Die Adresse war in Chelsea. Zoë erwartete Honey vor einem massiven Gebäude aus roten Backsteinen, das von der weißen Marmortreppe bis hin zu den Dachpfannen überdeutlich den Eindruck vermittelte, etwas Besseres zu sein.
Zoë winkte. Honey winkte zurück.
Es fiel ihr auf, dass Zoë ganz anders aussah als vorhin. Sie trug einen leuchtend roten Mantel mit dazu passendem Pillbox-Hut. Ihre Strümpfe waren schwarz (ganz bestimmt keine Strumpfhose, erinnerte sich Honey). Die Stiefel waren auffällig rot mit schwarzen Paspeln, vielleicht sogar von Jimmy Choo.
Honey beschloss, dass ein Kompliment angesagt war. »Sie sehen phantastisch aus.«
»Schätzchen!« Zoë küsste im besten VIP-Stil die Luft neben Honeys Wange. »Ich freue mich, dass es Ihnen gefällt. Ich habe Ihren Ratschlag befolgt.«
»Das habe ich bemerkt. Ich fühle mich geschmeichelt.«
»Unsere Freundin wohnt im dritten Stock. Sie heißt Candy. Sie ist ein Püppchen, ein echtes, lebendiges Püppchen.«
Honey kam ein Lied aus den fünfziger oder sechziger Jahren über ein »living doll«, ein lebendes Diwanpüppchen, in den Kopf und setzte sich hartnäckig dort fest. Dieser Song hatte ihr nie sonderlich gut gefallen. Und auch für den Sänger hatte sie nicht viel übrig gehabt.
Sie fand sich mit dem Gedanken ab, dass ihr die Melodie nun wahrscheinlich den Rest des Tages im Kopf herumspuken würde, es sei denn, irgendjemand würde sie so erschrecken, dass das Lied wieder in die große Jukebox im Himmel verbannt würde. Candy versetzte ihr diesen Schock. Allerdings passte das Lied haargenau auf sie.
Sie trug Hotpants in Pink, dazu ein passendes Bustier in Pink mit weißen Punkten. Sie hatte lange braune Beine, die in hautengen weißen Stiefeln steckten. Ihr Gesicht erinnerte an eine Porzellanpuppe, mit seidenglatter Haut, rosaroten Knospenlippen, riesengroßen, leuchtenden Augen und platinblondem Haar, das nur aus der Flasche stammen konnte.
Die größte Überraschung kam, als Candy aufstand, um Honey die Hand zu schütteln. Sie war mindestens einen Meter achtzig groß und hatte die Figur einer Barbie-Puppe – viel zu schlank und androgyn, um ein echtes menschliches Wesen zu sein.
Ihre Manieren waren reizend und höflich. Ihre Stimme klang süß wie Zucker.
»Zoë hat mir alles über Sie erzählt. Bitte setzen Sie sich doch. Fühlen Sie sich wie zu Hause.« Die Stimme quietschte ein bisschen – irgendwas zwischen einer Kinderstimme und einem Gummientchen.
»Zu Hause«, das war ein sehr exklusives Appartement. Alles war elegant und glänzend – weißer Teppich, weiße Möbel und rosa Accessoires, die nicht so recht zu der minimalistischen Einrichtung und der indirekten Beleuchtung passen wollten. Kissen aus rosa-weiß kariertem Stoff und rosa Plüschhasen lagen überall auf dem Sofa und den Sesseln verstreut. Weiße Tischlampen mit rosa Schirmen standen auf Glastischen. Es sah ein bisschen aus, wie sich ein Erwachsener ein Kinderzimmer vorstellt: sehr seltsam, aber sehr kostspielig. Honey fragte sich, wie viel diese Wohnung wohl kosten mochte und ob Candy sie gekauft oder nur gemietet hatte.
Candy fragte Zoë, ob sie auch bleiben könnte. Zoë erwiderte, sie hätte zu tun.
Honey war sich völlig sicher, worin diese Arbeit bestand.
Zoë warf ihr einen Blick zu. »Kein Geschäft. Wäsche.«
Sie blieb an der Tür stehen, als sei ihr plötzlich ein Gedanke gekommen.
»Ich wollte noch sagen …« Sie hielt inne. »Ach, egal. Candy wird sich gut um Sie kümmern.« Sie zwinkerte. »Das kann sie gut, genau wie wir alle.«
»Ach, Mist!«, sagte Candy, steckte den Daumen in den Mund und machte auf neckisch.
Als sie allein waren, schob Candy Honey eine große Schachtel mit teurem Konfekt zu, die auf dem Glastisch vor dem Sofa stand.
»Bedienen Sie sich.«
Ehe Honey die Chance hatte, sich etwas zu nehmen, hatte Candy schon mit zuckrig rosa lackierten Fingernägeln eine Süßigkeit gepackt und sich in den Mund gesteckt.
Als Honey die schlanke Figur betrachtete und feststellte, dass auf dem wunderschön geschminkten Gesicht nicht die geringste Spur von Schuldbewusstsein zu sehen war, überlegte sie, dass dieses Zeug wohl nicht allzu viele Kalorien haben konnte. Was konnte schon ein kleines Stückchen Gelee und Zucker an einer schmalen Taille verderben? Es würde nicht gleich Pölsterchen auf ihre Hüften zaubern. Außerdem brauchte sie jetzt die Energie.
Sie umriss kurz, warum sie gekommen war. »Ich habe gehört, dass Sie mir etwas zu Perdita Moody sagen können?«
Candy nickte und warf noch eine kleine Auswahl an Konfekt aus der halbleeren Schachtel ein.
»Wenn Sie meinen, ob ich sie gekannt habe, dann ist die Antwort ja. Sie hatte ’ne Weile ziemlich zu kämpfen. Ich hab sie hier bei mir pennen lassen.«
Candys Wortwahl und Akzent waren nicht gerade aus der obersten Schublade, aber irgendwie schien das nichts zu machen. Honey begriff, warum sie den Männern so gefiel. Sie sah aus wie eine etwas zu groß geratene Barbie-Puppe und benahm sich auch so. Aber das war nicht alles. Hinter der gekünstelten Oberfläche waren ihre Freundlichkeit und Nettigkeit zu spüren. Es war Candys zweite Natur, es anderen Menschen gemütlich zu machen. Außerdem war sie bildhübsch, eine süße Rosenknospe, die nur darauf wartete, gepflückt zu werden. Und Honey nahm an, dass diese Knospe ziemlich regelmäßig gepflückt wurde.
»Man hat mir gesagt, dass sie Arbeit gesucht hat.«
Ein weiterer kleiner Geleewürfel in Rosa und Pistaziengrün verschwand in Candys Schmollmündchen.
Unbeirrt kauend nickte sie. »Sie hat mich gefragt, ob es in meiner Branche irgendwelche freien Jobs gab. Sie dachte, ich wäre Schauspielerin.« Candy quietschte vor Lachen. »Das bin ich wahrscheinlich auch. Irgendwie.« Sie warf den Kopf in den Nacken, und nun gurgelte ein kehliges Lachen in ihr hoch. »Sie hat es sich anders überlegt, nachdem ich ihr erklärt hatte, was ich mache. Die Art Schauspielerei, an die sie gedacht hatte, war ziemlich ernst und fand sicherlich nicht leicht bekleidet statt.«
Honey runzelte nachdenklich die Stirn. Sie hatte angenommen, dass Candy im gleichen Gewerbe arbeitete wie Zoë. Hatte sie da falsch gelegen? Vielleicht war Candy die Art von Schauspielerin, deren Filme für das allerspäteste Nachtprogramm reserviert waren – oder überhaupt nicht fürs öffentliche Programm. Aber sie konnte doch nicht einfach geradeheraus fragen!
»Also«, sagte sie langsam, »arbeiten Sie und Zoë in der gleichen Branche?«
»Nicht ganz«, erwiderte Candy mit Piepsstimmchen. »Ich habe es eine Weile versucht, aber es hat mir nicht gefallen. Ich hatte dabei nicht das Gefühl, geliebt zu werden. Nicht wirklich und innig. Es war alles so geschäftsmäßig, kaum gesellschaftlicher Umgang, wissen Sie. Und mir macht es wirklich Spaß, zur angesagten Szene zu gehören.«
Honey nickte, als verstünde sie das, obwohl sie in Wirklichkeit seit Jahren nicht mehr zu derlei Kreisen gehörte.
Candy pickte sich ein weiteres rosa-weißes Konfekt aus der Schachtel und verschlang es.
»Also habe ich mich entschlossen, auf ein anderes Feld umzusatteln«, hauchte sie, und ihr kleiner Kopf nickte kess auf dem eleganten Schwanenhals.
Honey versuchte zu begreifen, wohin dieses Gespräch führte. Ging die junge Frau nun auf den Strich oder nicht?
Es half alles nichts, sie musste einfach fragen. »Also, was genau? … Auf welches Feld haben Sie umgesattelt?«
Candys hübsches Schmollmündchen verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Ich bin ein Mädchen für die Klatschspalte! So nennt man das. Ich lasse mich an all den richtigen Orten und mit den richtigen Leuten sehen. Und alles für Geld. Viel Geld. Irgendwann mal.«
Honey merkte, wie ihr der Mund offen stehen blieb, während Candy ihr genau erklärte, was sie machte. Sie war eines der Mädchen, die man anheuerte, um reiche und berühmte Leute in die Falle zu locken. In eine honigsüße Falle. Sie war eine Schlagzeilenschlampe.
Candy schien ihre Gedanken lesen zu können. »Es ist alles rein geschäftlich, aber es führt zu weiteren Aufträgen. Zum Beispiel habe ich ein paar Hochglanzaufnahmen für wirklich gute Zeitschriften gemacht. Wir sind …« Sie hielt inne und drehte die Augen zur Decke, während sie nachdachte. »Wir sind Playmates, keine Flittchen.«
»Natürlich«, sagte Honey und war sich nicht sicher, wie sie irgendwas anderes als Flittchen sein konnten, gab sich aber angesichts von Candys Nettigkeit geschlagen. »Wird das gut bezahlt?«
»Hervorragend. Wir treffen ›rein zufällig‹ den Typen, auf den man uns angesetzt hat, obwohl natürlich der Zufall gar nichts damit zu tun hat. Es ist alles vorher arrangiert, obwohl der Betreffende keine Ahnung davon hat. Reiche und mächtige Männer sind wirklich sehr arrogant. Sie glauben, dass sie alles haben können, was ihnen unter die Augen kommt, und sie tun alles, was sie können, um es auch zu kriegen.«
Candys Zynismus bereitete Honey einiges Unbehagen. Irgendwie ähnelte sie den rosa-weißen Süßigkeiten, die sie in solchen Unmengen verzehrte. Das Äußere sah hübsch und ganz unschuldig aus, aber die darin enthaltenen Kalorien waren höchst gefährlich.
»Außer dem Geld, was haben Sie denn noch davon?« Honey dachte an Schmuck, Wohnungen, vielleicht ein kleines Sportauto. Das Letztere schien ihr verlockend. Sie hätte gern selbst eins gehabt.
Mit immer noch mahlenden Kiefern wiederholte Candy mehr oder weniger, was sie bereits gesagt hatte. »Es ist gut für die Karriere. Du wirst über Nacht berühmt, und wenn einmal jeder meinen Namen kennt, dann gibt es keine Grenzen mehr. Die Leute brennen nur darauf, einen zu einem viel größeren Star zu machen, als man eigentlich ist.«
Candy bot Honey noch ein Stück Konfekt an. Die lehnte ab.
»Ich mache gerade eine Diät.«
»Ich nicht«, erwiderte Candy mit kindlichem Charme. »Ich mache nie eine Diät. Ich könnte das gar nicht. Ich liebe Süßigkeiten. Deswegen heiße ich ja auch Candy! Verstehen Sie?«
Und wie! Sie machte ihrem Namen alle Ehre. Und sie machte sich etwas vor. Wie lange würde dieser Barbie-Körper so schlank bleiben?, fragte sich Honey. Candy würde sich schon bald eine neue Branche suchen müssen, wenn sie in diesem Tempo weitermachte. Barbie-Puppen hatten etwa so viel Fleisch auf den Rippen wie ein sauber abgenagter Knochen. Und bei ihrem Verzehr an Süßigkeiten lief Candy Gefahr, bald so kugelrund wie ein Pflaumenknödel zu werden.
Rosa, grün und zitronengelb lockte das Konfekt aus der Schachtel. Unwiderstehlich!
»Na, nehmen Sie sich noch eins!«
Candy wedelte Honey mit der Schachtel vor der Nase herum.
Honeys Finger gehorchten ihrem Gehirn nicht und griffen wie automatisch nach den Süßigkeiten.
»Also, wie wird man denn ein Mädchen, das plötzlich überall in den Schlagzeilen der Regenbogenpresse auftaucht?«
Mit einem reichen und berühmten alten Knacker im Schlepptau, fügte sie nicht hinzu; das hätte denn doch ein bisschen zu sarkastisch geklungen.
Die rosa Lippen verzogen sich zu einem Schmollmund. Die blauen Augen wurden zur Decke gerichtet, und kleine schwarze Flocken der dick aufgetragenen Wimperntusche bröckelten auf die Wangen, während Candy nachdachte.
»Ich bekomme einen Anruf von der Agentur. Datum, Uhrzeit und Ort. Ich mache den Kontakt. Mr North übernimmt den Rest.«
»Immer?«
»Das hängt davon ab, wo ich den Mann treffen und Eindruck auf ihn machen soll. Und von der Veranstaltung und dem Ort.«
»Was für Treffpunkte sind das gewöhnlich?«
Wieder wanderten die blauen Augen zur Decke. Zweifellos auf der Suche nach tiefschürfenden Gedanken.
»Nun – wissen Sie«, sagte Candy mit Piepsstimmchen, »es hat immer was mir ihrem Beruf oder mit ihren Hobbys zu tun. Ich muss natürlich vorher ein bisschen Hausarbeiten machen. Zum Beispiel Golf. Mr North hat für mich den besten Golflehrer engagiert, den er finden konnte. Der meinte, ich wäre eine echte Naturbegabung im Golfen. Ist das nicht was?«
»Wunderbar.«
»Ich habe einen sehr guten Schwung beim Golf, hat man mir gesagt. Wollen Sie mal sehen?«
»Das verschieben wir besser auf ein andermal. Was passiert dann?«
»Nun!« Candys Hand kreiste über den restlichen Edelpralinen und Geleewürfeln – die es nur bei Harrods zu kaufen gab. »Ich sorge dafür, dass sie zur richtigen Zeit im richtigen Zimmer landen, gewöhnlich ohne Kleider – oder zumindest in einer eindeutigen Situation. Mr North übernimmt den Rest. Sein Fotograf gibt sich als Zimmerkellner aus – und das war’s dann. Fotos und ein enthüllendes Interview mit meiner Wenigkeit. Sex steigert die Auflage, sagt man.«
Dagegen konnte Honey nichts sagen. Während Candy noch redete, kam Honey eine Idee. Hätte ich die Courage, so etwas zu machen? Nein! Es war wohl auch ein bisschen spät. Sie war kaum noch die ideale Besetzung für das dumme Blondchen. Andererseits: jeder Mann hatte einen anderen Geschmack. Manche mochten ja ältere Frauen. Da war nur ein Haar in der Suppe: Ihre Mutter würde sie umbringen, wenn sie so etwas machte. Was war also mit Candys Mutter?
»Weiß Ihre Familie, was Sie tun?«
Candy warf den Kopf in den Nacken, zeigte ihren langen Schwanenhals und lachte laut und kehlig.
»Meine Mutter findet, dass es der beste Job ist, den ich je hatte. Ich gehöre zu dieser neuen Welle von Berühmtheiten – ein Niemand mit genug Mumm, um sich eines Tages zu einem echten VIP zu mausern. Ich werde zu jeder Menge Talkshows und Partys eingeladen. Ich war sogar schon im Fernsehen. Das wird bestimmt meiner Karriere förderlich sein. Meine Mama meint, ich sollte mich gar nicht so bemühen, berühmt zu werden. Sie ist überzeugt, dass ich schließlich meinen Millionär heirate. Wahrscheinlich stimmt das. Es würde mich nicht weiter stören, wenn die Ehe nur kurze Zeit hielte, solange ich nur bei der Scheidung ein ordentliches Sümmchen kriege.«
»Ja. Das kann ich mir vorstellen.«
In Gedanken verglich Honey Candy mit Lindsey. Sie mussten ungefähr gleich alt sein. Was würde sie davon halten, wenn ihre Tochter eine professionelle »Liebesfalle« wäre, ein Lockvogel für die Reichen und Berühmten?
»War es schwer, sich daran zu gewöhnen – denn Sie sind in einer ganz normalen Umgebung groß geworden und hatten vorher einen Job in einer Drogerie, hat Zoë mir erzählt.«
Wie eine Pinzette senkten sich die langen Fingernägel in Pink mit den glitzernden Verzierungen über die Schachtel und hoben geschickt ein weiteres – diesmal mit Mandeln verzierte – Stück Konfekt in die Höhe.
»Ja, ich habe ein ziemlich normales Leben geführt, ehe all das hier passiert ist. Am Anfang war alles schon ein bisschen seltsam. Erst erscheint es einem komisch, dass man nicht pleite ist – Geldbeutel leer, Kreditkartenlimit erreicht. Und dann, rums, hat man plötzlich richtig Geld auf dem Konto.« Sie lächelte süß. »Aber ich komme schon klar.«
»Also hat Perdita Moody eine Weile hier gewohnt.«
»Drei Tage. Sie ist Tag für Tag zu den Agenturen gewandert. Sie hat jede Menge Exemplare von The Stage angeschleppt und andere Zeitschriften, in denen kleine Rollen und Posten im Chor ausgeschrieben werden.« Sie zuckte die Achseln. »So was mache ich nicht mehr. Die zahlen so gut wie nichts. Wenn ich meine Trümpfe richtig ausspiele, kriege ich jede Menge Knete.«
»Hat Perdita einen Job gefunden?«
Candys Stirn legte sich in Grübelfalten. Honey schloss daraus, dass ernsthaft nachgedacht wurde.
»Sie hat gesagt, sie hätte in der Zeitung einen Job gefunden, und dann hat jemand für sie angerufen. Das könnte der Job aus der Zeitung gewesen sein. Ich glaube, so war es. Sie hat sich die Wegbeschreibung notiert und den Namen der Person, die sie treffen sollte.«
»Sie haben nicht zufällig eine Ahnung, wen sie getroffen hat und wo sie hingegangen ist?«
Mit einem Rascheln hob Candy die leere obere Lage aus der Pralinenschachtel. Das erste Stück Konfekt aus der zweiten Lage verschwand in Candys Kirschmündchen.
Die rosaweiße junge Frau mit den ellenlangen Beinen überlegte, während sie kaute. Zumindest interpretierte Honey den geistesabwesenden Gesichtsausdruck so.
»Nein«, sagte Candy schließlich. »Kann mich nicht erinnern.« Plötzlich hellte sich ihre Miene auf. »Ich sag Ihnen was: Ich hab die Zeitung noch. Sie hat die interessanteren Anzeigen immer eingekringelt. Die Zeitung ist im Müll. In der Küche.«
Sie deutete mit dem Finger in die entsprechende Richtung.
Honey blieb sitzen. Candy desgleichen. Keine von beiden bewegte sich.
»Sie finden sie in der Mülltüte«, wiederholte Candy. Ihre Augen und Finger waren auf die ständig schwindende Lage Konfekt gerichtet. »In der Küche.«
Honey hatte begriffen. Auf keinen Fall würden diese fein manikürten Fingernägel im Müll zwischen kalten Pizzaresten, schlappen Salatblättern und feuchtem Zeitungspapier herumwühlen.
»Danke«, murmelte Honey.
In Candys Mülltüte waren aber keine kalten Pizzareste, keine schlappen Salatblätter und auch sonst nicht viel. Die Küche war so modern und glänzend wie der Rest der Wohnung. Honey und ihre Umgebung spiegelten sich in den schwarzen Arbeitsflächen aus Granit und den weißen Hochglanzfronten der Schränke. Kein Essensgeruch, keine Büchsen, die mit »Tee«, »Kaffee« oder »Zucker« beschriftet waren, keine elektrischen Küchengeräte. Wenn es sie gab, dann hinter verschlossenen Türen. Dies hier, befand Honey, war alles andere, nur keine benutzte Küche. Es war eine Modellküche, die irgendwo auf den Einrichtungsseiten einer Zeitschrift wie Hello! oder OK! auftauchte. Irgendeines dieser Blätter würde bestimmt einmal eine Homestory über Candy bringen, überlegte sie.
Sie lächelte. Smudger würde sich darüber kaputtlachen, dass dieser Herd offensichtlich noch nie angeschaltet worden war. Eine Küche zum Fotografieren, nicht zum Kochen, würde er sagen. Eine Stunde in einer anständigen Küche, und er hätte alles angeschaltet, Töpfe und Pfannen blitzschnell aufgesetzt und vom Herd gezogen.
Von einem Mülleimer war nirgends eine Spur. Honey klappte die Türen der glänzenden, völlig unbenutzten Schränke auf und zu. Da gab es Geschirr, Gläser und Besteck, aber keinen Krümel Essen. Schließlich fand sie den Mülleimer, der ordentlich hinter einer Tür versteckt war, die als Schubladen getarnt war. Zum Glück waren nur Zeitungen drin. Honey vermutete, dass sie alle Perdita gehört hatten. Candy erschien in Zeitungen, aber sie war nicht der Typ für Zeitungslektüre. Sie war nicht der Typ für irgendeine Lektüre.
Honey verspürte ein bösartiges Vergnügen, als sie die zerknitterten Zeitungsblätter auf den jungfräulichen Oberflächen der makellosen Küche ausbreitete. Sie blätterte sie rasch durch, auf der Suche nach gekennzeichneten Anzeigen. Es gab jede Menge Annoncen, aber keine war mit Kugelschreiber markiert. Erst auf der letzten Seite, gleich unter den Fußballberichten, wurde sie fündig. Sie las die Anzeige.
MÄDCHEN WOLLEN JUNGEN SEIN
UND JUNGEN WOLLEN MÄDCHEN SEIN!
Über eins achtzig?
Am schicksten im Kleid?
Dann sind Sie vielleicht genau, was wir suchen.
Neue Tanztruppe.
Kontakt: Miss Lampton unter …
Dahinter stand eine Telefonnummer. Honey zog ihr Handy aus der Tasche und wählte die Nummer.
Die Ansage der Mailbox verwies sie auf eine Agentur, die auf Varieténummern spezialisiert war. Eine geschäftsmäßige weibliche Stimme antwortete: »Womit kann ich Ihnen helfen?«
Honey erklärte, wen sie suchte und warum. »Eine Tante in Bath sorgt sich, weil sich die junge Dame lange nicht gemeldet hat. Könnten Sie mir behilflich sein?«
»Ich sehe mal in unserer Kartei nach.«
Candy tauchte nicht in der Küche auf, um sich zu erkundigen, ob sie etwas gefunden hatte. Honey fragte sich, ob sie die Küche je betrat, außer vielleicht, um ein Glas Wasser zu holen.
Die Frau am anderen Ende der Leitung kam zurück.
»Sie ist in unserer Kartei.«
Honey stieß einen erleichterten Seufzer aus. Das waren wirklich gute Neuigkeiten.
»Können Sie mir vielleicht sagen, wo sie ist?«
»Aber sicher. Sie ist in Swindon und probt gerade mit einer neugegründeten Tanztruppe. Sie werden hauptsächlich in Nachtklubs auftreten.«
Honey hatte den Eindruck, dass die Frau die Geschichte mit der Tante in Bath nicht recht glauben wollte. Sie bat um die Adresse, wo sie die Truppe finden würde.
»Es ist der Goats’ Cheese Nightclub.« Dann konnte sie sich eine gehässige Bemerkung nicht verkneifen. »Da sind aber alle Stellen bereits besetzt«, meinte sie mit herrischer Stimme. »Die brauchen niemand mehr. Es scheint doch mehr von dieser Sorte zu geben, als ich gedacht hätte.«
Dann war die Leitung tot.
Honey hatte keine Ahnung, was die Frau meinte. Aber egal, Swindon lag ja für sie auf dem Heimweg. Sie machte sich auf den Weg nach Paddington. Es würde wahrscheinlich schon auf Mitternacht zugehen, bis sie wieder nach Bath zurückkam, aber das war ihr gleichgültig. Sie wollte diesen Fall allein lösen, wenn man ihn denn Fall nennen konnte. Die kleine Miss Cleveley hatte sie um Hilfe gebeten, und es hatte sich herausgestellt, dass Perdita sich mit dem Verlobten der ermordeten Schauspielerin getroffen hatte. Der zufällig ein aalglatter, betrügerischer Mistkerl war …
Na, wenn schon! Nachdem sie Perdita gefunden hatte und sich versichert hatte, dass es ihr gut ging, konnte sie sich wieder ganz darauf konzentrieren, wer Jane Austen ermordet hatte – beziehungsweise: Martyna Manderley. Sie hoffte inbrünstig, dass Brett Coleridge der Mörder war. Okay, gestand sie sich ein, sie war vielleicht eine Spur voreingenommen.