Kapitel 6

Casper St. John Gervais, der Vorsitzende des Hotelfachverbandes von Bath, trat ihnen in den Weg, als sie zum Tatort gehen wollten. Er nahm Honey zur Seite.

»Ich denke, ich brauche nicht zu betonen, wie wichtig es ist, dass diese Angelegenheit so rasch wie möglich aufgeklärt wird. Ist Ihnen klar, wie viele Filme in Bath gedreht werden? Und wie viel Geld sie der Stadt einbringen?«

Natürlich war ihr das klar. Jane Austens Romane wurden immer und immer wieder verfilmt, ad infinitum, dazu noch andere historische Romane und deftige Schinken wie Tom Jones, Moll Flanders und Fanny Hill. Wer das echte Ambiente des achtzehnten Jahrhunderts brauchte, kam nach Bath. Es war, als lebte man in einem riesigen Filmset.

Casper redete munter weiter, um zu betonen, dass die großen Produktionsgesellschaften in Hollywood natürlich nur ungern ihre Dreharbeiten an einen Ort verlegen würden, wo sie Gefahr liefen, dass ihre Hauptdarstellerin das Zeitliche segnet.

Honey seufzte. »Vielleicht waren sie ja gar nicht sauer auf die Hauptdarstellerin. Vielleicht hatten sie die Nase gestrichen voll von Jane Austen. Und in diesem Fall wäre ich einer Meinung mit ihnen.«

Caspers blassblaue Augen weiteten sich vor Schrecken. »Machen Sie keine frivolen Scherze, Honey! Ich glaube Ihnen einfach nicht, dass Sie Jane Austen nicht mögen.«

»Stimmt aber. Zu langatmig. Zu lahm.«

Casper schnappte nach Luft. Es hatte ihm die Sprache verschlagen.

Doherty zerrte sie weiter. »Böses Mädchen! Wie gemein du bist!« Er schnalzte missbilligend mit der Zunge und grinste.

»Ich war nur ehrlich.«

»Du magst also Stolz und Vorurteil nicht?«

»Meine Mutter mag es. Das liegt an den Hosen. Die liegen so eng an. Frauen mögen enge Hosen. Das bringt die Schlampe in ihnen zum Vorschein.«

»Hm. Vielleicht lege ich mir mal ein Paar zu?«

»Na, das würde meinen Tag wirklich aufheitern.«

 

Martyna war die einzige Mitwirkende des Films, die einen eigenen Wohnwagen hatte. Die Garderoben für alle anderen waren auf der anderen Straßenseite im großen Haus untergebracht, und die Statisten mussten sich mit dem ausrangierten Londoner Doppeldecker zufriedengeben.

Man hatte Doherty einen Umschlag in die Hand gedrückt, in dem sich Fotografien des Opfers befanden. Er blieb vor dem Wohnwagen stehen und blätterte die Bilder kurz durch.

»Schlimm?«, fragte Honey.

»Na ja, für eine Doppelseite im Hello! taugen sie nicht, das ist mal sicher.«

Nachdem er die Fotos wieder in den Umschlag gesteckt hatte, betraten Honey und Doherty den Wohnwagen. Der war so groß, dass eine achtköpfige Familie bequem darin hätte leben können, und er war luxuriös ausgestattet. Die Polstermöbel waren in einem frischen Minzgrün bezogen. Der Teppich war weiß. Man hatte alles für die Schauspielerin eigens so angefertigt. Das Bad war mit einer großen Badewanne ausgestattet, hatte vergoldete Armaturen und eine separate Duschkabine. In regelmäßigen Intervallen sprühte ein Zerstäuber Wohlgerüche in den Raum. Es war ein tragbares Gerät, das sich neben einem Heizlüfter unter dem zwei Meter langen Schminktisch befand, dessen großer Spiegel von Make-up-Lampen umrahmt war. Auf dem Tisch standen Tuben, Tiegel und Parfümflakons in einem Meer von Blut.

Doherty nahm ein Foto aus dem braunen Umschlag und reichte es Honey. Darauf sah man Martyna Manderley, die auf ihrem Schminktisch zusammengesunken war.

»Mit einer Hutnadel erstochen.«

»Aua!«, meinte Honey. »Wir müssen herausfinden, wer dieses Drehbuch auf den Stuhl gelegt hat.«

Er nickte. »Stimmt. Da sind eine Menge Fragen zu stellen. Ich fange am besten mal bei dir an. Wen hast du in der unmittelbaren Umgebung des Stuhls gesehen?«

Honey runzelte nachdenklich die Stirn und versuchte, sich die Szene noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Sie erinnerte sich an leere Stühle auf der einen Seite und an eine Lücke dazwischen. In der Reihe vor ihr hatten ein paar Leute gesessen, ein paar hatten dahinter gestanden und sich gerade setzen wollen. Wer war da noch gewesen? Was war da noch gewesen?

»Wessen Fingerabdrücke waren denn auf dem Drehbuch? Außer meinen.«

»Natürlich die von Martyna Manderley. Den Rest haben wir noch nicht überprüft. Aber es werden bestimmt viele verschiedene sein. Drehbücher gehen von Hand zu Hand, und Martyna hatte auch eine Souffleuse, die ihr die Stichworte gab, während sie ihren Text sprach. Die saß manchmal beim Drehen an der Seite.«

»Haben wir – pardon, haben deine Leute – die Souffleuse schon befragt?«

»Mein Detective Sergeant hat das gemacht. Er ist sehr eifrig. Wie du vorhin gesehen hast«, meinte er mit einem schiefen kleinen Grinsen und lustig zusammengekniffenen Augen. »Martyna hatte sie dazu verdonnert, ihr das ganze Drehbuch vorzulesen. Nun lutscht sie Halsbonbons, während sie sich mit einer Tasse Kaffee an einen der Regieassistenten kuschelt. Sie konnte Martyna nicht leiden, beteuerte aber, sie hätte sie nicht umgebracht. Anscheinend hat Martyna viel herumgebrüllt. Ich habe mir sagen lassen, dass sie den heutigen Tag damit begonnen hat, dich anzuschreien. Worum ging es denn da?« Honey umriss noch einmal die Telefon-Szene.

Doherty nahm eine Ausgabe von Hello! in die Hand und blätterte zu dem Artikel, der von Martyna Manderley und ihrem Verlobten Brett Coleridge, dem Multimillionär und Lebemann, handelte.

WERDEN SIE MR UND MRS PERFECT? lautete die Schlagzeile.

»Na, das werden wir nun nie rausfinden«, meinte Honey. »Wirklich tragisch.«

Doherty schien ihr gar nicht zuzuhören. Er dachte laut nach. »Warum hat jemand das Drehbuch da hingelegt? Warum sollte man überhaupt ein blutbesudeltes Drehbuch mitnehmen?«

»Vielleicht hat es jemand in aller Eile fallen lassen. Jemand anderer hat es gefunden und dort hingelegt. Oder jemand hat es absichtlich dort platziert, um den Verdacht auf eine andere Person zu lenken.«

»Das ist ein bisschen weit hergeholt, aber zum Teufel, was haben wir sonst schon in der Hand?«, meinte Doherty.

Sie schnüffelten weiter herum. Doherty schnüffelte im wahrsten Sinn des Wortes.

»Es riecht irgendwie seltsam hier.«

»Das kommt von dem Ding da«, erklärte Honey und deutete auf den Zerstäuber mit dem Raumspray, der unter dem eingebauten Schminktisch umgefallen war. Daneben stand ein tragbarer Heizlüfter. »Der soll immer einen angenehmen Duft im Raum verteilen. Wenn auch der Platz neben dem Heizlüfter ein bisschen seltsam gewählt ist.«

»Käsefüße?«, schlug Doherty vor.

Honey nahm vor dem Schminkspiegel ein paar Starposen ein. Jean Harlow. Marilyn Monroe.

»Filmstars haben keine Käsefüße«, versicherte sie Steve mit Autorität, während sie sich das Haar richtete. »Die haben Mäzene, die ihnen jeden Luxus ermöglichen, den du dir nur wünschen kannst, damit sie immer absolut traumhaft aussehen, traumhaft gehen und traumhaft riechen. Das schließt auch Fußpuder mit ein.«

Dann steckte sie die Hände tief in die Taschen, damit sie nicht in Versuchung kam, irgendetwas anzufassen. Sie schlenderte von einem Ende des Wohnwagens zum anderen. Alles war ziemlich ordentlich, wenn man bedachte, dass hier kürzlich ein Mord geschehen war. Bücher gab es keine. Auch keine Zeitschriften, abgesehen von der, die sie sich gerade angeschaut hatten. Und kein Drehbuch.

»Es muss das einzige Drehbuch gewesen sein, das sie hatte. Warum sollte es jemand mitnehmen?«

Doherty zuckte die Achseln. »Wir richten drüben im Haus eine Einsatzzentrale ein. Jemand muss gesehen haben, wie der Mörder in den Wohnwagen hineinging. Niemand verlässt diesen Ort, ehe ich nicht alles zu meiner Zufriedenheit überprüft habe.«

»Gilt das auch für die Statisten?«

»Natürlich.«

»Einschließlich meiner Familienmitglieder?«

Doherty erstarrte und schien die Luft anzuhalten. »Deine Mutter ist auch als Statistin dabei?«

»Leider ja. Sie ist eine unverbesserliche Romantikerin. Das müsstest du doch inzwischen wissen. Sie hat sogar ein Musselinkleid und einen Strohhut ergattert.«

»Und ich hatte mich schon darauf gefreut, dass wir beide, du und ich, hier unseren eigenen kleinen Erotikfilm drehen könnten.«

»Doch nicht bei dem Wetter …«

»Wir hätten doch wegfahren sollen.«

»Lass uns erst mal das hier in trockene Tücher bringen«, erwiderte Honey.

Wenn er nicht einen Mordfall am Hals gehabt hätte, dann hätte Doherty so etwas Ähnliches erwidert wie: »Und dann können wir zwei endlich zwischen die Tücher, äh, Laken.« Aber wenn es drauf ankam, dann wurde er immer sehr ernst.

Er wandte seine Gedanken widerwillig den anliegenden Aufgaben zu, einer Reihe von Befragungen und bereits aufgenommenen Aussagen, und sagte: »Ich hab noch einiges zu tun. Wir sehen uns später – das heißt, wenn du Zeit hast. Ich würde dich ja zu mir einladen, aber ich weiß nicht, wann ich wieder zu Hause sein werde. Würde es dir was ausmachen, wenn ich bei dir vorbeikäme?«

Sie zögerte keine Sekunde. »Wann immer du magst.«

Wieder waberte der Duft von gebratenem Speck herüber, nun auch noch begleitet vom würzigen Aroma einer leckeren Cottage Pie: Hackfleisch in einer sämigen Soße mit Zwiebeln und Möhren, darüber eine überbackene Kruste aus luftig leichtem Kartoffelbrei. Das Geschäft am Cateringwagen lief blendend. Honeys Magen knurrte. Ihre Augen blieben weiter auf den Wagen gerichtet.

Doherty hatte sie nicht eingeladen, bei den Befragungen dabeizusitzen, und sie hatte ihn auch nicht gefragt, ob sie das dürfte.

Sie schaute zu dem wunderschönen Regency-Haus hinüber, aus dem sie gerade gekommen waren. Der Name »Circus« war genau richtig gewählt für diesen Platz, der mindestens genauso berühmt war wie der Royal Crescent. Zudem hatte der Architekt John Palmer hier ein echtes Juwel geschaffen: drei Segmente mit je elf Häusern bildeten einen Kreis, der in der Mitte ein Rondell wie eine grüne Insel einschloss.

Honey wandte ihren Blick um 180 Grad und schaute wieder auf den Cateringwagen. Das Haus und der Wagen von Martyna Manderley standen einander gegenüber. Unmittelbar vor ihr und auf halbem Weg zum Tatort war der Cateringwagen geparkt. Sie sah noch einmal genau hin. Kein Zweifel: Der große alte Imbisswagen, an dessen Theke warmes Essen und Getränke ausgegeben wurden, war direkt in der Mitte platziert und bot den besten Blick auf Martyna Manderleys Wohnwagen. Der Typ, der den Wagen betrieb, musste einfach was gesehen haben.