Der Zug von Paddington Station nach Bristol, mit Halt in Reading, Swindon und Bath Spa, war gesteckt voll. Honey war wie eine Sardine zwischen Leuten eingequetscht, die müde auf dem Heimweg von der Arbeit waren und sich sämtlich durch massige Körper und zweifelhafte persönliche Hygiene auszeichneten.
In Reading lichtete sich die Menge ein wenig, sodass die Luft geringfügig linder wurde und Honey sogar die Gelegenheit bekam, auf einen freien Sitzplatz zu sinken.
Der Zug fuhr pünktlich im Bahnhof von Swindon ein. Wie eine Flutwelle schwappten Menschenmassen aus den Waggons auf den Bahnsteig. Honey flutete mit.
Der Goats’ Cheese Nightclub befand sich in der Altstadt von Swindon, in einem Viertel, das weniger historisches Erbe zu bieten hatte, als der Name vermuten ließ. Swindon war eine Eisenbahnerstadt gewesen, in deren Werkstätten einmal Tausende von Menschen gearbeitet hatten. Inzwischen hatte man die einst stolzen viktorianischen Gebäude zu Werkverkaufsstellen von Designern, einem Museum und schicken Büros umgebaut. Und natürlich zu einem Nachtklub!
Honey dachte über den Namen nach. Goats’ Cheese – Ziegenkäse. Da musste jemand sturzbesoffen gewesen sein, als er den Namen ausgewählt hatte. Aber was soll’s. Wenn man betrunken ist, geht wahrscheinlich jeder gute Geschmack flöten.
Da sie unter Zeitdruck stand, nahm sie ein Taxi.
Der Nachtklub war in zwei Stockwerken eines Gebäudes untergebracht, das wahrscheinlich einmal ein Lagerhaus gewesen war. Es war früh am Abend, also hatte er noch geschlossen. Die Tür aus massivem Eichenholz hatte keinen Türklopfer wie früher, sondern eine Klingel und eine Wechselsprechanlage.
Honey drückte auf den Knopf. Nach mehrfachem Schellen antwortete eine Frau.
»Ich möchte Perdita Moody besuchen und ihr von ihrer Tante etwas ausrichten.«
Die weibliche Stimme am anderen Ende bat sie, einen Augenblick zu warten. Nach ein paar Minuten war sie wieder da.
»Sie ist nicht sicher, dass sie Ihnen glauben kann. Könnten Sie mir den Namen der Tante nennen?«
»Miss Cleveley, manchmal auch Jane Austen.«
»Momentchen.«
Noch einige Minuten Stille, dann hörte Honey ein elektrisches Summen, eine Hälfte der Doppeltür ging auf, und eine mondgesichtige Frau schaute heraus.
Dicke schwarze Wimpern klimperten misstrauisch, als die Frau sie von Kopf bis Fuß musterte.
»Ich komme in friedlicher Absicht«, sagte Honey. »Ehrlich.«
Humor war an diese Frau verschwendet. Oder vielleicht hatte sie immer diese erbärmliche Miene, die hängenden Mundwinkel und schlaffen Wangen. Ihre Backen waren in einem nicht gerade schmeichelhaften Ochsenblutrot geschminkt.
Die Frau machte die Tür ein wenig weiter auf. Offensichtlich galt das als Aufforderung zum Eintreten.
Honey schaute ihr Gegenüber von oben bis unten an. Sie trug ein petrolgrünes Kostüm. Der Kragen der violetten Seidenbluse zerstörte allerdings den Business-Look, auf den sie es vielleicht angelegt hatte. Genauso wie die einreihige Perlenkette und das zu dick aufgetragene Make-up.
»Ich bin Clara Beaumont, die Managerin der Dolly Boys«, sagte sie mit tiefer, rauchiger Stimme. »Die Truppe probt gerade. Sie werden also warten müssen, bis sie fertig sind. Sie können aus der Kulisse zuschauen.«
Honey erwiderte, dass sie diese Gelegenheit gern ergreifen würde. Clara führte sie über einen schwach beleuchteten Korridor mit karmesinrotem Teppich. Schließlich stand sie in den Kulissen und genoss einen hervorragenden Blick auf die Bühne.
»Sie können hier warten«, sagte Clara. »Ich bin gleich wieder da.«
»Sollte ich …?«
Sie wollte gerade fragen, ob sie Perdita gleich ansprechen oder besser warten sollte, bis die Tanz- und Gesangsnummer vorüber war.
Sie hatte gerade den Mund aufgemacht, als Clara bereits mit Riesenschritten auf ein Schild zustrebte, auf dem »Toiletten – Herren (rechts) und Damen (links)« stand. Sie bog nach rechts in die Herrentoilette ein. Na ja, irren konnte sich jeder einmal.
Honey wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Bühne zu. Eine Truppe von etwa zehn sehr hochaufgeschossenen Frauen kam gerade zum Ende einer Nummer aus dem Musical Schach. Es war irgendwas über eine Nacht in Bangkok. Außerordentlich aufreizend.
Ein langer, dünner Mann, der wohl der Choreograph war, schnipste mit den Fingern.
»Noch einmal von vorn, Mädels und Jungs. Auf die Plätze.«
Er hatte sich einen rosa Schal um den Hals geschlungen und trug einen hellgrauen Pullover und passende Hosen.
Die Tänzerinnen hatten alle glitzernde, paillettenbesetzte Kleider in verschiedenen Abstufungen von Violett, Rosa und Indigo an.
In ihren Jugendjahren hatte Honey ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, zur Bühne zu gehen, nach Herzenslust zu singen und die Beine zu schmeißen. Leider hatte sie keine besondere Singstimme, und ihre Beine waren ein wenig kurz geraten. Außerdem waren die Bezahlung und die Aussichten nicht sonderlich verlockend gewesen. Eine Karriere auf der Bühne konnte eine ziemlich heikle Sache sein – es sei denn, das Glück war einem hold, oder man hatte genug Geld geerbt oder keine andere Wahl.
Sie erkannte Perdita von den Fotos. Ihr Kleid war eine Wucht. Es schmiegte sich an ihre schlanke Figur und war auf der rechten Seite bis zum Oberschenkel geschlitzt. Die Pailletten auf den Strümpfen glitzerten wie Sterne das ganze Bein hinauf bis zur Taille.
Der Choreograph überprüfte Perditas Pose und machte ihr vor, was sie verändern sollte.
Wieder setzte die Musik ein. Honey tappte mit dem Fuß im Rhythmus. Sie begann die wenigen Worte mitzumurmeln, an die sie sich erinnern konnte.
Zack! Da fiel auf einmal das letzte Puzzleteilchen an die richtige Stelle. War in dem Song nicht die Rede vom Er, der eine Sie ist? Genau wie in der Zeitungsannonce! Mädchen wollen Jungen sein und Jungen wollen Mädchen sein.
»Scheiße!«
Ihr fiel es wie Schuppen von den Augen.
Claras tiefe Stimme mochte ja für eine junge Frau noch angehen. Wenn sie nicht auf die Herrentoilette gegangen wäre!
Honeys Augen wanderten von einer Tänzerin zu anderen. Ganz unbefangen suchte sie nach verräterischen Dellen in den weiblichen Kostümen. Sie konnte es sich nicht verkneifen. Ja, die Bewegungen der Wesen in den glitzernden Gewändern waren elegant und sexy. Für die unwissende Zuschauerin waren das einfach nur wunderbar hochaufgeschossene, athletisch gebaute junge Frauen. Aber wenn man ein wenig genauer hinschaute …
Sie erinnerte sich an die Fotos. Wie dumm, dass sie es nicht früher bemerkt hatte. Perdita hielt stets ihre Hände und Füße aus dem Bild. Und warum? Weil sie groß und unfeminin waren, weil Perdita wie der Rest der Truppe und ihre Managerin Clara ein Mann war!
Als die Nummer zu Ende war, kamen die Tänzerinnen glitzernd und mit Strass und Pailletten geschmückt auf sie zu.
»Perdita?«
Perdita blieb stehen. Sie schaute ein wenig misstrauisch. Die anderen jungen Frauen rauschten vorbei.
Honey musterte das hübsche Gesicht. Es sah genauso aus wie auf den Fotos.
»Können wir uns hier unterhalten?«
Die hochaufgeschossene Person vor ihr nickte und fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe, wobei sie eine Lage Lippenstift abschleckte.
»Die Mädels haben es eilig. Die brauchen eine Erfrischung.«
Seine Stimme, die für einen Mann erstaunlich hoch war, überraschte sie. Honey fragte sich, ob Perdita die Verwandlung in aller Gründlichkeit vorgenommen hatte. Sie war aber zu diskret und höflich, um sich danach zu erkundigen.
»Ich habe die Wahrheit gesagt. Ihre Tante macht sich Sorgen um Sie. Aber ich muss Sie noch etwas anderes fragen. Es hat mit einem Mann namens Brett Coleridge zu tun. Ich habe mir erzählen lassen, dass Sie ihn im Regency Garden Hotel besucht haben. Können Sie mir das bestätigen?«
Perditas stark geschminktes Gesicht wurde starr.
»Diesen Gesichtsausdruck sollten Sie vermeiden«, empfahl Honey. »Dann sieht man Ihren Fünf-Uhr-Schatten.«
Perdita fuhr sich so besorgt übers Kinn, dass Honey schon ein schlechtes Gewissen bekam, weil sie überhaupt etwas gesagt hatte.
»Es tut mir leid. Ich wollte nicht unhöflich sein. Es ist nur so, dass ein Mord geschehen ist …«
Perdita japste entsetzt und klatschte sich mit der flachen Hand vor die Brust. In den kugelrunden Augen spiegelte sich Angst.
»Wer? Wer ist ermordet worden?«
Es klang so, als würde Perdita jeden Augenblick in Ohnmacht fallen.
Da änderte sich die Miene des jungen Mannes. »Die Schlampe.«
»Aha. Sie denken also auch nicht, dass sie ein großer Star war, der sich voller Hingabe seiner Berufung widmete?«
»Die Hingabe war ausschließlich ihr selbst gewidmet. Nun ja, in einer Hinsicht war sie sehr fair. Sie hat alle gleich schlecht behandelt. Einschließlich des Mannes, den sie angeblich heiraten wollte.«
Das mit Bühnenschminke zugekleisterte Gesicht erstarrte, als Perdita zu dem offensichtlichen Schluss gelangte. »Sie glauben doch nicht, dass er es getan hat?«
»Sagen Sie mir das. Wieso meinen Sie denn, dass sie ihren Verlobten schlecht behandelt hat? Haben Sie gehört, wie die beiden sich gestritten haben?«
Perdita lächelte. »Sie hat immer ein Handy in der Unterhose mit ans Set genommen. Wenn es klingelte, kam alles zum Halten. Mit jedem anderen hätte man kurzen Prozess gemacht oder ihn vom Set geschmissen. Aber sie, sie war ja der Star. Jedenfalls hat er sie angerufen. Ich stand genau hinter ihr.«
»Um einen Laternenpfahl zu verdecken?«
Honey konnte sich ihre kessen Bemerkungen einfach nicht verkneifen. Sie entschuldigte sich sofort.
Perdita lachte. »Nicht nötig. Dafür werden ja die Statisten eingesetzt. Jedenfalls, wie erwähnt, hat sie seinen Namen genannt. Also wusste ich, dass er am Telefon war. Dann hat sie ihn mit jedem Schimpfnamen unter der Sonne belegt. Irgendwas Schreckliches war geschehen, mit dem sie nicht einverstanden war, aber was das war, habe ich nicht herausfinden können. Sie nannte ihn pervers. Daran kann ich mich genau erinnern.«
»Warum das denn?«
Perdita zuckte die Achseln. »Woher soll ich das wissen?«
Leute Anstarren ist ja wirklich unhöflich, aber es fiel Honey schwer, das nicht zu tun. Ein Mann in Frauenkleidern, das war merkwürdig, aber gleichzeitig auch faszinierend. Es waren weniger die Pailletten auf dem Kleid oder die Strassohrringe, die an den Ohren baumelten, auch nicht das Make-up. Eher waren es die Bewegungen, dieses Spielen einer Frauenrolle, das ihr das Gefühl gab, sich selbst gespiegelt zu sehen, wenn auch ein wenig überzogen, leicht übertrieben.
»Sie haben ihn in diesem Hotel besucht. Woher wussten Sie, dass er dort sein würde?«
Tiefe Röte überzog Perditas Züge.
»Es war wegen eines Jobs. Ich bin hingegangen, um mich nach einem Job zu erkundigen. Ich hatte gehört, dass er große Mädchen suchte. Ich wusste allerdings nicht, wofür das sein sollte, bis ich dort hinkam.«
»Dann waren Sie nicht mehr interessiert?«
»Nein. So etwas ist nicht meine Sache.«
»Sie waren aus dem Film rausgeflogen. Hat Sie das nicht wütend gemacht?«
Perdita schaute grimmig. »Wenn Sie meinen, wütend genug, um Martyna umzubringen? Nein. Nicht in Wirklichkeit. Nur im Traum.«
Eine Frage interessierte Honey noch brennend. »Was für einen Job hat Coleridge Ihnen angeboten?«
Perdita machte einen Schmollmund und zuckte die Achseln.
Honey drängte ein bisschen weiter. »Unbekleidete Auftritte?«
Perdita zuckte noch einmal die Achseln. »So ähnlich.«
Es war klar, dass sie sich in dieser Sache nicht weiter äußern würde. Honey änderte die Taktik.
»Wie lange waren Sie dort?«
»Sollten Sie nicht fragen, wann ich dort angekommen bin?«
»Oh, ja natürlich! Verzeihung. Ich mache das noch nicht sehr lange. Entschuldigung.«
»Das geht schon in Ordnung. Ich bin etwa um drei Uhr angekommen, die Empfangsdame hat mich bei ihm angekündigt, dann bin ich im Lift nach oben, ins Penthouse und wieder runter, alles in … lassen Sie mich überlegen … in einer Stunde? Ja. Insgesamt war’s eine Stunde.«
Honey gab Perdita ihre Handynummer. Sie versprach auch, Miss Cleveley zu beruhigen. »Aber warum rufen Sie nicht selbst bei ihr an?«
»Erstens macht sie so viel Theater, und ich habe noch jede Menge Proben, ehe wir auf Tournee gehen. Und zweitens hat Tante Jane kein Telefon.«
»Weil Jane Austen keins hatte.«
»Genau. Normalerweise rufe ich bei einer Nachbarin an. Sagen Sie ihr einfach, dass sie sich keine Sorgen machen soll. Und dass ich sie bald einmal besuchen komme. Ein weiterer Grund ist, dass ich im Augenblick kein Handy habe. Das passiert Leuten wir mir schon mal.« Perdita lächelte ein wenig traurig. »Ich gehe zum Klo, bücke mich, und platsch!, schon ist das Telefon im Wasser.«
Honey versprach, alles auszurichten. Nur eine kleine triviale Frage war ihr noch verblieben.
»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Sie frage …?«
»Peter«, antwortete er, ehe sie noch zu Ende gesprochen hatte. »Mein Geburtsname war Peter.«
»Ihre Tante spricht von Ihnen, als seien Sie nie etwas anderes als eine Frau gewesen. Sie verdammt sie deswegen überhaupt nicht. Das muss Ihnen doch das Leben ein wenig erleichtern.«
Perdita – der Name passte zur Person – verkrampfte die Kiefer.
»Es hilft. Wir brauchen alle das Gefühl, geliebt zu werden. Haben Sie Familie?«
Diese Frage zauberte Honey freundliche Bilder vor die Augen, vor allem von Lindsey.
»Ja, ich habe eine Tochter. Sie ist achtzehn, wenn es mir auch manchmal vorkommt, als sei sie älter als ich. Sie ist so gescheit.«
Lindsey würde sich vor Verlegenheit winden, wenn sie das jetzt hören könnte. Aber das war Honey egal. Sie war stolz auf ihre Tochter.
»Und dann habe ich noch eine Mutter, die auch in Bath lebt.«
»Wohnt sie bei Ihnen?«
»O nein!«, antwortete Honey heftiger, als sie vorgehabt hatte. »Sie ist eine sehr umtriebige Dame mit einer eigenen Wohnung und einem kleinen Geschäft, das Kleider aus zweiter Hand verkauft. Es heißt Second Hand Rose.«
»Das kenne ich!«, rief Perdita. »Wunderbare Klamotten! Ich habe da schon einiges gekauft. Die haben viele Sachen für TVs. Und manchmal ziemlich lange Kleider für tagsüber und Schuhe in großen Größen.«
TVs! Auf gar keinen Fall würde Honey ihrer Mutter verraten, dass sie in der Welt der Transvestiten so populär war! Und auch nicht, dass eine hochaufgeschossene Frau, deren wirklicher Name Peter war, sich in ihren Umkleideräumen getummelt und ausgezogen hatte.