Der Concierge des Gebäudes, in dem Coleridges Penthouse lag, stammte, nach seinem Akzent zu schließen, aus Osteuropa. Er war ein massiver Schrank von einem Mann und versperrte ihnen eckig und kantig den Weg ins Haus.
»Sie müssen haben Termin. Sie haben nicht Termin.«
»Ich brauche keinen.«
Doherty zückte seinen Dienstausweis.
»Und wie sieht es mit Ihren Papieren aus?«, erkundigte er sich, und in seiner Stimme schwang gewichtig die Autorität der Polizei mit. »Jetzt wäre eine gute Gelegenheit, die einmal zu überprüfen.«
Der Kleiderschrank wankte. Sie durften das Gebäude betreten.
Honey schnaufte immer noch von ihrem Sprint zur U-Bahn.
»Du bist völlig unfit«, bemerkte Doherty.
»Stimmt nicht! Aber ich wünschte, ich hätte nur einen von den Muffins gegessen. Ich muss das alles wieder abarbeiten. Könnten wir die Treppe nehmen?«
Doherty schaute sie an, als hätte sie gerade die dümmste Frage der Welt gestellt.
»Du hast drei gegessen«, erinnerte sie ihn.
Er erwog diese Tatsache etwa eine Nanosekunde lang. »Da wüsste ich bessere Betätigungen, um die Kalorien wieder zu verbrennen, aber du hast recht. Allerdings wollen wir zum Penthouse, und das ist im fünften Stock. Mit anderen Worten: zehn Treppenabsätze.« Er neigte ein wenig den Kopf und zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. »Von mir aus gern, wenn du mitmachst.«
Lautlos glitten die Türen aus schimmernd gebürstetem Stahl auf. Sie traten ein. Doherty drückte auf den mit »Penthouse – Privat« bezeichneten Knopf. Und schon schwebten sie nach oben. Wie elegant, richtig elegant.
Im Dachgeschoss öffneten sich die Edelstahltüren erneut und gaben den Weg zu einem Atrium mit Glasdach frei.
»Wir sind tatsächlich angekommen«, flüsterte Honey. »Er hat eine Leibwache.«
Zwei Freistilringer im Smoking kamen auf dem flauschigen Teppich auf sie zu.
»Ich glaube, Sie sind auf der falschen Etage ausgestiegen«, sagte Ringer Nummer eins. Währenddessen stand sein Kollege zwei Schritte hinter ihm. Beide hatten einen Knopf im Ohr wie FBI-Agenten. Sie sahen allerdings ein wenig brutaler aus als ihre Gegenstücke vom FBI, als wäre ihr Fachgebiet eher körperliche Gewalt, als hätten sie ab und zu jemandem ein Bein zu brechen oder Schuhe aus Zement anzupassen.
Zum zweiten Mal zückte Doherty seinen Dienstausweis. Honey hielt sich im Hintergrund. Sie war nicht von Natur aus mutig. Sie brauchte da ein bisschen Anlauf.
Die beiden musterten den Ausweis sehr genau. Honey konnte ihren Mienen entnehmen, dass sie eine tiefe Abneigung gegen Polizisten hegten. Nicht, dass ihre Meinung Steve Doherty im Geringsten interessiert hätte.
»Mr Coleridge hat Besuch.«
Die Stimme des Kerls klang, als spräche er aus einer hohlen Trommel. Honey vermutete, dass ihn einmal jemand mit einem gezielten Kung-Fu-Tritt am Kehlkopf getroffen hatte.
»Das sind wir auch. Besuch«, erwiderte Doherty.
Der Kleiderschrank linste auf ein Blatt Papier, das er in der Hand hielt. »Alle Gäste sind bereits eingetroffen. Es steht sonst niemand mehr auf der Liste.«
Doherty bewegte sich keinen Zentimeter. »Wir sind die Show-Einlage.«
»Sie müssen gehen.« Freistilringer Nummer zwei schüttelte den Kopf und machte ein paar Schritte vorwärts, die wohl ungebetene Besucher dazu bringen sollten, in den Aufzug zurückzufliehen.
»Es tut mir leid, aber Mr Coleridge ist im Augenblick indisponiert. Vielleicht könnten Sie später wiederkommen?«
»Sie können mich nicht daran hindern, ihn jetzt zu sehen.«
»Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?«
»Ich brauche keinen. Ich will nur mit ihm reden.«
»Nein.«
»Gehört ihm das gesamte Gebäude?«, erkundigte sich Doherty plötzlich.
Die beiden Kerle tauschten verwirrte Blicke. Mit Hartnäckigkeit kamen sie klar, aber was sollte diese Frage? Was zum Teufel wussten die? Sie zuckten die Achseln.
»Wir arbeiten nur hier«, sagte einer der beiden.
Doherty trat einen Schritt vor und stand leicht breitbeinig vor ihnen. Honey hatte schon beobachtet, dass Männer diese Haltung einnahmen, wenn sie jemanden herausfordern wollten – als hätten sie eine Waffe in der Hose verborgen.
»Sagen Sie ihm einfach, dass wir mit ihm über Konstruktionen und starke Fundamente sprechen möchten. Besonders wenn es um Aussagen bei der Polizei geht. Da gibt es so etwas wie Meineid.« Seine Stimme klang grimmig und fest entschlossen.
Kleiderschrank Nummer eins streckte die Hand vor, um ihn aufzuhalten, seine Handfläche war nur noch Zentimeter von Dohertys Gesicht entfernt.
Die Luft war mit Wolken von Testosteron geschwängert. Honey schlich sich an Doherty heran. »Sollten wir nicht die Hilfstruppen rufen?«, zischte sie ihm zu.
Doherty ignorierte ihr zitterndes Stimmchen und stellte sich dem Kerl mit breiter Brust entgegen. »Haben Sie eine Lizenz dafür, so etwas zu tun?«
Der Mann stutzte nur einen Sekundenbruchteil, da hatte Doherty ihn bereits bei der Hand gepackt und ihm die Finger nach hinten gebogen, sodass er sich nach hinten neigte und in die Knie ging. Während der eine Gorilla mit schmerzverzerrtem Gesicht dastand, wandte sich Doherty seinem Kollegen zu.
»Hören Sie jetzt mit dem Theater auf, sonst kann sich ihr Kumpel nur noch mit der linken Hand in der Nase bohren. Sagen Sie Mr Coleridge, dass ich ihn sehen will. Und zwar sofort!«
Honey hielt die Luft an. Gleichzeitig dachte sie darüber nach, wo hier die besten Fluchtwege waren, falls sie hastig den Rückzug antreten mussten.
Erstens war der Aufzug direkt hinter ihnen. Das war gut. Die Treppe lag rechts.
Mit dem Aufzug musste man Glück haben, ihn mit einem Knopfdruck rufen und hoffen, dass sich die Türen rechtzeitig öffneten. Am besten, überlegte sie, wäre die Treppe. Tür aufstoßen und rennen wie der Teufel!
Wie sich herausstellte, war nichts von beidem notwendig. Kleiderschrank Nummer zwei machte ein paar zögerliche Schritte auf die kupferbedampften Türen des Penthouse zu.
Kleiderschrank eins war immer noch mit schmerzverzerrtem Gesicht auf allen Vieren.
Im Gefolge des Kerls mit dem breiten Kreuz tauchte nun Brett Coleridge im besten James-Bond-Stil auf: eleganter Anzug, glatt gekämmtes Haar und kantiges Kinn. Er lächelte nicht. Er begrüßte sie nicht. Sein Kiefer war so verkrampft, dass man sich Sorgen um seine Zahnfüllungen machen musste. Was immer er auch fühlen mochte, er hatte alles strikt unter Kontrolle.
Er verzog die Lippen zu einer Art hämischem Grinsen. »Ah ja! Der Bulle und die Tussi. Es tut mir leid, aber an Ihren Dienstgrad kann ich mich nicht erinnern. An den Namen noch weniger.« Er schaute auf die glänzende Rolex an seinem Handgelenk. »Ich kann Ihnen drei Minuten geben. Worum geht es?«
Dohertys Gesichtsausdruck war ungerührt, doch Honey wusste, dass er unter der gefassten Oberfläche so wütend war, dass er Coleridge mit größtem Vergnügen sämtliche Zähne ausgeschlagen hätte.
»Es geht um Ihre Aussage. Wir haben Ihren Aufenthaltsort zur fraglichen Zeit überprüft und dabei festgestellt, dass Sie sich in einem Hotel in London und nicht in New York aufgehalten haben. Haben Sie Probleme damit, die beiden Städte auseinanderzuhalten, Sir?«
Einen Augenblick lang sah Brett Coleridges Gesicht so aus, als wäre es aus Marmor gemeißelt. Er stand stocksteif da. Mit seinem guten Aussehen und dem perfekten Outfit hätte man ihn für eine Schaufensterpuppe halten können.
Er würgte ein Wort hervor: »Und?«
Honey war Spitze, wenn es um erste Eindrücke ging. Bei Coleridge war ihr erster Eindruck gewesen, dass dies ein Mann war, der sich zu viel einbildete. Er war ihr gleich unsympathisch hoch acht gewesen. Seither hatte sie ihre Meinung ein wenig geändert, aber nur insoweit, dass sie ihn in die Kategorie unsympathisch hoch zehn hochstufte. Ihrer Mutter würde er allerdings gefallen. Er besaß die richtigen äußeren Attribute. Die zogen bei Honey jedoch nicht. Sie konnte es sich nicht verkneifen, eine Frage dazwischenzuwerfen.
»Kennen Sie eine junge Frau namens Perdita Moody?«
Sie meinte, ein leichtes Lockern des verkrampften Kiefers in der Ohrgegend zu beobachten.
»Könnte ich nicht behaupten.«
Er sprach so langsam, als müsste er all seine Erinnerungszellen einzeln durchsuchen. Honey legte ihm blitzschnell ein Foto vor.
»Die hier«, sagte sie und tippte auf die geheimnisvolle junge Frau.
Er machte eine wegwerfende Geste mit der rechten Hand. »Ich bekomme ziemlich viele junge Frauen zu sehen. Hat mit meiner Arbeit zu tun.«
»Verzeihung?«, fragte Honey nach.
Doherty nahm ihr das Foto aus der Hand. »Die Mitarbeiter im Hotel sind bereit, auszusagen, dass diese Frau einen Termin bei Ihnen hatte. Sie wurde von ihnen positiv identifiziert.«
Coleridge runzelte die Stirn. »Und was hat das mit dem Tod meiner Verlobten zu tun?«
»Vielleicht waren Sie ja in ihrem Testament bedacht?«
Coleridges männlich herber Teint lief puterrot an. »Das ist doch lächerlich! Ich habe selbst Geld!«
Honey drängte weiter. »Gibt es da nicht eine Klausel, die eine Filmproduktion gegen den Ausfall der Hauptdarstellerin versichert?«
Es sprach sehr für Coleridge, dass er beinahe aufrichtig wirkte, als er nun zu Doherty herumfuhr.
»Wie können Sie es wagen!«
Doherty zahlte mit gleicher Münze zurück. »Diese Frau …« Er tippte gleichfalls auf das Foto. »Hatten Sie eine Affäre mit ihr?«
Coleridge erbleichte. »Ganz gewiss nicht! Sie war nur eine …«
Honey spürte das kleine zufriedene Lächeln auf Dohertys Gesicht mehr, als dass sie es sah. Coleridges Nervosität hatte ihn dazu verführt, etwas zuzugeben, das bisher nicht ausgesprochen worden war.
»Nur eine was, Mr Coleridge?«, fragte Doherty.
Es sind die Augen, überlegte Honey. Ich kann es ihm an den Augen ablesen, dass er besiegt ist.
Sie hatte recht. Mit einem kurzen Nicken wurden die beiden Kleiderschränke fortgeschickt. Sie trollten sich, die Stiernacken zwischen die breiten Schultern eingezogen.
Coleridge wischte sich die Schweißperlen weg, die ihm auf die Stirn getreten waren. Er musste bemerkt haben, dass sie die auch gesehen hatten.
»Ich habe Gäste. Der ganze Raum ist voller warmer Speisen und warmer Luft.« Er versuchte es mit einem Grinsen.
Weder Honey noch Doherty glaubten ihm ein Wort.
Honey sagte, was sie dachte. »Sie sind offenbar ein eiskalter Typ – feiern schon rauschende Feste, ehe ihre Verlobte überhaupt unter der Erde ist.«
Sein Blick verhärtete sich. »Freunde und Familie. Das gemeinsame Essen war ihre Idee. Sie hatten das Gefühl, dass ich Ablenkung brauchte. Deswegen findet das Treffen so früh am Abend statt.«
Honey öffnete gerade den Mund, um anzudeuten, dass einen ja auch ein Treffen mit jungen Frauen in einem Hotelzimmer wirklich gut ablenken konnte und dass er das an dem Tag gemacht hatte, als man Martyna umbrachte.
Doherty fuhr rasch dazwischen. »Also, Perdita – und die anderen jungen Frauen?«
Der gute alte Steve! Honey spürte, wie ihr ganz warm ums Herz wurde. Sie waren einander so ähnlich, er und sie. Wieder einmal hatten sie genau das Gleiche gedacht. Sie machten die gleichen Gedankensprünge.
Coleridge blieb unbeirrt. »Junge Frauen? Welche jungen Frauen?«
»Ihre Nichten.«
»Ach die. Ich habe Vorstellungsgespräche geführt. Mir gehört ein sehr großer Nachtklub – Die Venusfalle –, vielleicht haben Sie schon einmal davon gehört.«
Honey und Doherty schüttelten beide den Kopf. »Wir sind nicht aus London.«
»Die Mädchen haben sich für das Varieté beworben. Dagegen gibt es doch kein Gesetz, oder?«
»Waren Sie allein?«, erkundigte sich Doherty. »Ich meine, mit Ausnahme der beiden Nichten?«
»Nein, es waren noch zwei andere junge Frauen da. Sie arbeiten auch im Klub. Es ist gut, sie dabei zu haben, für den Fall, dass man sich eine zweite Meinung einholen möchte.«
Irgendwie mochte Honey das nicht glauben. In ihr stieg die Erinnerung an Zoë Vallis ängstlichen Blick auf, und die ließ sich nicht vertreiben. Wovor hatte die junge Frau Angst gehabt? War Coleridge wirklich ein Zuhälter?
»Sind die Damen Tänzerinnen?«, fragte Honey.
»Bekleidet?«
Coleridge warf ihr einen abschätzigen Blick zu. »In welchem Jahrhundert leben Sie denn? Die tanzen an der Stange. Was für Tänzerinnen hätten Sie denn sonst in einem Nachtklub erwartet?«
»Haben Sie Miss Moody eingestellt?«, fragte Doherty.
»Nein. Ich habe ihr die Stelle angeboten, aber sie hat sie nicht genommen. Sie hatte Bedenken, sich auszuziehen. Ich habe ihr gesagt, dass es natürlich nicht um Ballett ging. Was zum Teufel hatte sie sich denn gedacht?«
Doherty stellte eine weitere Frage. »Wissen Sie, wohin die junge Frau gegangen ist, nachdem sie Sie verlassen hat?«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Nach Hause? Oder zu einem anderen Vorstellungsgespräch. Sie sagte, dass sie noch andere Optionen hätte.«
»Haben Sie eine Ahnung, wo das gewesen sein könnte?«
»Das ist mir, ehrlich gesagt, egal. Mir liegt nur an meiner toten Verlobten. Was tun Sie denn in dieser Angelegenheit, Detective Inspector?«
»Unser Bestes.«
Unter dem kühlen Äußeren spürte man, wie sich Doherty die Nackenhaare sträubten. Honey hatte den überwältigenden Wunsch, die Hand auszustrecken und ihn zu berühren, ihm zu sagen, dass sie wusste, wie er sich fühlte, und dass er, wenn er wirklich nicht an sich halten konnte, nicht zögern sollte, Coleridge k. o. zu schlagen. Sie würde jedem, der es hören wollte, erzählen, dass es Selbstverteidigung war. Oder dass Coleridge die Treppe hinuntergefallen war.
Über Coleridges sonnengebräunte Züge legte sich wieder der Schimmer polierten Marmors. Seine Oberlippe verzog sich zu einem hämischen Grinsen.
»Sie haben keinen Schimmer, wer sie umgebracht hat, wie? Sie glauben, ich bin es gewesen, aber das stimmt nicht.«
Honey konnte das nicht so stehen lassen. Sie sah das elfengleiche Gesicht von Miss Cleveley vor sich.
Er wandte sich halb ab. »Vermisste Nutten tauchen alle irgendwann wieder auf. Das ist immer so. Sie wissen ja, wo die Tür ist.«
Plötzlich standen Doherty und Honey allein da und starrten auf ihre Spiegelbilder in den schimmernden Kupfertüren. Die gingen nur noch einmal auf, um die beiden Kleiderschränke wieder zum Vorschein zu bringen.
»Er hat recht«, sagte Doherty, als sie im Aufzug hinunterfuhren.
»Dass Perdita wieder auftauchen wird?«
»Nein. Dass wir keine Ahnung haben, wer Martyna Manderley ermordet hat.«