Kapitel 38

Einmal im Monat aßen alle Angestellten des Green River Hotels montags zusammen Mittag.

Wenn sie sich endlich miteinander an den Tisch setzten, war natürlich die Mittagszeit – zwischen zwölf und zwei Uhr – immer schon längst vorüber. Gewöhnlich kamen sie erst gegen vier Uhr zum Essen.

Eine Gruppe niederländischer Touristen, die an diesem Morgen ausgecheckt hatte, hatte sich besonders lobend über die wunderbar frische Bettwäsche geäußert.

»Und so hübsche Spitzenkanten an den Kissenbezügen.«

Honey hatte sich freundlich bedankt. Wenn man gleich am Morgen Komplimente einheimsen konnte, fing der Tag mit einem wunderbaren Schwung an.

Mittags war viel Betrieb gewesen, und nun saßen sie alle zusammen am Tisch.

Die Gespräche flogen munter hin und her. Honey hatte Fragen zu den Mordfällen zu beantworten. Die interessierten ihre Leute diesmal mehr als sonst, weil sie mit den Dreharbeiten und einer berühmten Schauspielerin zu tun hatten.

»Es dreht sich alles immer wieder um Martyna Manderley.« Honey seufzte, als sie ihren Rosenkohl auf die eine und die Kartoffeln auf die andere Seite des Tellers schob. Das Essen interessierte sie heute nicht. Sie waren mit ihren Ermittlungen in eine Sackgasse geraten. Man hatte Verdächtige befragt und wieder gehen lassen müssen. Was nun?

»Puh!«

Smudger sackte erschöpft ihr gegenüber auf seinen Stuhl und gratulierte sich dazu, dass er am Tag zuvor ein Büffet mit verschiedenen Bratensorten eingeführt hatte. Die Idee hatte sich als sehr erfolgreich erwiesen.

»Diese Art von Büffet ist genau das Richtige für Sonntagmittag, nicht? Hab ich’s nicht gleich gesagt!«

Honey nickte. »Stimmt.«

»Die können die Augen gar nicht mehr vom Essen losreißen. Das Auge isst mit. Hab ich’s nicht gleich gesagt?«

»Stimmt. Hast du.«

»Natürlich habe ich das. Ich habe einen der Gäste gefragt, ob er lieber Brust oder Keule hätte. Der wäre vor Schreck beinahe umgefallen. Hat gedacht, ich wollte eine kesse Lippe riskieren. Er war wohl so begeistert von all dem, was da auf seinen Teller gehäuft wurde, dass er völlig vergessen hatte, dass jemand hinter der Theke stand und ihn bediente. Das kommt davon, wenn die Leute völlig ausgehungert sind.«

Honey wollte gerade wieder allgemein Zustimmendes murmeln, als ihr die ungeheure Tragweite von Smudgers Worten aufging.

Ihr Stuhl schleifte über den Boden, als sie aufsprang. Zwei beiläufige Kommentare, und schon fielen alle Puzzlesteine an die richtige Stelle! Erst die holländische Touristin, die angemerkt hatte, wie frisch und adrett die Spitzenkanten an den Kissenbezügen waren. Zu schlichten Kissenbezügen äußerte sich niemand lobend, aber wenn ein bisschen Spitze dran war – dann fiel das auf!

»Na gut«, meinte Smudger, der ein wenig verdutzt schien, dass eine seiner Aussagen bei seiner Chefin eine solche Reaktion hervorgerufen hatte. »Was habe ich denn jetzt wieder gesagt?«

Honey umfing sein Gesicht mit den Händen und küsste ihn auf beide Wangen. Schmatz! Schmatz!

»Du hast nur das gesagt, was klar auf der Hand lag. Wenn die Leute vor Hunger fast umfallen, bekommen sie gar nicht mit, wer ihnen das Essen reicht. Ted Ryker hat nichts gesehen, weil er gar nicht da war. Die letzten Statisten, die zum Mittagessen gingen, haben Berge von Essen auf den Teller bekommen. Ted war gewöhnlich sehr darauf bedacht, die Portionen nicht zu groß zu machen. Jemand anders hat also für kurze Zeit seine Aufgabe übernommen. Niemand hat bemerkt, um wen es sich handelte. Denn wer nimmt schließlich einen Koch wahr? Aber wo war dann Ted Ryker während dieser Zeit? Hatte er sich wirklich nur eine Zigarettenpause gegönnt? Oder hatte er sich im Schutze der Dunkelheit selbst in Martynas Wohnwagen geschlichen?«

Jetzt war Honey nicht mehr zu bremsen. Alle Augen waren auf sie gerichtet.

»Und der Luftbefeuchter mit dem Parfüm! Der war umgefallen, aber es sah sonst eigentlich nicht aus, als hätte es einen Kampf gegeben. Ryker hat wahrscheinlich nach Speck und Würstchen und sonstigem Fetten gerochen, das er fürs Frühstück brutzelte. Den Duft sollte der Luftbefeuchter überdecken. Und dass aus dem Heizlüfter kalte Luft kam, war ein weiteres Indiz. Es war ja ein eiskalter Tag. Da hätte der Heizlüfter heiße Luft blasen müssen. Aber kalte Luft nimmt Gerüche nicht so gut an wie warme. Kapierst du immer noch nicht?«

Smudger saß mit fragend gerunzelter Stirn da. Er kapierte das alles überhaupt nicht, aber er mochte seine Chefin, und er wollte von ihr nicht gern für blöd oder uninteressiert gehalten werden. Er stellte eine Frage, die er für relevant hielt: »Was für einen guten Grund hätte er denn gehabt, sie umzubringen?«

»Vielleicht hat sie seine Kochkünste kritisiert?«

»Cool! Das kann ich nachvollziehen.«

 

Doherty war nicht so leicht zu überzeugen. »Du weißt noch nicht, dass Coleridges Geschäftspartner in diesem Nachtklub früher sein Leben als Killer gefristet hat.«

»Oh!« Honey legte auf. »Quatsch!« Sie tat die Bemerkung mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Gut, ich brauche einen Mann.«

Smudger hörte auf, das Kalbskotelett zu plattieren und schaute auf seine Armbanduhr. »So früh am Tag?«

»Lindsey und ich können nicht allein da hingehen. Ryker ist ein Kerl wie ein Schrank, und wir müssen ihm ein paar unbequeme Fragen stellen.«

Lindsey war halb hinter einem Karton mit Toilettenpapier verborgen. So war es nun einmal im Hotelgewerbe: Mal war man Empfangschefin, mal Klofrau.

»Wir?«, fragte sie betont.

»Du willst doch deine Mutter nicht allein dahin gehen lassen, oder?«

»Ich nehme an, dass wir uns auf den Weg machen, um diesen durchgedrehten Koch zu befragen, von dem du glaubst, dass er vielleicht Martyna Manderleys Karriere ein wenig abgekürzt hat?«

»Genau.«

Smudger lehnte sich auf seinen Fleischklopfer. »Nenne mir einen guten Grund, warum ich mitkommen sollte. Außer, dass ich ein Gentleman bin.«

»Ted Ryker hält sich für den besten Koch der Welt und findet, dass alle anderen Mist sind.«

Smudger begann seine weiße Kochuniform aufzuknöpfen. »Bringt mich zu dem Kerl. Der hat noch dies und das zu lernen.«

 

Als Doherty anrief, waren die beiden schon fort. Mary Jane ging an den Apparat.

»Die sind ausgezogen, um einen Mörder zu schnappen«, erklärte sie.

Doherty stöhnte. »Das hatte ich befürchtet.«

»Soll ich ihr sagen, dass Sie angerufen haben?«

»Nein.«

Nachdem er den Hörer auf die Gabel gelegt hatte, schaute ihm eine Frau aus der forensischen Abteilung über die Schulter. »Hat dir das weitergeholfen?«

Er blickte auf den Inhalt des Beutels mit den Beweisstücken, die sie aus Martyna Manderleys Wohnwagen mitgenommen hatten.

Sie wies ihn darauf hin, dass es sich doch lediglich um eine Plastikgabel handelte.

Martyna Manderley war nur das Allerbeste gewohnt. Die Plastikgabel war der einzige Gegenstand, der nicht recht zu ihrem Lebensstil passen wollte.

Doherty rief Honey auf ihrem Handy an, warnte sie eindringlich und beschwor sie, Ryker der Polizei zu überlassen. Sie beendete das Gespräch, ehe er ihr sagen konnte, dass sie seiner Meinung nach doch recht hatte. Er musste unbedingt herausfinden, wohin sie unterwegs war …