Kapitel 35

Ein schlichtes schwarzes Kleid und eine farblich passende dreiviertellange Jacke mit beigefarbenen Paspeln war genau das Richtige für eine Abendveranstaltung. Die Jacke hatte einen schicken Schwung. Honey betrachtete sich im Spiegel und fand sich perfekt gekleidet für die Lesung.

Sie hätte ja viel lieber nach einem guten Abendessen und einem guten Glas Shiraz ein paar Schreibarbeiten erledigt, aber um die Veranstaltung heute Abend kam sie nun einmal nicht herum. Verflixt, dass Casper ausgerechnet diese Eintrittskarten übrig gehabt hatte!

»Sie sehen sehr schick aus«, meinte Alex, der Barmann, während er ihr einen Wodka mit Tonic Light einschenkte.

»Mach einen Doppelten draus.«

Weil er ein guter Barmann war und noch dazu halb so alt wie sie, gehorchte er umgehend. Alex war ein junger Mann, dem man noch Respekt für die ältere Generation – und für Vorgesetzte – beigebracht hatte.

Lindsey ließ sich viel Zeit.

Honey rief sie auf dem Handy an, während Alex ihr noch einen Wodka einschenkte.

»Bist du immer noch nicht fertig?«

»Mutter, wir haben noch jede Menge Zeit!«

Honey schaute auf ihre Armbanduhr. »Ich möchte nicht gern zu spät kommen.«

»Mama, du machst dir keine Sorgen, dass du zu spät kommst. Du willst nur alles so schnell wie möglich hinter dich bringen.«

Als Honey ihren zweiten Wodka getrunken hatte, tauchte ihre Tochter in Jeans und einer dicken, wattierten Jacke auf.

Wahrscheinlich konnte sie es Honey an der Nasenspitze ablesen, was die von diesem Aufzug hielt.

»Ich habe ein wirklich schickes Oberteil drunter. Aber ich muss dich warnen, in dem alten Kasten, wo die Lesung stattfindet, ist seit Winston Churchills Kindertagen nicht sonderlich viel verändert worden.«

»Okay! Wie wäre es mit einem Drink, ehe wir losziehen?«

Alex stand bereit.

Lindsey würgte das im Keim ab. »Zwei reichen.«

»Aber drei wären besser«, protestierte Honey.

»Nein!« Lindsey schüttelte den Kopf und glich dabei so sehr einer gestrengen Schulrektorin, dass Honey sich höchstens wie vierzehn fühlte. »Oma wird außerordentlich pikiert sein, wenn wir einschlafen. Das würde sie uns ewig vorwerfen.«

Lindsey sollte in allem recht behalten. Das Heizungssystem im Old Pavilion, wo die Lesungen stattfanden, wurde über einen uralten Kessel betrieben, der sehr eigenwillig war. Es gab nur Extreme: Entweder es war kaum überschlagen im Raum oder glühendheiß. Heute letzteres.

Die Zuhörer fächelten sich mit den Programmheften Kühlung zu. Manche schlummerten ein.

Die Frau, die neben Honey saß, hatte offensichtlich arktische Temperaturen erwartet. Verstohlen zog sie eine Wärmflasche unter ihrem dicken Wollponcho hervor.

»Die Hitze wird nicht lang anhalten. Man hat mich gewarnt. Ich lege mir die Wärmflasche auf die Füße«, erklärte sie, als sie Honeys fragenden Blick bemerkte.

»Gute Idee.«

Dann wurde der Poncho abgelegt und über die Knie gebreitet.

Lindsey schaute sich neugierig um.

»Die da kenne ich«, sagte sie.

Honey konnte nicht ausmachen, wen sie meinte. Es würde jeden Augenblick losgehen. Also fragte sie nicht weiter.

»Meine Damen und Herren …«

Die Moderatorin war auf die Bühne getreten.

Die ersten drei oder vier Stücke wurden vorgestellt. Drei kurze Einakter über innere Ängste, soziale Missstände und die Ansichten eines Studenten darüber, wie schrecklich es auf der Welt zuging und wie man das am besten ändern könnte.

»Als hätte noch nie zuvor jemand über so etwas nachgedacht«, murmelte Honey.

»Krass«, meinte Lindsey.

»Der lernt das auch noch«, meinte Honey.

Der alte Kessel heizte tapfer weiter. Die antiken Heizkörper begleiteten die Lesung mit metallischem Summen und dem einen oder anderen kleinen Rülpser aus dem Rohrsystem.

Honey merkte, dass ihr die Augenlider schwer wurden. Sie versuchte, ihren Mantel auszuziehen, aber dazu war nicht genug Platz. Also war sie wie eine Apfelpastete im Backofen dazu verurteilt, in der Schale im eigenen Saft zu brutzeln, bis sie gar war.

»Oma ist die Nächste«, murmelte Lindsey, während sie dem Vorgänger applaudierten.

Honey riss die Augen weit auf. »Danke für den Rippenstoß! Ich wäre gerade beinahe eingeschlafen.« Sie zwang sich, aufrecht zu sitzen. Sie durfte nicht einschlafen, ganz egal, wie furchtbar das Stück auch war.

»Unser Gewinner …«

Honey hörte zu. Die Moderatorin sprach lang und breit über das Theaterstück ihrer Mutter und zwei andere, die außerdem noch um den Preis des Abends wetteiferten – einen eintägigen Drehbuch-Workshop mit Robert McKee in London. Die Spannung brachte sie beinahe um.

»Ich wünschte, die Frau würde endlich den Gewinner verkünden, und Schluss damit«, tuschelte Honey ihrer Tochter zu. »Dann könnten wir ihr unser Beileid aussprechen und endlich nach Hause gehen.«

»Oder feiern. Wer weiß?«

Honey schüttelte den Kopf. »Das wage ich zu bezweifeln. Es ist sicher eine zuckerige Romantikgeschichte, lass es dir gesagt sein.« Ihre Mutter las bergeweise solche pappsüßen Kitschromane.

Lindsey stimmte ihr zu.

Nun erhob die Moderatorin wieder die Stimme. Sie war eine schlaksige Frau mit Pferdezähnen und einem Hauch Schnurrbart auf der Oberlippe. Erst lobte sie noch einmal alle Teilnehmer und betonte, wie schwer den Juroren ihre Aufgabe gefallen war. Schließlich und endlich, als das Publikum schon anfing, mit den Füßen zu scharren, kam sie zum Wesentlichen.

»Nach langen, sorgfältigen Beratungen haben die Juroren ein einstimmiges Urteil gefällt. Der Gewinner dieser Spielzeit ist …«

Genau wie in den Talentshows im Fernsehen machte sie eine kleine Pause, ehe sie den Namen verkündete.

»Jack und ich von Gloria Swanson-Cross.«

Es wurde stürmisch applaudiert.

Honey saß wie vom Donner gerührt da.

Der Applaus ebbte ab. Die Moderatorin fuhr mit ihrer Ansage fort. »Ich freue mich sehr, dass unser preisgekröntes Stück heute vorgelesen wird.«

Honey und ihre Tochter schauten einander verdattert an. Der Titel ging ja noch. Es konnte eine Romanze sein oder auch nicht. Aber Gloria Swanson-Cross? Den ersten Nachnamen hatte sie von dem berühmten Filmstar aus alter Zeit geklaut. Großmutter hatte keinerlei Recht, sich so zu nennen. Das lief wohl unter dem Begriff dichterische Freiheit?

Aber das war längst nicht alles. Honey und Lindsey blieb der Mund sperrangelweit offen stehen, als sie den Mann und die Frau sahen, die das Stück lesen würden. Die Frau kannten sie nicht. Den Mann dafür umso besser. Es gab nur einen, der ein Spinnennetz als Tätowierung am Nacken hatte und so viele Ringe in den Ohren und der Nase, dass man Gardinen daran hätte aufhängen können.

»Unsere Leser sind heute Mr. Rodney Eastwood und Lady Cynthia Morrison-Page. Bitte heißen Sie sie willkommen.«

Während des Auftrittsapplauses zischte Honey ihrer Tochter zu: »Seit wann macht Clint denn bei einer Laienspieltruppe mit?«

»Interessanter Kontrast«, zischte Lindsey zurück.

Honey hatte gerade das Gleiche gedacht. Rodney (Clint) Eastwood, der die männliche Rolle übernommen hatte, war ein Hansdampf in allen Gassen. Er hatte wirklich seine Finger in allem, und nicht all seine Unternehmungen waren streng genommen legal. Von dieser speziellen Betätigung hier hatten sie jedoch noch nichts gehört. Es war eine seltsame, beinahe exotische Aufgabe für Clint, den sie bisher nur beim Abwasch, als Verkäufer im Laden eines Freundes und als Rausschmeißer im Zodiac gesehen hatten.

Die Leserin der weiblichen Rolle hatte schneeweißes Haar, das sie mit einem Samtband zurückgebunden hatte, und war mindestens sechzig Jahre alt. Da sie einen Adelstitel trug, kam sie auch sonst vom völlig anderen Ende des Spektrums als Typen wie Clint.

»Ehe wir beginnen, würde ich Ihnen gern noch eine kurze Beschreibung des Inhalts geben«, fügte die Moderatorin hinzu. »Es handelt sich um einen Einakter über Präsident John F. Kennedy und Marilyn Monroe. Das Stück geht davon aus, dass sie ihn verführt hat und nicht umgekehrt er sie, wie allgemein angenommen wird. Ich muss Sie auch warnen, dass das Werk explizite Sexszenen und drastische Ausdrücke enthält.«

Honey und Lindsey blieb die Spucke weg.

Schon bei der Erwähnung des Themas hatten die Zuschauer ringsum zu murmeln begonnen. Die Schnarcher waren plötzlich wieder hellwach und schnüffelten, als hätte das Thema Sex nun ein ganz eigenes Aroma in den Raum gebracht.

Es herrschte gespanntes Schweigen. Kein einziger Zuschauer stand auf, um zu gehen. Ein älterer Herr drehte die Lautstärke an seinem Hörgerät höher und lehnte sich erwartungsvoll vor.

Das Stück begann. Die Leser sprachen überzeugend. Zum Glück war es keine Bühnenproduktion, sodass sie sich nicht auszogen oder einige der wilden Umarmungen vollzogen, die der Dialog andeutete. Das schien dem Publikum nicht aufzufallen.

Am Ende herrschte benommenes Schweigen. Es war, als erwarteten die Zuschauer noch mehr. Als deutlich wurde, dass nichts mehr folgen würde, brauste der Applaus los. Und noch mehr Applaus. Jemand rief »Zugabe«, und noch jemand.

Die Schauspieler verbeugten sich lächelnd.

Clint winkte Honeys Mutter zu ihnen aufs Podium.

Gloria Swanson-Cross strahlte hell wie ein spanischer Sommermorgen, als sie sich erhob.

Bis jetzt hatte sie, von ihrer Familie unbemerkt, neben den anderen Möchtegern-Dramatikern und Mitgliedern des Literaturklubs in der ersten Reihe gesessen.

Als sie auf die Bühne trat, hielten Honey und Lindsey die Luft an.

»Großer Gott!«, flüsterte Honey für alle deutlich hörbar.

»Danielle Steel kann abstinken!«

Honey hätte ihre Tochter daran erinnern können, dass es hier um ein Theaterstück und nicht um einen Roman ging, aber sie hatte schon verstanden, was Lindsey gemeint hatte. Gloria war in ein todschickes schwarz-weißes Ensemble gekleidet. Das Kleid war schwarz mit großen weißen Knöpfen und einem riesigen weißen Kragen. Die Krempe eines großen Panamahutes verdeckte eine Seite ihres Gesichts. Die Lesebrille hing ihr an einer Kette um den Hals. Die war völlig überflüssig, denn ihre Mutter hatte sich vor zwei Jahren die Augen lasern lassen. Die Brille war also, das begriff Honey, nur ein modisches Accessoire, ebenso wie die Zigarettenspitze aus Ebenholz.

»Hat Oma zu rauchen angefangen?«, fragte Lindsey.

Honey schüttelte den Kopf, weil es ihr buchstäblich die Sprache verschlagen hatte. Ihre Mutter spielte ihre Rolle phantastisch. Heute war sie Dramatikerin, und zwar das genaue Gegenteil des armen Poeten, der in der Dachkammer ein Hungerdasein fristete. Dieses Outfit war brandneu. Sie hatte weder Kosten noch Mühen gescheut.

»Warten wir noch auf sie?«, flüsterte Lindsey.

»Wir müssen.«

Eigentlich hatten sie geplant, nur kurz vorbeizuschauen, sich das Stück ihrer Mutter anzuhören und dann schnell wieder zu verschwinden. Nun hatte Gloria einen Preis gewonnen, und da sah die Sache schon anders aus. Sie konnten schlecht gehen, ohne sie zu umarmen und zu küssen und ihr zu sagen, was für eine tolle Frau sie war. Wehe ihnen, wenn sie ihr nicht ordnungsgemäß gratulierten! Und sie würde auch erwarten, dass sie sie mindestens zum Essen im Restaurant des Theatre Royal ausführten und dazu noch eine Flasche Schampus auffuhren. Vielleicht zwei Flaschen Schampus.

»Die Sache hat einen Haken«, betonte Honey.

Lindsey stimmte ihr zu. Sie würden sich auch die Gewinner des zweiten und dritten Preises anhören müssen. Das war besorgniserregend, ehrlich gesagt sogar völlig niederschmetternd, denn es wartete noch über eine Stunde dramatischer Lesung auf sie. Das beste Stück hatten sie ja schon gehört. Wie würde da der Rest sein?

Resigniert gab Honey klein bei, und Lindsey folgte dem Beispiel ihrer Mutter. Sie entspannte sich, setzte sich so bequem wie möglich auf dem harten Stuhl zurecht. Der war genauso konstruiert, dass man einfach nicht einschlafen konnte.

Das nächste Stück war schrecklich – ein grauenhaftes Gruseldrama über die Sinnlosigkeit des Krieges, voller Klischees und mit einem Handlungsgerüst, das der Autor offensichtlich von besseren Dramatikern geklaut hatte.

Honey ging immer noch das Stück ihrer Mutter, Jack und ich, durch den Kopf. Und so schlief sie trotz der beinahe tropischen Hitze nicht ein.

Sie hörte mit halbem Ohr, dass ein weiterer Preis verliehen wurde, diesmal für ein Stück mit historischem Thema. Wahrscheinlich hätte sie dem nicht sonderlich viel Aufmerksamkeit geschenkt, hätte sie nicht die Zauberworte gehört: Das Leben der Jane Austen. Und dann kam noch etwas.

»Das Leben der Jane Austen, verfasst von Perdita Moody. Leider hatte die Autorin heute Abend andere Verpflichtungen und kann nicht hier sein. Sie lässt sich entschuldigen.«

Honey saß kerzengerade da. Hatte sie richtig gehört? Ja. Natürlich hatte sie das. Zwar hatte sie in ihrem Alter schon ein paar Zipperlein, aber die Ohren waren noch prima in Schuss.

Die Szene, die gelesen wurde, war ein Gespräch zwischen Jane und einer ihrer Schwestern. Die Lady mit dem schneeweißen Haar und dem Samtband las Janes Rolle, eine Frau in einem gebatikten Rock und mit baumelnden Ohrringen den Part der Schwester.

Honey hörte zu. Sie konnte nicht mit Gewissheit sagen, ob dies ein Teil des mit Blut besudelten Drehbuchs war, das sie gefunden hatte. Sie hatte nur einen kurzen Blick darauf geworfen, aber sie hatte ein blendendes Gedächtnis. Sie war sich ziemlich sicher, dass die gleichen Worte gesprochen wurden.

Eins wusste sie dagegen noch ganz genau: Als Autor des Drehbuchs hatte nicht Perdita Moody drauf gestanden, sondern ein gewisser Chris Bennett. Aber wer war Chris Bennett? Der war ihr noch nie begegnet, und, soweit sie wusste, hatte auch Doherty ihn nie gesehen.

»Ich muss gehen«, flüsterte sie Lindsey zu.

Auf dem Gesicht ihrer Tochter zeichnete sich Überraschung ab.

»Wohin willst du?«

»Nach Swindon.«

»Und was ist mit Oma?«

»Führe sie zum Essen aus. Hier, nimm meine Kreditkarte. Die PIN kennst du ja.«