Kapitel 34

Honey hatte mehr Geld für die Renovierung des hinten am Hotel angebauten Wintergartens ausgegeben, als sie geplant hatte. Ehe sie das Haus übernahm, hatte man dort kaputte Stühle und überzähliges Geschirr gelagert.

Außerdem hatte der Gärtner seinen Rasenmäher dort untergestellt, dazu noch eine Sammlung rostiger Werkzeuge und Hunderte von kleinen Pflänzchen, von denen er ihr beteuerte, es seien Tomaten. Sobald Honey sich entschieden hatte, den Wintergarten aufzumöbeln, waren die Pflänzchen zusammen mit allem anderen Gerümpel rausgeflogen. Einen Setzling behielt sie zurück, als Erinnerung daran, wie es hier ursprünglich einmal ausgesehen hatte. Seitdem war er zu einer Pflanze von beeindruckender Größe gediehen, die ihrerseits eine Menge Ableger produziert hatte. Die gesamte grüne Familie war nun in einer Ecke auf einer Etagere aus Schmiedeeisen untergebracht. Auch die anderen Möbel hatten Eisengestelle, auf denen bequeme Kissen lagen. Jetzt konnte man stolz auf diesen Wintergarten sein.

Im Augenblick hielt sich hier von den Gästen nur ein älterer Herr aus Kanada auf, der in einem Liegestuhl eingeschlafen war. Außer dem Schlummernden waren noch Honey und Casper da.

»Ich mache mir Sorgen«, sagte Casper. Er schnipste demonstrativ mit dem Finger ein Stäubchen vom Stuhl, ehe er sich hinsetzte.

Honey biss sich auf die Zunge. Casper war ein pingeliger alter Nörgler, aber auf seine Weise half er ihr, die Rechnungen zu bezahlen. Da musste sie eben manchmal eine Bemerkung herunterschlucken.

Ihre Blicke trafen sich, und zu Honeys Überraschung entschuldigte er sich für seine Geste und für sein plötzliches Verschwinden aus dem Francis Hotel.

»Alte Gewohnheiten wird man nur schwer los«, meinte er. Seine Mundwinkel schienen vor unterdrückter Heiterkeit zu zucken.

Zweifellos irgendeine liebgewordene Erinnerung, aber sie wollte keine neugierigen Fragen stellen.

Nachdem ihr Gespräch im Francis Hotel so plötzlich unterbrochen worden war, hatte er angerufen, um sich zu erkundigen, welche Fortschritte sie gemacht hatten und dann bei ihr Zimmer für eine Touristengruppe aus den Niederlanden gebucht. Das mussten richtig harte Kerle sein, denen das grausige Februarwetter nichts ausmachte.

Dass sie selbst zu dieser Jahreszeit Zimmerreservierungen bekam, war in gewisser Weise der Lohn für ihre Arbeit als Verbindungsperson zur Kriminalpolizei. Nicht, dass es ihr etwas ausgemacht hätte, ab und zu aus dem Hotel verschwinden zu können. Und die Verbindung zu Detective Inspector Steve Doherty aufrechtzuhalten, das war ja eine angenehme Freizeitbeschäftigung. Obendrein leistete sie noch ihren Beitrag zum Florieren des Tourismusgewerbes. Touristen glauben ja gern, dass jeder Ort, den sie besuchen, mindestens so sicher ist wie Disneyland.

Casper reichte ihr die Einzelheiten der Zimmerreservierung schriftlich. »Neville hätte Ihnen das ja per E-Mail geschickt, aber ich wollte ohnehin einen Spaziergang machen. Ein bisschen frische Luft in die Lungen bekommen, das Blut wieder ein bisschen rascher durch die Adern fließen lassen.«

Honey verstand ihn gut. Genau wie sie zog auch Casper das geschriebene Wort dem Computer vor. Für ihn kümmerte sich Neville um diese neumodischen Maschinen, so wie es Lindsey für Honey machte.

Als Casper sie gerade fragen wollte, wie sie mit dem Fall vorankamen, hörte Honey Stöckelschuhe klappern, und ihre Mutter rauschte herein.

Sie trug eine Wildlederjacke mit dazu passenden Kniehosen. Die hochhackigen Stiefel waren aus rehbraunem Leder und an den Kappen mit Messing beschlagen. Der ganze Aufzug erinnerte Honey an eine ältliche, allerdings auch ziemlich luxuriöse Version von Calamity Jane – in der Fassung mit Doris Day, versteht sich.

»Hannah!«, rief Gloria Cross, ignorierte Casper vollständig und wirkte höchst aufgeregt und erhitzt. »Mein Stück wird vorgelesen und könnte sogar einen Preis bekommen! Ich hätte mir so gewünscht, dass du es dir anhörst, aber es geht nicht! Die Karten sind ausverkauft! Kann man das glauben?«

»Wie schade.«

Honey dankte dem Himmel für diese kleine Gnade. Was ihre Mutter ihr auch erzählen mochte, Honey war sich ziemlich sicher, dass die Lesung der Theaterstücke sie unverzüglich in den Tiefschlaf wiegen würde und sie damit zwei, drei nützliche Stunden verlieren würde, in denen sie bügeln, Staub wischen oder sonst was Nützliches tun könnte!

»Ich glaube, da kann ich behilflich sein.«

Zu Honeys Entsetzen erhellte sich Caspers Gesicht, und er griff in die Innentasche seiner Anzugjacke.

Sie wusste – wusste es einfach –, was er jetzt sagen und was er vor ihrer Nase schwenken würde.

»Die können Sie haben.«

Ein Albtraum war Wirklichkeit geworden!

Sie zwang sich ein süßliches Lächeln aufs Gesicht, als er ihr die Eintrittskarten reichte.

Ihre Mutter war in Ekstase. »Was Sie doch für ein wunderbarer Mann sind!«

Casper wurde geküsst, ob er wollte oder nicht.

»Großartig!«, krähte Gloria. »Sie sind unser Ritter ohne Furcht und Tadel!«

Mit einer Handbewegung tat er ihre Dankbarkeit ab. »Keine Ursache, Gnädigste. Die Karten werden nicht benötigt. Ich habe an dem Abend einen anderen Termin.«

»Meine Güte«, sagte Gloria und wandte sich ihrer Tochter zu. »Warte nur ab, bis du mein Stück zu hören bekommst! Dann wirst du froh sein, dass wir noch Plätze ergattert haben!«

Honeys Lächeln blieb starr. »Toll.«

Gloria schaute auf ihre goldene Gucci-Armbanduhr. »Ach, so spät schon! Ich treffe mich zum Mittagessen mit den Mädels. Bitte entschuldigen Sie mich«, sagte sie zu Casper. »Und noch einmal vielen herzlichen Dank! Meine Güte, wenn ich erst den Mädels erzählen kann, dass ich einen Preis gewonnen habe!«

Die erwähnten Mädels waren alle reichlich über siebzig. Und Einmischung in das Leben der diversen Töchter stand auf der Prioritätenliste bei den mittäglichen Treffen dieser Gruppe ganz oben.

Gloria winkte neckisch und zwinkerte Casper auf dem Weg nach draußen noch einmal zu.

Der zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. Honey war das alles unendlich peinlich. Casper war zwar so ungefähr in Glorias Altersklasse, aber ein Hetero war er gewiss nicht.

Honey nahm sich vor, ihrer Mutter bald einmal zu stecken, dass sie hier auf dem Holzweg war.

»Sie haben vielleicht ein Glück!«, sagte Casper und lächelte sie an. »Ich denke, es ist Ihnen bekannt, dass es sich hier um Amateur-Dramatiker handelt? Deren jammervolle Ergüsse sind eine Beleidigung für das Ohr und die Intelligenz. Es wird sich um lange Tiraden handeln, verfasst von Möchtegern-Dramatikern, Leuten mit Riesen-Ego und Mini-Talent.«

Honey fuhr sich in hochdramatischer Geste über die Stirn und stellte eine ziemlich gute Imitation einer theatralischen Tragödin zur Schau. »Angst bemächtigt sich meiner Seele! Casper! Wie konnten Sie mir dies antun?«

»Meine aufrichtige Entschuldigung. Aber ich hatte keine andere Wahl.«

»Ich werde mir vorher ein paar Drinks genehmigen.«

»Vielleicht besser hinterher. Einschlafen und leise schnarchen, das würde gar nicht gut ankommen.«

 

Doherty kam kurz nach dem Mittagessen bei ihr vorbei. Er hatte zunächst mit dem Gedanken gespielt, mit einer Polizistin bei Miss Cleveley vorbeizuschauen, es sich aber anders überlegt. Er wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass die nette alte Dame vor Schreck einer Herzattacke zum Opfer fiel. Er musste ihr dringend ein paar Fragen stellen, und wenn Honey dabei war, der Miss Cleveley vertraute, dann wäre das sicherlich hilfreich.

Zwei Katzen begrüßten die beiden an der Tür des kleinen Häuschens. Miss Cleveleys strahlende Augen schauten sie fragend unter einem spitzenbesetzten Häubchen hervor an.

»Meine Güte! Es ist eigentlich nicht meine Gewohnheit, nach Mittag noch Besucher zu empfangen. Ich ziehe den Morgen für Visiten vor.«

»Ich bin in offizieller Angelegenheit hier«, sagte Doherty und wedelte mit seinem Dienstausweis.

Honey sorgte sich, dass dies die alte Dame verstören würde, obwohl sie wie Doherty darauf brannte, herauszufinden, was Miss Cleveley im Wohnwagen von Martyna Manderley gemacht hatte.

Sie sprach mit leiser Stimme und freundlicher Miene. »Er möchte Ihnen einige Fragen zum Tod von Martyna Manderley stellen. Ich hoffe, das macht Ihnen nichts aus.«

Wenn es Miss Cleveley etwas ausmachte, so ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Vielleicht lag es daran, dass sie in ihren Gedanken in der Vergangenheit lebte und nur körperlich in der Gegenwart. Diesen Körper hatte sie mit einem Spitzenhäubchen und einer Kreation aus wallendem hellblauem Musselin mit winzigen rosa Rosenknospen bekleidet. An den Füßen trug sie flache Ballerinaschuhe, die mit kreuzweise um die Knöchel geschlungenen Seidenbändern befestigt waren.

»Bitte treten Sie sein. Entschuldigen Sie meinen Aufzug. Ich hatte keine Besucher erwartet.«

Sie führte sie ins Wohnzimmer.

»Sieh dir nur diese Kostümierung an!«, flüsterte Honey.

Doherty blickte verständnislos zu ihr. »Wieso?«

Honey seufzte. »Doherty, aus dir wird nie ein Modekenner.«

Er schnitt eine Grimasse. »Gott sei Dank!«

Miss Cleveley forderte sie auf, Platz zu nehmen. Doherty ließ sich auf einem Lehnstuhl nieder. Honey setzte sich auf einen Zweisitzer mit geschwungener Rückenlehne und Samtkissen.

»Kann ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«, fragte die alte Dame.

Doherty lehnte dankend ab.

»Danke nein«, antwortete Honey. »Haben Sie etwas von Perdita gehört?« Sie wusste, dass es Miss Cleveley beruhigen würde, wenn sie sich nach einem Familienmitglied erkundigte.

Miss Cleveley lächelte. »Ja, sie hat sich entschuldigt, dass sie nicht geschrieben hat. Das war sehr ungezogen von ihr.«

Honey fiel wieder ein, dass es in diesem Haus kein Telefon gab.

Doherty kam zur Sache. Er fragte Miss Cleveley, wo sie am Tag des Mordes gewesen war.

»Sind Sie jemals in Martyna Manderleys Wohnwagen gegangen?«

Miss Cleveleys Miene verfinsterte sich. Ihr Augenbrauen zogen sich über der Nase zu einem V zusammen. »Nein«, sagte sie kategorisch. »Nein, da war ich nie.« Sie wandte sich an Honey. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass man mich aus der Gegenwart dieser Dame und dann vom Film verbannt hatte. Ich war zutiefst beschämt. Das teile ich Ihnen nur zu gern mit. Aber ich bin nicht zurückgekehrt, um diese üble Tat zu vollbringen. Ganz gewiss nicht!«

Doherty nickte weise, als hätte er viel mehr als nur seine Jahre auf dem Buckel.

»Können Sie mir sagen, wo Sie an jenem Morgen waren?«

Miss Cleveleys strahlend blaue Augen zwinkerten einige Male. Ihr Kiefer bewegte sich, während sie gründlich über die Frage nachdachte. Irgendwie vermittelte diese Bewegung Honey das Gefühl, dass die alte Dame etwas zu verbergen hatte. Etwas, das sie kompromittiert hätte?

»Ich war im Kosmetiksalon.«

Wie zur Erklärung berührte sie zart ihr Kinn. Honey begriff sofort. Miss Cleveley, Perditas Tante, war zu einer kleinen Elektro-Epilation im Salon gewesen.

Doherty dagegen kapierte rein gar nichts. »Das lassen wir überprüfen.«

Weiter gab es nichts zu sagen.

»Ich dachte, sie lebt in der Vergangenheit und gönnt sich keinen modernen Luxus. Und ein Kosmetiksalon ist nun wirklich moderner Luxus«, meinte Doherty, während sie über das Kopfsteinpflaster zur Hauptstraße gingen.

»Sie hat sich Gesichtshaar entfernen lassen. Dann spart man sich das Rasieren.«

Doherty murmelte. »Ah, ich verstehe.« Offensichtlich kapierte er es nicht gleich. Dann sagte er noch einmal »Ah«, diesmal allerdings etwas lauter. »Dieses kleine Detail hatte ich vergessen.«

»Ich werde das überprüfen. Keine Kosmetikerin vergisst ein Kinn, das so stachelig ist wie ihres. Dann bleibt nur die eine Frage: Wenn sie es nicht war, die Gestalt mit dem Häubchen und dem Schultertuch, wer war es dann?«