Sie erreichten um halb neun den Londoner Bahnhof Paddington. Von dort nahmen sie die U-Bahn zur Canary Wharf und ein Taxi zu dem Hotel, in dem Brett Coleridge seine neckischen Spielchen getrieben hatte.
Miss Rhoda Tay, die Hoteldirektorin, stammte aus Malaysia, und ihr Gebaren war außerordentlich geschäftsmäßig. Außerdem war sie klein, adrett und betrachtete Honey und Steve gleich von Anfang an abschätzend mit ihren harten, abweisenden Katzenaugen.
»Wir haben einen Ruf zu verlieren, und wir verletzen nur höchst ungern die Intimsphäre unserer Gäste«, warnte sie die beiden in kernigem und effizientem Tonfall.
Sie standen in ihrem Büro, das nichts außer einem Schreibtisch und einem Stuhl (ihrem) zu enthalten schien. Die Wände waren in Quadrate aus Schwarz und Chrom unterteilt, als hätte man ein riesiges Schachbrett hochkant gestellt.
»Es handelt sich um eine Polizeisache. Ich kann mir auch einen Durchsuchungsbefehl besorgen«, antwortete Doherty.
Plötzlich schien die zierliche Frau über sich hinauszuwachsen. »Wollen Sie mir etwa drohen, Herr Polizist?«
»Detective Inspector Doherty. Nein, Madam, ich folge nur den üblichen Regeln.« Profi vom Scheitel bis zu den Sohlen seiner Stiefel Größe 46, wirkte Doherty äußerst kühl.
Honey ließ sich davon nicht narren. Sie sah, wie ein Muskel in seinem Kiefer zuckte. Sie vermutete, dass es ihn wurmte, wenn er wie ein plattfüßiger Streifenpolizist angeraunzt wurde.
Miss Tay schaute weiterhin eiskalt und ruhig wie ein Porzellanpüppchen. »Bitte, setzen Sie sich.«
Sie drückte auf einen Knopf. Zwei Würfel schoben sich aus der Schachbrettwand nach vorn, hinter ihnen falteten sich gepolsterte Rückteile auf und bildeten Stühle.
Sie sahen allerdings nicht sonderlich bequem aus und waren vermutlich eigens so gestaltet, dass Gäste sich nicht allzu lange darauf niederließen.
Honey brach das ungemütliche Schweigen, das zwischen Doherty und Miss Tay herrschte. Sie erklärte, dass sie in Fällen, die sich negativ auf den Tourismus auswirken könnten, den Hotelfachverband von Bath repräsentierte.
»Da Sie auch mit dem Hotelfach zu tun haben, können Sie unsere Sorge gewiss verstehen. Es herrscht ein starker Wettbewerb, und Mord ist schlecht fürs Geschäft.«
Es sah aus, als dächte Miss Tay außerordentlich gründlich über diesen Satz nach, wenn sich auch auf ihrer Miene kein Sinneswandel spiegelte.
»Ah ja«, sagte sie schließlich. »Mr Coleridge ist also ein Zeuge?« Mit dieser Frage wandte sie sich an Doherty.
Honey sprang wieder dazwischen. »Die Polizei würde ihn gern aus der Untersuchung ausklammern. Und Sie könnten uns dabei behilflich sein. Ich bin sicher, dass es Mr Coleridge – oder in der Tat jeder andere Gast – sehr zu schätzen wüsste, wenn Sie dabei helfen, seinen guten Namen zu wahren.«
Miss Tay blinzelte in Honeys Richtung. »Gewiss, Mrs Driver.«
Obwohl ihre Lippen lächelten, blieb Miss Tays Gesichtsausdruck unverändert starr.
Jetzt war Doherty an der Reihe.
»Wir kennen bereits das Datum seines Aufenthalts bei Ihnen, und wir wissen, dass er bei der Ermordeten angerufen hat. Wir haben eine Auflistung aller bei ihr eingegangenen Telefonate. Es ist uns also bekannt, dass sie von seinem Mobiltelefon aus angerufen wurde, während er hier war. Seine Sekretärin hat uns auch mitgeteilt, dass er mit Sicherheit an diesem Tag in Ihrem Haus übernachtet hat. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, ob er Gäste hatte, während er sich hier aufhielt.«
Flink huschten die Katzenaugen von Honey zu Steve und zurück. Die Finger mit den rot lackierten Nägeln waren verschränkt wie ein fest verschlossenes Gatter.
Als Honey bemerkte, dass Miss Tay ihre Finger lockerte, wusste sie, dass sie die Hoteldirektorin auf ihre Seite gezogen hatten.
»Ich frage am Empfang nach.«
Ein langer, eleganter Finger drückte eine Taste auf dem Telefon.
»Die werden sich bei mir melden«, meinte sie dann, sobald sie ihre Befehle erteilt hatte.
Honey rutschte ein wenig auf ihrem Stuhl hin und her. Ihr war ein Gedanke gekommen. Es war reine Spekulation, und sie hatte auch Doherty nicht um seine Zustimmung gebeten, aber, he, was sollte es, schließlich war sie ein freier Mensch und folgte einfach ihrem Bauchgefühl.
»Haben Sie je diese junge Frau gesehen?«, fragte sie und legte Miss Tay blitzschnell die Fotos von Perdita Moody vor.
Die schaute sich zunächst das Porträt, dann die andere Aufnahme von der vermissten jungen Dame an. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nie gesehen. Ich nehme an, Sie werden mich bitten, auch bei meinen Angestellten nachzufragen? Ich lasse Fotokopien anfertigen.«
Honey ignorierte Dohertys wütende Blicke, dankte der Frau und fügte hinzu: »Sie heißt Perdita Moody.«
»Perdita!« Eine dünn gezupfte Augenbraue schoss fragend in die Höhe. »Was für ein furchtbar altmodischer Name! Das könnte ja eine Gestalt aus einem Roman von Agatha Christie sein.«
Ein Klopfen an der Tür unterbrach sie. Der schlanke junge Mann, der nähere Angaben zu Brett Coleridges Gästen brachte, nahm auch die Fotos mit, um sie zu kopieren und dem Personal zu zeigen.
»Ah«, meinte Miss Tay, nachdem sie sich die Computerausdrucke angesehen hatte, die vor ihr auf dem Tisch lagen. »Mr Coleridge hatte Besuch von seinen beiden Nichten.«
»Ach, wirklich?«, erwiderte Doherty.
Honey hörte den sarkastischen Ton. Auf der Hinfahrt hatte ihr Doherty berichtet, dass Mr Coleridge keine Geschwister hatte – folglich weder Nichten noch Neffen. Nichts jedoch hatte sie auf die nächste Information vorbereitet.
»Und dann war da noch eine Frau zu Besuch, die sagte, sie sei seine Schwester.« Miss Tays adretter Kopf ruckte hoch. Sie wirkte sehr überrascht. »Perdita Moody!«
Honey war ziemlich verdattert. Dass Coleridge ein Lügner und Betrüger war, überraschte sie jedoch nicht sonderlich.
Miss Tay bat sie, zum Empfang mitzukommen, wo sie ihnen die Empfangsmitarbeiterin vorstellte, die an jenem Tag Dienst gehabt hatte. Es war eine schmale junge Frau mit kaffeebrauner Haut und dunklen, samtigen Augen. Sie hieß Leila Dewar.
Honey zeigte ihr die Fotos.
Sie zuckte die Achseln und runzelte gleichzeitig fragend die Stirn. »Das ist schwierig. Wir sehen hier jeden Tag so viele Leute. Aber ich denke doch, dass es dieselbe Frau ist. Das Gesicht kommt mir bekannt vor, aber die Haare sind anders. Blond mit rotbraunen Strähnchen. Ich bin mir jedoch sicher, dass es das gleiche Gesicht ist. Und sie war groß. Das war ungewöhnlich. Sie war sehr groß.«
Doherty seufzte. »Vielleicht könnten wir jetzt eine Tasse Tee trinken. Ich denke, wir müssen darüber reden. Kann man bei Ihnen Tee bekommen?«, fragte er Miss Tay.
»Aber natürlich. Ich bestelle ihn für Sie. Bitte setzen Sie sich doch.«
Sie deutete auf eine Gruppe bequemer Sessel und Sofas, die in der Nähe des Empfangstresens standen. Gleich dahinter befand sich ein Bistrobereich mit Esstischen und Stühlen. Sie nahmen ganz in der Nähe Platz, damit sie sowohl die Mitarbeiter am Empfang als auch die Mittagsgäste im Auge behalten konnten.
Miss Tay wünschte ihnen noch einen guten Tag.
Doherty war knurrig. »Was hat dich denn da geritten?«
»Miss Cleveley hat eine Weile am Filmset mitgearbeitet, und ihre Nichte Perdita auch. Miss Cleveley hat mir gesagt, die junge Dame sei eine aufstrebende Schauspielerin und Entertainerin. Da war es doch gar nicht so absurd, zu vermuten, dass Perdita und Brett Coleridge einander schon einmal begegnet sein könnten. Außerdem hat er auf mich wirklich den Eindruck gemacht, als wäre er der Typ, der fremdgeht, verlobt oder nicht. Viel zu aalglatt. Und zu selbstsicher.«
»Hast du je darüber nachgedacht, dich als Kummerkastentante zu betätigen?«
»Das mach ich doch ständig. Hast du schon mal in einem Hotel oder in einer Kneipe an der Bar gearbeitet? Da erzählen einem die Leute alles Mögliche. Sie schütten dir ihr Herz aus, und du gibst ihnen weise Ratschläge«, erklärte Honey.
»Das ist ja nicht gerade professionelle psychologische Beratung.«
»Nein, es ist besser. Die Leute sagen die Wahrheit, wenn sie beschwipst sind.«
»Und wenn du beschwipst bist?«
Sie warf den Kopf in den Nacken und konnte sich einen selbstzufriedenen Gesichtsausdruck nicht verkneifen. »Die pichelnde Philosophin, das bin ich.«
Ein Tablett mit Teetassen, einer Teekanne und einem kleinen Teller mit Butterkeksen wurde gebracht. Honey und Steve machten sich darüber her. Sie hatten keine Zeit zum Frühstücken gehabt.
Schließlich besprachen sie ihren nächsten Besuch.
Außer einer Yacht in Antigua, einem Landgut in Schottland und einer Pferderanch in Kentucky besaß Brett Coleridge auch noch ein Penthouse in Kensington.
»Warum geht er in ein Hotel, wenn er ein Penthouse ganz in der Nähe hat?«, überlegte Doherty laut.
»Weil seine Nichten stundenweise bezahlt werden?«
»Na ja, ich glaube jedenfalls nicht, dass er sie als Brautjungfern einsetzen wollte.«
Honey hielt inne, als sie sich gerade ihren zweiten Butterkeks nehmen wollte. »Ich habe doch gleich gewusst, dass er ein Mistkerl ist. Für die habe ich einfach einen Riecher.«
»Einen ziemlich hübschen Riecher.«
»Und einen leeren Magen.«
»Ich auch. Ich bin kurz vorm Verhungern.«
Während sie kaute und Tee trank, wanderten ihre Gedanken. Als erfahrene Hotelfrau ließ sie den Blick über die Gäste schweifen, die sich im Empfangsbereich aufhielten.
Da waren ein paar Leute vom Land, die zum Einkaufen oder zum Mittagessen in die Stadt gekommen waren oder sich mit ihren Finanzberatern oder Rechtsanwälten treffen wollten. Dann gab es Touristen aus aller Herren Länder. Und einige Einzelpersonen, die schwieriger einzuordnen waren. Manche saßen allein da und lasen Zeitung, andere taten nur so und schauten jedes Mal hoch, wenn jemand zur Eingangstür hereinkam.
»Ziemlich nobler Schuppen«, meinte Doherty, während er einen Butterkeks in seinen Tee tunkte. »Gehobene Klientel.«
Honey lächelte.
»Da würdest du dich wundern«, sagte sie leise.
Sie ließ Doherty munter weiterplappern. Er sprach über Schauspieler und wie schwer es doch sein musste, von einer Rolle zur anderen umzuschalten.
»Die müssen doch manchmal vergessen, wer sie eigentlich wirklich sind«, meinte er gerade.
»Wie schon der gute alte Shakespeare gesagt hat: ›Die Welt ist eine Bühne‹, und wir sind alle irgendwie Schauspieler.«
»Wirklich?«
»Er hatte recht.«
Doherty grunzte und stippte noch einen Butterkeks in den Tee.
Honey schaute sich über den Rand ihrer Teetasse hinweg weiter das Kommen und Gehen im Hotel an.
Im Restaurant waren die Tische mit weißem Leinen eingedeckt, es standen bequeme Stühle da, und eine ganze Traube gutaussehender Kellner wartete dienstbeflissen. Das Essen würde bestimmt gut schmecken, überlegte Honey, und es wäre wunderschön angerichtet.
Geschäftsleute in Anzügen und Schuhen von Gucci; Damen, die Verabredungen zum Lunch hatten, aber nie arbeiteten; und Damen, die beides taten. Eine Frau hatte Honeys Aufmerksamkeit ganz besonders auf sich gezogen. Für alle, die nicht jeden Tag mit dem Alltag eines besseren Hotels zu tun haben, wirkte sie wie eine Power-Geschäftsfrau. Sie trug ein adrettes Kostüm mit breiten Schultern und sah ganz so aus, als sei sie bereit für einen kleinen Ringkampf mit ihren männlichen Kollegen in irgendeinem Aufsichtsrat in der City. Aber einige kleine Details verrieten sie. Honey wusste, wonach sie Ausschau halten musste.
Höchst respektabel aussehen. Besser noch: superreich aussehen. Die Frau sah superreich aus. Guter Schmuck, Modeschmuck wahrscheinlich, Designerkleidung, das richtige Make-up, die richtigen Farben; makellos präsentiert. Bis auf die paar Kleinigkeiten.
Die Absätze waren zu hoch, und die Schuhe hatten ein Riemchen am Knöchel. Der Rock war zu kurz. Die Beine steckten in Netzstrümpfen – aber es war nicht das normale Netzgewebe, das feinere Netz war noch mit einem gröberen aus großen schwarzen Rhomben überzogen.
Neben einer italienischen Lederhandtasche in einem sehr schönen Korallenrot hatte die junge Frau – Honey schätzte sie auf etwa siebenundzwanzig – noch eine Reihe nobler Tragetaschen hereingeschleppt – von Harvey Nichols, Harrods und edlen Boutiquen. Alles verkündete, dass sie reichlich Geld ausgeben konnte.
Plötzlich bemerkte Doherty, wohin Honey schaute.
»Sieht aus, als hätte die Dame ernsthaft eingekauft.«
»Sieht aus, als hätte sie in Knightsbridge eingekauft.«
»Sieht aus, als hätte sie ein schönes Sümmchen ausgegeben.«
Typisch Mann. Doherty sah nicht, was sie sah. Sie musste über seine Naivität lächeln.
»Nein. Sie ist nicht zum Einkaufen hergekommen. Sie will was verkaufen. Und unser Freund Mr Coleridge war hier, um zu kaufen.«
Doherty starrte sie ungläubig an. »Die sieht doch viel zu nobel aus. Was hast du bemerkt, das ich nicht gesehen habe?«
»Die ist eine Klassedame, die auch Klassepreise verlangt. Bleib sitzen. Ich geh mal hin und unterhalte mich mit ihr.«
»He, ich bin hier der Polizist.«
»Eben.«
Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte ihn wieder auf den Stuhl zurück. Dann schaute sie ihm milde in die Augen. »Und ich bin eine Frau, deren Freundin Perdita Moody vermisst wird. Was meinst du, wem von uns beiden wird sie wohl eher antworten?«
Das war nur zu klar, und Doherty gehorchte und setzte sich brav wieder hin.
»Bestell dir noch mehr Tee und Butterkekse«, schlug Honey ihm vor.
Mit Perditas Fotos in der Hand und der Handtasche über der Schulter machte sich Honey auf den Weg zu dem Ecktisch.
Als sie näher kam, erkannte sie, dass der Schmuck wirklich Modeschmuck war, wenn auch sehr teurer. Er sah aus, als könnten es alte Stücke sein, erstklassig, genau wie die Kleidung. Das Kostüm war ganz schlicht: keine Rüschen, keine Schleifen, kein übermäßig betontes Dekolleté. Nur die Schuhe und die Netzstrümpfe waren ein wenig enttäuschend, hätten eher in einen Nachtklub in der Vorstadt als in ein Bistro in Biarritz gehört.
»Entschuldigen Sie«, sagte Honey freundlich. »Ich bin Reporterin für eine überregionale Zeitung und war mir nicht sicher, ob Sie nicht vielleicht eine Berühmtheit sind. Habe ich recht?«
Die junge Dame mit dem makellos geschminkten Gesicht musterte sie. Elegant geschwungene Augenbrauen, die nur ein Profi so zupfen konnte, wurden überrascht hochgezogen. »Es tut mir leid, da irren Sie sich. Ich warte auf einen …«
Honey unterbrach sie. »Wir sollten uns unterhalten. Oder wäre es Ihnen lieber, wenn ich vom Sicherheitspersonal des Hotels Ihre Personalien überprüfen lasse?«
Honey setzte sich und nutzte den Vorteil aus.
Mit Gold und Diamanten geschmückte Finger umklammerten die Griffe der Tragetaschen. Die braunen Augen blickten verängstigt.
»Sind Sie von der Polizei?«
»Nur um ein paar Ecken herum. Ich suche eine vermisste Person. Könnten Sie einen Blick auf diese Fotos werfen? Vielleicht haben Sie die junge Frau schon einmal hier in diesem Hotel gesehen?«
»Ich bin sicher, da kann ich Ihnen nicht helfen.«
Sie wandte ihren Blick nicht von Honeys Gesicht.
»Ich glaube, Perdita ist hierhergekommen, um sich mit einem Kunden zu treffen, und nun ist sie verschwunden. Ihre Familie macht sich große Sorgen um sie. Sie möchten doch sicher auch, dass jemand Ihrer Familie hilft, falls Sie nach einem Treffen mit einem Kunden vermisst würden.«
Einen Augenblick lang wirkten die wissenden Augen so, als überlegte die junge Frau, ob sie helfen sollte oder nicht. Endlich schaute sie sich die beiden Fotos nacheinander an.
»Nein«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Ich habe sie noch nie gesehen.«
Enttäuscht, aber nicht gerade überrascht überlegte Honey, wie sie jetzt am besten weiter vorgehen sollte. Sicherlich frequentierte mehr als nur eine Edelnutte dieses Hotel, und wie Arbeiterinnen in einer Fabrik kannten sie einander doch bestimmt alle ein wenig.
In Büros oder Fabriken tauschte man sich über seine Erfahrungen aus, und man redete sich bei der Kaffeemaschine oder in der Kantine den Ärger über die Bezahlung und die Arbeitsbedingungen von der Seele. Gott weiß, wo diese Mädchen miteinander tratschten, aber sie machten es bestimmt. Und junge Frauen teilten doch so allerhand miteinander: Freunde, Lippenstifte. Und Informationen!
Honey behielt den »Wir-sind-doch-alle-Schwestern«-Tonfall bei. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie diese Fotos mitnehmen und ein wenig herumzeigen könnten. Ich habe ein paar Kopien. Das Hotel war so freundlich. Würde Ihnen das was ausmachen?«
Der Strass auf den Fingernägeln glitzerte, als die junge Dame nachdenklich mit vier langen Krallen auf den Tisch trommelte. Endlich hob sie die Augen und schaute Honey an.
»In Ordnung, aber ich kann nichts versprechen.«
Die Frau schob die Fotos in eine ihrer Designer-Tragetaschen. Honey linste in die Tüte und erspähte einen Gegenstand, der sicher nicht bei Harrods gekauft war. Das Ding sah aus wie eine Gurke, war aber aus Gummi und ganz gewiss nicht für einen Salat bestimmt.
Als die junge Dame sah, wohin Honey schaute, senkte sie den Blick. »Ich muss für meinen Lebensunterhalt sorgen. Ich habe zwei Kinder auf einer Privatschule.« Dann warf sie trotzig den Kopf in den Nacken. »Ich schäme mich nicht dafür, wie ich mein Geld verdiene.«
»Ich wollte Sie nicht kritisieren«, sagte Honey. »Ich brauche Ihre Hilfe. Außerdem, für unsere Kinder würden wir doch alles tun, oder? Aber auch für eine Freundin, die in Not ist?«
Die Züge der Frau entspannten sich. Nun befanden sie sich auf neutralem Gebiet, zwei hart arbeitende Frauen, beide Mütter. Sie wussten, worauf es im Leben ankam.
Die junge Frau drehte ein wenig den Kopf und schaute Honey von der Seite an. Die spürte, dass sie jetzt gleich eine Frage stellen würde.
»Darf ich Sie was fragen? Woher wussten Sie, dass ich auf den Strich gehe? Meine Kunden erwarten erstklassige Ware. Ich kann mir keine Fehler leisten. Und ich möchte auch das Hotelmanagement nicht in Verlegenheit bringen. Das hier ist ein schönes Hotel. Ich komme gern her. Was hat mich verraten?«
Honey deutete nach unten. »Ihre Schuhe. Sie haben Knöchelriemchen und zu hohe Hacken. Ihre Strümpfe lassen auch ein bisschen was ahnen, aber am verräterischsten sind die Schuhe. Wie wäre es, wenn Sie ganz schlichte Pumps trügen, mit nicht mehr als 9 Zentimetern Absatz? Und ganz einfache Strümpfe – ich nehme doch an, dass Sie Strümpfe tragen und keine Strumpfhosen?«
»Absolut. Die meisten meiner Kunden sind der Meinung, dass der Erfinder der Strumpfhose mit einer seiner Kreationen erwürgt werden sollte.« Sie streckte ein wohlgeformtes Bein unter dem Tisch hervor und betrachtete es. »Und Sie denken, einfache Strümpfe wären am besten?«
»Warum nicht? Sie haben sehr hübsche Beine. Tolle Waden und schlanke Fesseln. Warum sollten Sie die verbergen? Hell oder schwarz wäre am besten. Aber ohne Muster. Und ein schlichterer Schuh mit einem ein wenig niedrigeren Absatz.«
»Und Sie glauben, das würde den richtigen Eindruck vermitteln?«
Ihr Gesichtsausdruck war interessant. In diesem wunderschön zurechtgemachten Gesicht lag eine Verletzlichkeit, in der sich alle Frauen wiedererkennen würden: das Bedürfnis nach Anerkennung durch die Geschlechtsgenossinnen. Jede Frau maß dem größten Wert bei, was ihre beste Freundin von ihrem Outfit hielt.
Honey tat ihr den Gefallen. »Powerfrau. Managerin mit einem diskreten und ganz besonderen Geschmack.«
Großer Gott, dachte sie für sich. Ich mache mich hier zu einer Komplizin der Prostitution! Es hört sich ganz so an, als wüsste ich alles, was man über das Sexgeschäft wissen muss. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, habe ich allerdings auf dem Gebiet mehr als nur ein bisschen Rost angesetzt. Da fiel ihr ein, dass Steve Doherty ihr sicher bereitwillig assistiert hätte, bis alles wieder wie geschmiert lief. Immer mit der Ruhe, ermahnte sie sich. Gut Ding will Weile haben.
Sie reichte der jungen Frau ihre Visitenkarte. »Rufen Sie mich an, wenn irgendjemand etwas weiß.«
Die andere studierte die Karte. »Honey Driver. Mit dem Namen könnten Sie die eine oder andere Eroberung machen«, kommentierte sie mit einem verschmitzten Lächeln.
»Ach, ich glaube, ich habe mich inzwischen daran gewöhnt, dass mein Konto überzogen ist«, erwiderte Honey. »Ich ziehe mich lieber allein und im Dunkeln aus. Das muss am Alter liegen.«
»Schade. Hier ist meine Karte«, sagte die junge Frau. »Zoë Valli. Das ist mein Name. Meine Spezialitäten sind französische Zimmermädchen, Zucht und Disziplin. Dafür habe ich allerdings noch eine andere Karte.«
Sie reichte Honey noch etwas – schwarz, Hochglanz und mit eingeprägten goldenen Lettern. Teuer. Darauf stand, sie sei Schauspielerin und Entertainerin. Honey verleibte die Karte ihrer bereits mit unzähligen kleinen und größeren Dingen angefüllten Tasche ein.
»Sind Sie wirklich Schauspielerin?«, fragte sie.
Zoë Valli lächelte wissend. »Das sind wir doch alle, Schätzchen. Die ganze Welt ist eine Bühne und so …«
Was habe ich gesagt?, überlegte Honey.
Zoë Valli bestellte eine Flasche Chardonnay und lud Honey auf ein Glas ein. Sie gab zu, dass Honey ihre Maskerade entlarvt hatte. Sie war nicht wirklich einkaufen gewesen. Sie hatte eine Verabredung mit einem Kunden, der willens war, für ihre Dienste zu bezahlen.
»Ich esse gern vorher zu Mittag. Das beruhigt das Hotelmanagement ein wenig. Ob es ihnen passt oder nicht, auch sie profitieren von meinen Einkünften. Und ich gebe großzügige Trinkgelder.« Sie schob die Manschette ihrer Kostümjacke zurück und schaute auf die Uhr, die von Bulgari zu sein schien. Echt oder gefälscht, fragte sich Honey. Sie vermutete, das Erstere.
»Nur zur Ihrer Information, die ist echt.« Zoë zog den Ärmel weiter hoch, sodass Honey genauer hinschauen konnte.
»Nicht schlecht«, murmelte die.
Zoë hatte wieder an Selbstvertrauen gewonnen. Sie plapperte fröhlich drauflos, als seien sie beide Frauen, die sich zum Mittagessen verabredet hatten.
Sie lehnten sich beide zurück, als der Kellner kam und ein Silbertablett auf den Tisch stellte.
Er öffnete die Flasche und erkundigte sich, ob jemand den Wein vorkosten wolle.
Zoë winkte mit eleganter Handbewegung ab. »Schenken Sie einfach nur ein, Schätzchen. Ich bin sicher, der ist wunderbar.«
Honey nahm einen Schluck und dann noch einen. Der Wein war gut.
Sie spürte, wie Zoë sie über den Rand ihres Glases hinweg musterte.
»Sind Sie wirklich sicher, dass Sie nicht Lust hätten, sich ein bisschen was dazuzuverdienen? Es ist wirklich keine harte Arbeit. Manchmal muss man nur Busen zeigen und gut zuhören.«
Jetzt war Honey an der Reihe, die Augenbrauen hochzuziehen. »Wirklich?«
Zoë nickte. »Jugend kann man mit Geld nicht kaufen, und bei älteren Leuten kann Viagra zu Herzversagen führen. Bei mir ist das verdammte Zeug verboten. Ich kann mir nicht leisten, dass jemand mittendrin stirbt, oder?«
Honey musste plötzlich daran denken, was ihrer Mutter zugestoßen war, und sie gab Zoë recht. Natürlich hatte sie recht. Es war nett mit Zoë.
Nun brachte der Kellner Sandwiches, Vollkornbrot mit Lachs, dazu süße Kirschtomaten, schwarze Oliven und eine perfekt geviertelte Zitrone.
Dieses Mittagessen hatte sich wirklich außerordentlich angenehm entwickelt. Da saß sie nun, trank Weißwein und hörte einer faszinierenden Frau zu. Beinahe hätte sie Doherty vergessen, vermied es aber bewusst, in seine Richtung zu schauen. Sie hätte auch beinahe vergessen, warum sie hier war.
»Kennen Sie übrigens einen Mann namens Brett Coleridge?«
Bei der Erwähnung dieses Namens schwang Zoës Stimmung schlagartig um.
»Ich spreche nicht über Klienten.«
Honey versuchte, ihren Gesichtsausdruck zu deuten. Was sie in Zoës Augen sah, beunruhigte sie. Zoë sagte nicht, dass sie ihn nicht kannte. Ihre Augen verrieten, dass sie ihn sehr wohl kannte. Und dass sie Angst hatte, über ihn zu sprechen.
Honey stellte eine heikle Frage. »Ist er ein Zuhälter?«
In Hollywoodfilmen waren Zuhälter meist Schwarze, warfen mit Geld nur so um sich, waren richtig böse Typen im kriminellen Milieu einer heruntergekommenen Gegend. Aber das war im Film, und da waren ja oft die Gestalten genauso zweidimensional wie die platte Geschichte.
Mit Geld kann man eben doch beinahe alles kaufen, und für manche war Sex auch nur eine Ware, die sich am oberen Ende des Spektrums so gut verkaufen ließ wie am unteren. Nur ein Mann, der sich in den besten Kreisen bewegte, konnte auch die Kundschaft aus dieser Gesellschaftsschicht bedienen. Brachte Zoë das mit ihren kugelrunden Augen zum Ausdruck?
Honey wollte die Sache lieber nicht vertiefen. Außerdem konnte sie aus den Augenwinkeln Doherty sehen. Er tippte auf seine Armbanduhr.
»Rufen Sie mich an«, sagte Honey zum Abschied. »Und danke für den Wein.« Sie trank ihr Glas leer. »Wirklich gut.« Plötzlich kam ihr noch ein Gedanke. »Schauen Sie mal, ich würde gern etwas dazu beisteuern.«
Ein winzig kleiner Laptop tauchte aus einer der Einkaufstüten auf. Zoë tippte Zahlen ein. »Der Wein war teuer, aber machen Sie sich keine Sorgen. Den stelle ich meinem Kunden in Rechnung. Der erwartet, dass ich ihn über den Tisch ziehe, auf mehr als nur eine Weise!«