly wartet, bis Marilena Luft holt, um in ihren Wortschwall eine Frage einzuschieben.

»Könnte Giancarlo dem Vater etwas angetan haben? Vielleicht die anonymen Briefe geschrieben haben?«

Marilena Pizzi verzieht das Gesicht.

»Keine Ahnung, aber ich glaube nicht. Bisher ist er nie gewalttätig gewesen. Und was die Briefe betrifft, weiß ich nicht, was ich denken soll, Nelly. Vielleicht ist es einfältig, sich aufzuregen und einschüchtern zu lassen, und die Briefe sind nur ein dummer Scherz, wie Alceo behauptet und wie auch ihr Kollege, Hauptkommissar Rivelli meint. Wenn nur mein Vater vor seinem Tod nicht auch einen Drohbrief erhalten hätte. Den habe ich nach seiner Beisetzung in seiner Schreibtischschublade gefunden und dummerweise vernichtet. Hätte ich das bloß nicht getan. Ich erinnere mich nicht mehr genau, was da drin stand, es hatte etwas mit seiner Vergangenheit zu tun. Glaube ich zumindest. Sicher weiß ich, dass er nicht aus Zeitungsbuchstaben zusammengesetzt war wie die anderen, er war mit dem Computer geschrieben. Ein paar sardische Wörter waren auch darin. Ihrem Kollegen habe ich nicht davon erzählt, keine Ahnung, warum …«

»Wie ist ihr Vater gestorben, Marilena?«

Zum ersten Mal senkt Marilena ihren penetranten Blick und schweigt ein paar Sekunden lang. Dann sagt sie mit unmerklich zitternder Stimme: »Mein Vater ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Er wollte den Corso Italia überqueren, dabei hat ihn irgendein Mistkerl voll erwischt. Und ist abgehauen.«

Überrascht runzelt Nelly die Stirn.

»Abgehauen? Haben sie den Fahrerflüchtigen denn gefunden?«

»Leider nein. Es war Nacht, es goss in Strömen, keine Zeugen. Ich bin die Einzige, die von diesem Brief weiß. Deshalb sind die anderen Drohbriefe mir nach dem, was Anselmo zugestoßen ist, in einem anderen Licht erschienen. Ich hab gedacht, vielleicht … Na ja, jetzt ist Anselmo auch zu Tode gekommen. Durch einen Unfall. Genau wie Papa.«