Die Statisten blieben noch da, weil jetzt die Massenszenen und alle anderen Szenen, für die man keine Hauptdarstellerin benötigte, gedreht werden sollten.
Honey schaute dem geschäftigen Treiben zu. Es geschah nichts Erwähnenswertes. Das heißt, es wurde niemand umgebracht. Die Leute – vielmehr die Statisten – lungerten einfach herum.
Der Mann, der neben Honey saß, war als irgendein Handwerker kostümiert. Er erzählte ihr, dass er Bernard hieß und gern Statistenrollen übernahm, wenn er nicht gerade alte Gebäude renovierte, die dann vermietet wurden.
»Ich habe früher in der Londoner City gearbeitet, in der Nähe der Bank of England. Ich war Aktuar.«
»Ist das so was wie Börsenhändler?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, es hat was mit Banken und Versicherungen zu tun. Ich musste die Risiken und Möglichkeiten der verschiedenen Anlagen und Versicherungen und so weiter berechnen – natürlich alles im ganz großen Maßstab. Aber ich wollte mich verändern. Ich mache mir gern die Hände schmutzig, wenn ich an den Häusern arbeite. Aber ab und zu brauche ich ein bisschen Abwechslung. Ich finde es toll, neue Leute zu treffen. Außerdem ist das Essen hier immer gut.«
Kaum war das Essen erwähnt worden, da knurrte auch schon Honeys Magen. Im Februar sollte niemand eine Diät anfangen.
Mit gehäuft vollen Papptellern in der einen und Bechern mit dampfend heißem Kaffee in der anderen Hand machten sie sich auf den Weg zum Statistenbus.
Unten war alles schon besetzt. Also stiegen Honey und Bernard ins Oberdeck und fanden auch ziemlich weit vorn Sitzplätze und einen kleinen Resopaltisch.
»Schöne Aussicht«, meinte Honey, nachdem sie ihre Beute abgestellt hatte.
Bernard nickte zustimmend. »Ja, von hier aus kann man bis auf die andere Seite des Parks schauen.«
Es klang ganz so, als sei er vom Panorama beeindruckt. Honey jedoch hatte sich darauf bezogen, dass man von hier bestens auf Martyna Manderleys Wohnwagen hinuntersehen konnte. Da war einiges los.
Ein Schlepper hatte einen neuen Wohnwagen herangefahren, den Martynas Nachfolgerin benutzen würde. Ein Trupp muskelbepackter Männer versuchte gerade, ihn an die richtige Stelle zu manövrieren.
Honeys Begleiter hatte seine Aufmerksamkeit bereits dem Essen zugewandt. Bernard rieb sich zufrieden die Hände und machte sich dann über seine Steak-and-Kidney-Pastete her.
»Sehr schön! Wirklich ganz besonders schön! Eine knusprig goldene Kruste, darunter bestes Steak und eine leckere, sämige Soße.«
Honey folgte seinem Beispiel. Ihr war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass sie wieder einmal von ihrem Diätplan abwich. Sie hatte sich für ein Risotto entschieden. Das Essen war gut. Die Plastikgabel war klein und bog sich. Also nur kleine Portionen, alles andere fiel herunter.
Schließlich war sie es müde, das Risotto auf dem Teller hin und her zu schieben, und schaute zu, wie der neue Wohnwagen an Ort und Stelle gehoben wurde. Der alte war noch ringsum mit dem Markierungsband der Polizei umgeben, wie ein übergroßes Geburtstagspäckchen.
Bernard schüttelte den Kopf. »Ich möchte wetten, die Versicherung kriegt langsam kalte Füße wegen dieser Produktion.«
»Hm.« Honey stimmte ihm zu. »Ich nehme an, die müssen die Kosten für die verlorenen Drehtage zahlen.«
»Wesentlich mehr. Die gesamte Produktion ist bis zum Ende versichert. Es ist schon vorgekommen, dass Versicherungen Millionen zahlen mussten, wenn irgendwas passiert, was die Dreharbeiten stoppt, weißt du. Zum Beispiel wenn sich der Star verletzt oder dagegen klagt, dass er entlassen wurde. Aber es geht dabei nicht immer um eine echte Verletzung oder gar einen Todesfall. Manchmal ist der Produktionsgesellschaft schon während des Drehs klar, dass der Film ein Flop wird, und sie versucht, irgendwie von der Versicherung eine fette Summe zu ergaunern.«
»Sind die denn gegen alle möglichen Sachen versichert?«
»Klar doch.«
»Zum Beispiel dagegen, dass ein Superstar abgemurkst wird?«
»Auch dagegen waren sie sicher für eine sehr vernünftige Prämie versichert. Ich meine, es ist ja ziemlich unwahrscheinlich, dass ein Star während des Drehs stirbt, es sei denn, er ist schrecklich alt.«
»Also mussten sie nur wenig bezahlen, bekommen aber jetzt eine große Versicherungssumme ausgezahlt?«
»Darauf kannst du wetten!«
Obwohl Bernard nicht gerade der aufregendste Gesellschafter war, hatte er ihr doch ein paar sehr interessante Dinge mitgeteilt. In Honey stiegen ein paar Gedanken auf, die sie sehr verstörten. Überall lauerte die Möglichkeit für schreckliche Unfälle. Und für Mord, wenn auch vielleicht nicht ganz so häufig.
Sie schaute auf ihre jämmerliche Gabel mit Risotto und fragte sich, wie gefährlich die wohl war. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihr im Hals steckenblieb und sie daran erstickte? Wie hoch das Risiko, dass sie die Treppe herunterfallen würde, wenn sie sich aufmachte, um den Pappteller und die Plastikgabel in die Mülltonne zu werfen?
Draußen brüllte jemand Anweisungen, und sie schaute wieder zu dem Manöver vor dem Bus.
Gerade wurde Martynas Wohnwagen hochgezogen. Bis jetzt schwebte er nur ein paar Meter über dem Boden. »Was ist, wenn ein Wohnwagen, der an einem Kranhaken hängt, plötzlich auf einen Bus voller Statisten heruntersaust, die gerade ihr Essen mampfen? Würde die Versicherung auch dafür zahlen?«
»Das ist ein klarer Fall von Haftung gegenüber der Öffentlichkeit. Im Todesfalle würde deine Familie ausgezahlt werden.«
»Das ist ja mal ein Trost. Meine Tochter würde sich wahrscheinlich ein Museum kaufen. Und meine Mutter würde wahrscheinlich in eines einziehen.«
Ganz gleich, wie sehr sie sich darauf konzentrierte, was Bernard ihr erklärte – und es war ja alles sehr vernünftig –, die Szene vor dem Fenster begann langsam richtig gefährlich auszusehen. Der Kran hatte den Wohnwagen auf Dachhöhe hochgezogen. Der schwankte und trudelte am Ende des Stahlseils.
Bernard merkte, dass sie ihre Aufmerksamkeit nicht mehr auf ihn konzentrierte. »Du fragst dich wahrscheinlich, ob er fallen wird. Im Lichte dessen, was ich dir gesagt habe, erwägst du alle Möglichkeiten.« Er kaute und schmatzte lautstark weiter, während er sprach.
Honey hielt ihr Augenmerk auf den Wohnwagen gerichtet.
»Ich hatte darüber nachgedacht.«
Bernard legte eine kleine Pause ein, nachdem er den letzten Bissen seiner Pastete verputzt hatte, und widmete sich dann mit Begeisterung der übervollen Schüssel mit Trifle1, die er sich geholt hatte.
»Sieht nach einer recht prekären Operation aus. Eigentlich sogar ziemlich furchteinflößend.«
»Wirklich?« Das hatte sie nicht hören wollen. Dieser Typ kannte sich doch mit Risiken und Wahrscheinlichkeiten aus. Sie zwang sich, wieder an die Fragen zu denken, die sich in diesem Mordfall noch ergeben hatten. »Ich kann einfach nicht glauben, dass jemand nur um des Geldes willen einen Mord begeht. Ich muss ziemlich naiv sein. Kann es sein, dass eine Produktionsgesellschaft in eine so verzweifelte Lage gerät?«
»Hängt ganz davon ab, wie gesund die Finanzen von Banana Productions Limited sind«, erklärte Bernard zwischen Schmatzern.
Honey verging der Appetit. Bernard hatte ihr da ein paar ziemlich schwerverdauliche Bemerkungen vorgesetzt. Die Sache mit dem schaukelnden Wohnwagen machte es auch nicht besser. Er hing in der Luft und warf einen langen, dunklen Schatten, der sie sehr nervös werden ließ. Eine plötzliche Windbö brachte das Ding ins Kreiseln. Die Männer am Boden schauten nach oben, schoben ihre grellgelben Schutzhelme nach hinten. Sie wirkten aufgeregt. Irgendjemand brüllte etwas.
»Ich glaube, ich mag jetzt keinen Trifle«, sagte Honey, die bereits aufgestanden war.
»Äh …« Bernard wollte seinen Nachtisch nicht gern ungegessen stehen lassen.
Der Schatten des Wohnwagens fiel auf sie.
Die Männer mit den Schutzhelmen schrien etwas. Der Wohnwagen schwankte noch mehr. Plötzlich wurde es ganz finster im Bus. Alles wackelte, als die eine Seite des Wohnwagens am Dach des Doppeldeckers entlangschrammte.
Honey rannte auf die Treppe zu. Bernard folgte ihr auf den Fersen. Konnten sie es noch ins Freie schaffen?
Honey hieb auf den Knopf ein, der die Tür öffnete. Ganz langsam und träge schob sie sich die ersten paar Zentimeter auf. Honey zerrte daran und war erstaunt über ihre Körperkräfte. Wenn eine Frau gegen die Gefahr kämpft, können eben alle Elektromotoren einpacken!
»Weit kann das Ding nicht fallen«, meinte Bernard.
Honey konstatierte, dass er ein Feigling war. Alles, was nach oben geht, muss auch irgendwann einmal wieder runterkommen, konnte Honey gerade noch denken. Selbst wenn es an einem superzugfesten Stahlseil hing.
Und richtig, der Wohnwagen krachte zu Boden.
Alle starrten mit weitaufgerissenen Mündern zur Absturzstelle – außer den Typen mit den Schutzhelmen. Die kommentierten die harte Landung des Wohnwagens mit einigen markigen Worten, von denen sicherlich keines Aufnahme in einem Drehbuch für einen jugendfreien Film finden würde.
Bernard sagte, was alle ohnehin schon selbst gesehen hatten: »Ich glaube nicht, dass jemand verletzt ist. Das Ding ist nur ein bisschen unsanft gelandet.«
»Ja, das habe ich auch gemerkt. So unsanft, dass es beinahe den Bus umgehauen hätte.«
Weil der fallende Wohnwagen ihn gestreift hatte, war der Wagen des Tatortteams ein wenig weitergerollt, aber inzwischen wieder zum Stillstand gekommen.
Plötzlich wurde die Tür von Martynas Wohnwagen aufgerissen. Das Absperrband der Polizei zerriss, als eine in warme Wollsachen gemummelte Gestalt herausstürzte und die Stufen hinunterrannte.
»Wer zum Teufel ist das denn?«
Bernard zuckte die Achseln.
Eigentlich hatte sie das zu sich selbst gesagt. Honey war nach wie vor ganz angespannte Aufmerksamkeit. Da war jemand an einem Ort gewesen, wo er rein gar nichts zu suchen hatte. In diesem Wohnwagen hätte niemand sein dürfen.
»Es sollte eigentlich ein Polizist dort Wache schieben. Wo ist der?«, murmelte Honey zu sich selbst.
Bernard meinte, sie hätte mit ihm gesprochen.
»Vielleicht ein dringendes Bedürfnis?«, schlug er vor. Plötzlich irritierte sie seine freundliche Stimme.
»Dem dreht Steve Doherty den Hals rum! Hier, halte mal!«
Aus irgendeinem Grund hatte sie den Teller mit dem Rest Risotto noch in der Hand. Sie klatschte ihn Bernard vor den Bauch. Risotto und Plastikbesteck flogen in alle Richtungen.
Doch wenn eine Frau eine Aufgabe zu erfüllen hat, kann sie auf solche Kleinigkeiten keine Rücksicht nehmen. Sie hatte die Verfolgung aufgenommen.
Von der vermummten Gestalt war keine Spur zu sehen.
Positiv denken!, beschwor sie sich, während sie rannte. Wenn ich von diesem Platz abhauen wollte, würde ich auf eine der drei Straßen zuhalten, die den Häuserkreis durchbrechen.
Aber auf welche?
Es hielten sich nur wenige Leute in der Umgebung auf. Nachdem sie im Bus oder am Cateringwagen ihr kostenloses Essen gemampft hatten, waren viele Statisten und einige von der Crew in den Salamander gegangen, eine kleine Kneipe mit einer phantastischen Atmosphäre.
Alle, die sie fragten, berichteten das Gleiche. Klar, sie hatten bemerkt, wie jemand vorbeirannte, aber sie waren zu sehr davon gebannt gewesen, wie der Wohnwagen vom Haken fiel. Haben Sie das auch gesehen? Haben Sie’s gesehen?
»Ich bin für so was einfach nicht gebaut«, murmelte Honey vor sich hin, während sie weiterrannte. »Und ich habe nicht mal einen Sport-BH an!«
Keuchend und mit hüpfenden Brüsten rannte sie weiter. Ein Sprint war es nicht gerade, aber sie war doch ziemlich flott unterwegs.
Da lief ihr Boris Morris, der unglückselige Regisseur dieses Films, vor die Füße. Für seine gegenwärtige Laune brauchte sie keinerlei Erklärung. »Ich bin stocksauer« war überdeutlich von seinem Gesicht abzulesen. Obwohl er im Augenblick versuchte, das Beste aus der Situation zu machen. Zweifellos lag das an seiner Begleitung. Sie war blond und schlank und hatte herrliche Kurven an genau den richtigen Stellen – nicht zu viele und nicht zu ausladende.
Honey klatschte sich die Handflächen vor die bebende Brust und kam atemlos zum Stillstand. »Haben Sie hier jemanden vorbeirennen sehen?«
Während sie auf die Antwort wartete, beugte sie sich ein wenig zur Seite, um an ihm vorbeischauen zu können. Wer immer aus dem Wohnwagen herausgekommen war, konnte doch so weit noch nicht sein.
»Ich weiß nicht. Vielleicht. Das passiert doch andauernd. Leute brechen in Martynas Wohnwagen ein, um Erinnerungsstücke zu klauen. Autogrammjäger und dergleichen. Also, könnten wir woanders hingehen?«
Boris Morris war gereizt, als wäre für ihn der Mord an Martyna Manderley schon Vergangenheit. Er hatte ihn bereits abgehakt und wurde nicht gern daran erinnert.
Honey wandte sich seiner Begleiterin zu. »Haben Sie was gesehen, Miss?«
»Ich glaube, sie ist in diese Richtung gerannt.«
Honey dankte ihr. Da erkannte sie den Fernsehstar Penelope Petrie.
»Willkommen am Set, Miss Petrie.«
»Danke. Ich freue mich, dass ich hier bin.«
Honey zog in die angezeigte Richtung los und überlegte, warum man Penelope Petrie für die Rolle der Jane Austen ausgewählt hatte. Ihr Akzent war alles andere als britisch und elegant – er klang eher nach den Südstaaten der USA, genauer gesagt nach Atlanta in South Georgia.
Sie befragte noch ein paar Leute zu der gutvermummten Gestalt, die sie aus dem Todeswagen hatte kommen sehen.
»Haben Sie jemanden gesehen?«
Niemand hatte etwas oder jemanden gesehen. Ganz gleich, wie sehr Honey sie bedrängte, sie hatten alle einen leicht glasigen Blick, die meisten starrten auf die zweite Regieassistentin, die Leute für die nächste Szene zusammentrieb. Es war eine junge Frau mit Locken und einem buntgestreiften Schal. »Wir brauchen drei Leute hier und drei da drüben.« Sie deutete auf einen Papierkorb, der an einem Laternenmast hing, und auf eine Parkuhr. Beides musste vor der Kamera verborgen werden.
Shakespeare hatte recht: Die ganze Welt ist Bühne, und alle Frau’n und Männer bloße Spieler2, überlegte Honey. »Und wenn sie dabei nur einen Papierkorb verbergen«, murmelte sie vor sich hin.
Der Polizist, der vor dem Wohnwagen hätte Wache halten sollen, kam gerade aus dem Toilettenhäuschen, das man am Drehort aufgestellt hatte.
Honey ließ ihn ihre Wut spüren. »Steve Doherty macht Hackfleisch aus Ihnen!«
»Wer sagt das denn?«
»Wir beide sind ziemlich eng befreundet.«
Er wurde blass. Es gehörte sich nicht, dass eine Frau oder Freundin einem Vorgesetzten etwas petzte.
Er brachte die offensichtliche Entschuldigung vor. »Ich musste mal.«
»Warum haben Sie dann nicht jemanden herbeigerufen, der sie ablösen konnte, während sie aufs Klo gingen?«
»Das ist doch nur ein Wohnwagen.«
»Nun, es ist jemand kurz reingegangen, während sie weg waren. Hat höchstwahrscheinlich ein Erinnerungsstück an den großen Filmstar geklaut und ist dabei quer durch die Indizien getrampelt. Da wird sich aber die Forensik freuen!«
Ihm wich alle Farbe aus dem Gesicht. »Großer Gott!«
Mit wehenden Rockschößen rannte er fort und hielt sich die Mütze mit der Hand fest.
Honey hatte es nicht übers Herz gebracht, ihn darauf hinzuweisen, dass sein Hosenschlitz offenstand. Aber andererseits hatte er es nicht besser verdient. Sollte er sich doch was abfrieren!
»Wow!«, kommentierte Bernard, der wieder zu ihr gestoßen war. »Könntest du mit mir auch mal so reden?«
Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Nein, das könnte ich nicht!«
Dann rief sie Doherty an und berichtete ihm, was geschehen war.
»Hast du gesehen, wer es war?«
»Nein.«
Das war eben das Problem im Februar. Alle waren verkleidet. Das Wetter verlangte es so.