Kapitel 31
Pippa, Thierry und Jean standen überwältigt da, aber Schmidt rannte zur Bank und kniete sich vor Tatjana in den Matsch.
Diese sah ihn nicht an. Sehr ruhig und sehr gelassen sagte sie: »Ich hatte nicht vor, die beiden zu töten. Ich will nur, dass sie reden. Ich will wissen, warum sie mir das angetan haben.«
»Wie um alles in der Welt hat sie die beiden Männer an die Bäume gekriegt?«, fragte Thierry leise.
»Tatjana wird allgemein unterschätzt«, gab Pippa zurück. »Wer so schön ist wie sie, hat es leicht, gemocht zu werden, wird aber selten ernst genommen. Tatjana wird sie überrumpelt haben.«
»Außerdem weht der Schwarze Wind«, sagte Jean. »Da ist alles möglich.«
Wie auf ein geheimes Kommando gingen Thierry und sein Sohn zu den gefesselten Männern, um sie von den Knebeln zu befreien.
Während Gerald um Luft rang, schrie Achim sofort: »Bindet uns los! Aber dalli! Das ist Freiheitsberaubung! Schmidt! Tu was!«
Dieser zuckte mit den Schultern und sagte: »Ich finde, ihr steht da ganz gut.«
»Was soll das? Hilf mir!« Achim begriff, dass von Wolfgang Schmidt kein Beistand zu erwarten war. Er sah den Mann neben sich an und registrierte erst jetzt, wer dort stand. »Jan? Wie kommst du denn hierher? Schnell, Kumpel, binde mich los.«
Jean Didier machte keine Anstalten, der Aufforderung zu folgen, sondern sagte lapidar: »Freiheit gegen Wahrheit, Achim.«
»Es wird einen triftigen Grund geben, dass ihr da steht – den wüssten wir gerne«, ergänzte sein Vater.
Ein Polizeiwagen brauste heran und hielt mit quietschenden Reifen neben Pippa. Paul Dupont und Tibor, der auf dem Beifahrersitz saß, ließen die Seitenscheibe herunterfahren und musterten das Bild, das sich ihnen bot.
»Ich habe ja schon einiges gesehen …«, sagte Tibor und brach ab, weil ihm die Worte fehlten.
»Der Autan.« Paul Duponts Analyse der Situation war kurz und knapp. Er wandte sich an Pippa. »Was geht hier vor?«
»Die Aufklärung eines Mordfalles. Fragen Sie mich nur nicht, wie.«
Der Gendarm nickte gelassen. »Der Strom ist ausgefallen. Komplett. Wir haben keine Verbindung mehr zu den anderen. Kein Handy, kein Funk, nichts. Ich fahre mit Tibor in die Gendarmerie und sage Bescheid. Dann suche ich Pierre und komme zurück.«
Er gab Gas und fuhr in Richtung Polizeistation davon.
Gerald Remmertshausen zerrte wütend an seinen Fesseln. »Was soll denn das bedeuten? Spielt jetzt auch die Polizei verrückt? Bindet uns gefälligst los!«
»Genau!«, schrie Achim Schwätzer. »Ihr macht euch der Beihilfe schuldig! Tatti ist wahnsinnig geworden, und ihr tut so, als ob wir …« Wieder kämpfte er vergeblich gegen die Fesseln an und fauchte: »Wartet nur – wenn ich losgemacht bin, zeige ich es euch! Allen! Macht euch auf was gefasst! Du besonders, Jan.«
»Ein gutes Argument, dich zu lassen, wo du bist«, sagte Jean Didier ungerührt.
Schmidt hatte sich neben Tatjana auf die Bank gesetzt und den Arm um sie gelegt. Sie zeigte keinerlei Reaktion auf das, was um sie herum passierte.
Thierry wiegte den Kopf. »Es wird immer schlimmer. Je länger der Autan weht, desto verrückter werden die Leute.«
»Auch gefährlicher?«, fragte Schmidt interessiert.
Jean nickte. »Unberechenbar. Prädikat: Äußerst abgedreht.«
»Gilt bei dieser Wetterlage purer Jähzorn als mildernder Umstand?«, fragte Schmidt weiter.
»Bei dieser Wetterlage gilt nahezu alles als entschuldbar.« Thierry warf Jean einen Blick zu. »Sogar unterlassene Hilfeleistung.«
»Deshalb brauchen wir Ruhe.« Jean gab seinem Vater einen Wink, und die beiden stopften die Knebel wieder in Geralds und Achims Mund.
Jetzt hörte man nur noch den Wind pfeifen.
Aus der gleichen Richtung wie zuvor Paul Dupont näherte sich der Geländewagen seines Bruders, mit Ferdinand als Beifahrer. Die beiden bremsten abrupt und stiegen aus, die Blicke ungläubig auf die Szenerie gerichtet.
»Ah – Sie haben die Vermissten also gefunden«, sagte Pierre Dupont. »Ich finde zwar auch, dass den dreien für ihren gefährlichen Ausflug Tadel gebührt, aber ob ich so weit gegangen wäre, sie gleich …«
Thierry ging zu Dupont und flüsterte ihm eindringlich etwas ins Ohr, während der Gendarm erst zu Pippa, dann zu Gerald und Achim sah.
Die Versuche der beiden Männer, trotz der Knebel zu schreien, ignorierte er geflissentlich. Zuletzt verweilte sein Blick auf Tatjana, die zusammengesunken auf der Bank saß. Als Thierry ausgeredet hatte, nickte Dupont.
Schmidt starrte Dupont verwirrt an. »Wo kommen Sie denn so schnell … Sie sind doch gerade erst … Ich verstehe nicht«, stammelte er.
»Kennst du die Geschichte vom Hasen und dem Igel?«, fragte Pippa. »Das ist die okzitanische Version.«
Mit einer Handbewegung brachte der Gendarm alle zum Schweigen. »Madame«, sagte er zu Tatjana und verschränkte die Arme vor der Brust, »ich denke, Sie haben uns etwas zu sagen.«
Zuerst rührte Tatjana sich nicht. Schließlich erwiderte sie leise, aber gefasst: »Ich möchte eine Aussage machen.«
»Und mir erklären, wie und warum Sie die beiden Herren an die Bäume …« Dupont konnte seinen Satz nicht beenden, denn Tatjana unterbrach ihn mit einem Kopfschütteln.
»Nein, das nicht.« Sie machte eine Pause. »Ich habe Franz Teschke getötet.«
Die Stille, die auf ihre Worte folgte, war beinahe greifbar. Alle sahen Tatjana an und warteten darauf, dass sie weiterredete.
»Es tut mir wirklich leid, ich wollte das nicht!«, brach es aus ihr heraus. »Ich wollte ihm nur einen Schreck einjagen. Ich dachte, er kann den Kühlwagen von innen öffnen. Ich hatte keine Ahnung, dass die Tür kaputt ist. Ich wusste doch nicht, dass er darin … darin … Ich habe ihn auf dem Gewissen!«
In den Gesichtern der Umstehenden mischten sich Entsetzen und Mitleid für die verzweifelte Frau.
Schmidt wollte etwas sagen, aber Tatjana stoppte ihn mit einer Handbewegung. »Nein, Wolfgang, du nicht, nicht jetzt. Ich will keine Hilfe. Ich will das selbst tun.«
Tatjana befreite sich von seinem Arm und richtete sich auf. »Teschke war nur an Geld und an seinem verdammten Karpfen interessiert. Ich wollte ihn erschrecken – so sehr, wie er mich erschreckt hat. Ich hatte keine Ahnung, was ich damit anrichte«, erzählte sie mit klarer, fester Stimme.
»Deshalb warst du so betroffen, als du von Franz’ Tod erfahren hast«, sagte Pippa.
Tatjana nickte. »Und in der Nacht, als ihr, Cateline und du, euch auf mich gestürzt habt, um mich aus dem See zu retten, da hattet ihr nicht ganz unrecht mit eurer Vermutung. Ich weiß tatsächlich nicht, was ich getan hätte, wenn ihr nicht gekommen wärt. Ich fühlte mich, ach was, ich fühle mich noch immer sterbenselend.«
Darum hat in jener Nacht auch ihr Magen revoltiert, dachte Pippa. Es war Scham, Schuldgefühl und schlechtes Gewissen.
»Aber warum, Madame?«, fragte Dupont. »Was hat Teschke Ihnen getan?«
Müde wandte Tatjana den Kopf und sah nacheinander Gerald und Achim an. »Das können die beiden euch besser erzählen als ich.«
Die Knebel wurden entfernt, und die Männer brüllten sofort los.
»Halt den Mund, Tatti!«, keifte Achim Schwätzer mit hochrotem Gesicht. »Wir haben gar nichts zu sagen – und du auch nicht!«
»Tatti, hör endlich auf mit deinen Lügengeschichten!«, brüllte Gerald gleichzeitig. Er wandte sich den Umstehenden zu. »Ihr dürft ihr kein Wort glauben! Sie ist eine krankhafte Lügnerin!«
Tatjana drehte sich zu ihrem Mann um. Sehr schön, sehr stolz und sehr würdevoll sagte sie zu ihm: »Musst du mir noch das Letzte nehmen, was mir geblieben ist, Herr Doktor? Meine Ehrlichkeit?«
»Die Ärmste«, murmelte Ferdinand, und Pierre Dupont nickte zustimmend.
Gerald hingegen ließ sich nicht beeindrucken. »All das hier ist Zeichen ihrer Krankheit. Sie ist nicht zurechnungsfähig!«, beharrte er und erreichte damit, dass Thierry ihm wieder den Knebel verpasste.
»Genau wie alle anderen Weiber!«, schrie Achim Schwätzer und nickte in Pippas Richtung. »Die da auch!«
Sein Gesicht verzog sich zu einer hämischen Fratze. »Dein Glück, dass es schon dämmerig war. Im Hellen hätte ich dich nicht verfehlt.«
Unwillkürlich wich Pippa einen Schritt zurück. »Du warst das? Du hast mich mit Steinen beworfen?«
»Wieso musstest du blöde Kuh den Schmidt auch unbedingt auf das Stück Holz aufmerksam machen?«, ereiferte Achim sich weiter mit überschlagender Stimme.
»Du hast uns belauscht«, sagte Pippa langsam. »Oben auf dem Berg. Und du bist zurückgekommen – und zwar nicht nur, um dein Angelzeug zu holen.«
Achim Schwätzer nickte und grinste verzerrt. »Was steckst du deine dreiste Nase auch ständig in Dinge, die dich nichts angehen?«
Pippa ging ein paar Schritte auf ihn zu. »Mord geht immer und jeden etwas an.«
»Ich wünschte, du wärst in der Wasserrinne ersoffen«, zischte Schwätzer.
Blitzschnell verstopfte Jean auch ihm den Mund wieder mit dem Knebel. »Dann wissen wir jetzt auch, wer für den Nagel im Autoreifen verantwortlich ist«, kommentierte er gelassen. »Es wird Pascal freuen zu hören, wer seinen geliebten HY auf dem Gewissen hat – und wer dafür bezahlen wird.«
Wütend schnaubte Achim Schwätzer durch den Knebel und versuchte vergeblich, Jean mit einem Kopfstoß zu treffen.
»Ich bin froh, wenn ich alles von der Seele habe«, sagte Tatjana in die Stille, die Schwätzers Geständnis folgte. »Ich will nichts beschönigen. Gerald und ich hatten in jener Nacht einen schrecklichen Streit. Ich wollte, dass er Achim zur Rede stellt, ihn zur Rechenschaft zieht.«
Tatjana holte tief Luft. »Achim hatte am Abend zuvor auf einem Spaziergang versucht, meine Traurigkeit und Niedergeschlagenheit wegen meiner Kinderlosigkeit auszunutzen. Er … Achim … versuchte, mich zu verführen. Er bedrängte mich. Mitten im Wald. Sehr plump und sehr massiv.«
Dabei hat der Widerling sicher seinen Yacht-Schlüssel verloren. Pippa wurde übel. Und wir saßen alle ruhig im Camp und hörten Vinzenz’ Vortrag über Jean Didier zu.
»Ich wehrte mich natürlich«, erzählte Tatjana weiter, »aber Achim lachte mich aus und behauptete, Gerald sei der Letzte, der etwas dagegen hätte, der habe längst das Interesse an mir verloren.«
Achim Schwätzer stieß ein Gurgeln aus, und Jean entfernte den Knebel.
»Keine Ahnung, was ich an dir gefunden habe«, geiferte Schwätzer mit hervorquellenden Augen, »du bist genauso unbrauchbar wie der Rest und …«
»Keine Beleidigungen mehr«, murmelte Jean und schob den Knebel wieder in Achims Mund. Dabei ging er nicht sonderlich sanft vor.
»Das werte ich als Bestätigung der Sachlage und als Geständnis«, sagte Dupont ruhig.
»Gerald hat mir nicht geglaubt«, fuhr Tatjana fort. »Achim sei sein bester Freund, sagte er. Schlimmer noch: Er tat so, als hätte ich mich dem Kerl an den Hals geworfen – und als wäre das die einzig glaubhafte Version.«
Remmertshausen tobte wütend in seinen Fesseln, und auf ein Nicken von Dupont zog Thierry den Knebel heraus.
»Du bist ein Idiot, Achim!«, schrie Gerald. »Deinetwegen stehen wir jetzt hier und machen uns zum Gespött! Du bist so dämlich, wie du klein bist! Konntest du dich nicht mit dem zufriedengeben, was ich dir gezahlt habe? War das nicht genug? Wir hatten eine verdammte Abmachung!«
»Ach ja?«, sagte Dupont. »Und wie sah die aus?«
»Ich sage nichts«, presste Gerald zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Wie Sie wollen«, gab Dupont zurück. »Sie stehen da am Baum, nicht ich.« Er wandte sich wieder Tatjana zu. »Wollen Sie fortfahren, Madame?«
Sie nickte. »Ich hätte in der Nacht auf meinem Zimmer bleiben sollen. Aber ich wollte unbedingt einen letzten Versuch machen, mich mit Gerald zu versöhnen. Ich wollte unsere Ehe retten.«
Dupont war deutlich anzusehen, dass Tatjanas Worte seine Leidenschaft für Liebesromane ansprachen.
So viel zu Tatjanas Leichtlebigkeit, dachte Pippa.
»Ich rannte über den Damm und traf Franz am Ablauf des Sees«, erzählte Tatjana. »Mit seiner Angel. Er war aufgekratzt und hatte getrunken. Er hielt mich auf und redete von nichts anderem als seinem blöden Karpfen. Und davon, dass er sich ein Boot wie das von Achim zulegen will. Ich hatte keine Lust, ihm zuzuhören, und sagte, die dämliche Angelei interessiere im Moment herzlich wenig. Da packte er mich.« Unwillkürlich rieb sie ihr linkes Handgelenk. »Ich will ein Boot und ich will es schnell, sagte er, und du wirst dafür sorgen, dass es noch schneller geht. Er verlangte dreitausend Euro, sonst würde er allen erzählen, ich hätte versucht, Achim zu verführen.«
Schmidt fuhr hoch. »Aber das stimmte doch gar nicht!« Auf einen warnenden Blick von Pippa hin zog er den Kopf ein und verstummte.
»Teschke sagte, er habe mich und Achim im Wald gesehen, und es wäre nun an mir, für seine wohlwollende Interpretation zu bezahlen. Ich bekam einen Riesenschreck«, sagte Tatjana. »Teschke redete und redete. Dass er für Geld darauf verzichtet hätte, sich an den Ermittlungen über Jean Didier zu beteiligen, und dass sich das nun doppelt auszahlen würde.« Jean knurrte wütend, sie warf ihm einen Seitenblick zu und sprach dann weiter: »Teschke machte mir unmissverständlich deutlich, dass er seine Version der Szene im Wald auf jeden Fall verkaufen würde. Entweder an mich oder an Gerald. Aber ich hätte das – so nannte er es – Vorkaufsrecht.«
Sie brauchte eine Pause, um sich zu sammeln. Dann fuhr sie fort: »Mir war sofort klar: Gerald würde ihm mehr glauben als mir. Ich würde meinen Mann verlieren, und Achim wäre fein raus. Ich stimmte also zu und versprach Teschke, ihm das Geld zu geben. Er freute sich wie ein Schneekönig und schleppte mich zum Kühlwagen, um mir den Karpfen zu zeigen. Es war völlig absurd. Gerade noch hatte er mich erpresst, jetzt wollte er mir wie ein stolzes Kind diesen Fisch vorführen. Aber ich hätte alles getan, um ihn zu besänftigen. Ich hatte wirklich Angst vor seinem Schandmaul.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Am Kühlwagen trafen wir ausgerechnet auf Gerald und Achim. Sie stritten sich, und Gerald sagte gerade: Du Idiot gefährdest alles. Wir hatten eine Abmachung.« Sie blickte ihren Gatten an. »Genau wie eben.«
Schmidt sprang auf und stieß Remmertshausen unsanft an. »Stimmt das?«
Er zog den Knebel heraus, aber Gerald nickte nur.
»Teschke genoss die Situation«, berichtete Tatjana, »er lachte und baute sich breitbeinig vor ihnen auf. Spurt Achim nicht mehr richtig?, fragte er Gerald und bot sich an, auszuhelfen, wie er das nannte. Dazu sei er keineswegs zu alt und noch dazu billiger. Seine Kontonummer sei Gerald ja bekannt.«
»Der Mann hat aber auch keine Gelegenheit ausgelassen, Geld zu machen«, flüsterte Ferdinand Pippa angewidert ins Ohr.
»Ich verstand natürlich nicht, was vor sich ging«, fuhr Tatjana fort und erschauerte sichtlich, »aber ich war sicher, es hatte etwas mit mir zu tun. Ich fragte Teschke, was seine Andeutungen sollten. Es geht um deinen Kinderwahn, gab er hämisch zurück. Geht es um den nicht immer?«
»Hör endlich auf, Tatti«, befahl Gerald herrisch. »Niemand glaubt dir. Deine Lügen sind schlimmer als jeder Groschenroman. Erzähl sie jemand anderem.«
»Tut sie ja gerade«, sagte Dupont, »und ich liebe Groschenromane.«
Auf sein Zeichen hin redete Tatjana weiter. »Ich hatte keine Ahnung, dass irgendeiner der Kiemenkerle etwas wusste von meinen verzweifelten Versuchen, schwanger zu werden. Also habe ich meinen Mann danach gefragt.«
»Dem möchte ich mich anschließen«, warf Dupont ein und sah Gerald an. »Woher wusste Monsieur Teschke davon?«
Remmertshausen errötete. »Ich habe Achim und ihm in einer schwachen Stunde davon erzählt. Kein Mann hält es aus, wenn es bei seiner Frau kein anderes Thema mehr gibt.«
»Komisch, wieso glaube ich das jetzt nicht?«, sagte Pippa angriffslustig. »Eine Frau wie Tatjana hätte bestimmt nach Lösungen gesucht, anstatt zu lamentieren.« Sie begegnete Tatjanas dankbarem Blick.
»Tatti ist krank.« Gerald sprach betont professionell. »Ich musste in der Nacht verhindern, dass sie völlig durchdreht. Ich wollte nicht, dass sie den ganzen Parkplatz zusammenschreit und das Camp aufweckt. Ich wollte sie beruhigen und Teschke ablenken, also bat ich ihn, Tatjana den Karpfen zu zeigen.«
»Wer soll das denn glauben?«, platzte es aus Pippa heraus. »Warum sollte der Anblick eines riesigen toten Fisches sie beschwichtigen? Das wäre wirklich krank.«
Remmertshausen musterte sie überheblich. »Bei Tattis Krankheit reichen oft schon ein wenig Zuwendung und Wichtignehmen. Eigentlich gilt das für jede Frau. Sie wissen ja, wie die sind.« Bei dem letzten Satz sah er Dupont an.
»Nein, weiß ich nicht«, erwiderte dieser trocken, »aber ich lerne heute so einiges. Über Frauen und über Männer.«
»Teschke kletterte in den Kühlwagen, um den Fisch zu holen.« Tatjana seufzte. »Leider war ich abgelenkt, weil ich versuchte, Gerald zu erklären, dass Achim und Teschke alles andere als gute Freunde sind.«
Gerald Remmertshausen unterbrach seine Frau. »Ich kannte die beiden länger als du. Also kannte ich sie auch besser.«
Tatjana warf ihrem Mann einen mitleidigen Blick zu. »Du kennst nicht mal dich selbst.«
Pierre Dupont machte eine ungeduldige Handbewegung, und Tatjana fuhr fort: »Ich folgte Teschke in den Kühlwagen und blieb in der Tür stehen, damit das Licht der Parkplatzbeleuchtung den Innenraum beleuchten konnte. Dabei hörte ich einen Laut. Es klang, als würde ein Tannenzapfen zur Erde fallen. Ich habe mir nichts dabei gedacht.« Sie sammelte sich einen Moment. »Leider.«
Tatjana sah Dupont offen an.
»Mittlerweile weiß ich, dass ich das Holzstück beim Öffnen der Tür aus dem Wagen gekickt haben muss.« Sie schluckte. »Aber ich war an nichts anderem interessiert, als von Teschke zu erfahren, was Gerald ihm über meinen Kinderwunsch erzählt hatte. Franz höhnte, ich würde mich wohl für einen guten Fang halten. Dabei ließen Gerald und Achim mich in Wirklichkeit wie eine Marionette an ihren Fäden tanzen. Ich wollte wissen, wie er das meint. Er lachte und flüsterte: Hast du denn immer noch nichts kapiert? Nicht du bist das Problem. Gerald kann keine Kinder kriegen.« Sie schwieg einen Moment, und es herrschte absolute Stille, selbst der Wind schien innezuhalten. »Das zog mir den Boden unter den Füßen weg. Eine Sicherung brannte durch. Ich bin raus und habe die Tür zugeknallt. Ich hetzte die Treppe zum Damm hoch, so als wären Furien hinter mir her. Ohne mich noch einmal umzudrehen, bin ich zum Vent Fou gerannt.«
Wortlos wechselten Schmidt und Dupont einen Blick, wollten aber Tatjana nicht unterbrechen.
»Als ich dann am nächsten Tag ins Lager kam, erfuhr ich, dass Teschke im Kühlwagen gestorben ist. Ich bin also schuld.« Tatjana holte tief Luft. »Achim und Gerald haben mich dann bearbeitet und mir versprochen, niemandem etwas zu erzählen. Es sei gut, dass Teschke ausgeschaltet sei, sonst hätte er niemals Ruhe gegeben und uns immer weiter erpresst, sagten sie.«
»Wir wollten nur dein Bestes!«, rief Gerald Remmertshausen.
»Natürlich, ihr eine Krankheit anzudichten und sie damit für unzurechnungsfähig zu erklären«, ätzte Pippa. »Prima Idee!«
»Ich wollte erst nicht mitmachen«, fuhr Tatjana fort. »Aber die beiden ließen nicht locker. Sie schlugen mir vor, ein paar Tage ohne die Kiemenkerle zu verbringen. Damit ich mich vom ersten Schock erholen und in Ruhe über ihren Vorschlag nachdenken kann. Irgendwann war ich mürbe genug, um einzulenken. Warum sollte ich wegen eines gierigen alten Mannes für Jahre hinter Gitter? Ich konnte einfach nicht mehr klar denken. Ich habe mich überreden lassen – und gehofft, dass es nie rauskommt. Schrecklich, wirklich schrecklich. Ich verstehe nicht, wie ich das machen konnte.« Sie richtete sich auf und zeigte auf Gerald und Achim. »Sie haben mir den Respekt vor einem Menschenleben genommen. Sie haben mir meine Selbstachtung genommen. Sie haben mich zur Mörderin gemacht.«
Tatjana schlug die Hände vors Gesicht. Als sie wieder aufsah, hatte sie Tränen in den Augen. »Ich war zu lange blind vor Liebe, hatte sogar noch Mitleid mit meinem Mann. Ich dachte, er ist vielleicht aus Altersgründen nicht mehr zeugungsfähig und wird damit nicht fertig. Ich wollte ihm helfen. Ich hoffte, ihm beweisen zu können, dass ich nur ihn will, dass mir alles andere egal ist – auch eigene Kinder. Ich dachte, für seine Zufriedenheit … für unser Glück ist alles entschuldbar, alles erlaubt.«
Gerald ließ den Kopf hängen, und Pippa bemerkte, dass er keinen Versuch mehr machte, seine Version der Geschichte zu verteidigen.
Beinahe sanft fragte Dupont: »Und warum jetzt das hier?« Er deutete auf die beiden gefesselten Männer.
»Weil Pippa eine Nachricht auf Geralds Smartphone gelesen hat«, erwiderte Tatjana. »Von einer Klinik, die sich mit Unfruchtbarkeit beschäftigt. Ich habe die Nachricht vor Gerald verschwiegen und mir dort heimlich einen Termin besorgt. Ich hoffte, in der Klinik erfahren zu können, wie ich ihm helfen kann. Ich fuhr nach Toulouse. Und das hat alles verändert.«
»Inwiefern?«, fragte Dupont.
»Weil ich dort die Wahrheit erfahren habe.«
Dupont sah Gerald auffordernd an.
Remmertshausen verzog unwillig das Gesicht. »Ich habe mich in der Klinik untersuchen lassen. Ich wollte wissen, ob meine Sterilisierung sich rückgängig machen lässt.« Er seufzte. »Es gibt Fälle, bei denen das möglich ist, aber ich gehöre nicht dazu.«
»Ist allen klar, was das heißt?«, rief Tatjana wütend aus. »Dieser Mann hat mich jahrelang von einem Arzt zum nächsten geschickt, wohl wissend, dass er für meine Kinderlosigkeit verantwortlich ist! Er war schon vor unserer Hochzeit sterilisiert.« Tatjana schloss kurz die Augen und holte tief Luft. »Die Berichte meiner Untersuchungen gingen natürlich immer direkt an den Herrn Doktor, der mir das niederschmetternde Ergebnis dann schonend beigebracht hat. Ha! Das Ergebnis! Lauter Lügen waren es! Die ganzen Jahre habe ich mich gequält, und wofür? Für nichts! Er hat meine Leichtgläubigkeit und mein Vertrauen ausgenutzt. Und meine Liebe.«
»Tatti, bitte, das verstehst du falsch«, flehte Gerald. »Als ich mich vor zwanzig Jahren sterilisieren ließ, ahnte ich einfach nicht, dass ich noch einmal eine Frau wie dich treffen würde. Eine Frau, mit der ich eine Familie gründen will. Ich war ebenso verzweifelt wie du!«
»Nicht die Mitleidstour«, schoss Tatjana bitter zurück. »Du hättest es mir sagen können. Man kann mit mir reden. Ich habe nicht nur Markentaschen, Parfümflakons und Diamantringe im Kopf. Es ging mir nie um dein Geld. Ich hätte dich auch ohne geheiratet. Sogar mit dem Wissen, dass du keine Kinder bekommen kannst. Aber für dich war ich nur ein Schmuckstück.« Sie machte eine Pause. »Du hast mich nicht ernst genommen.«
»Ich habe deiner Liebe nicht getraut«, gab Gerald zu.
»Nein, Gerald«, sagte Tatjana traurig, »viel schlimmer: Du hast deiner Liebe nicht getraut.«
»Warum ausgerechnet in Toulouse, Monsieur Remmertshausen?«, unterbrach Dupont das Zwiegespräch der beiden. »Gibt es in Deutschland keine Ärzte, die herausfinden können, ob man Sie wieder in den … ursprünglichen Zustand zurückversetzen kann?«
Gerald senkte den Blick. »Ich bin in der Ärzteschaft sehr bekannt. Ich gelte als Koryphäe auf meinem Gebiet. Ich …«
»Unsinn!«, unterbrach Tatjana ihn barsch. »Wolfgang hat mir geholfen, herauszufinden, dass du schlicht zu keiner dieser Praxen mehr gehen konntest. Sie hatten alle bereits deine Daten, nicht wahr? Oder soll ich besser sagen: Achims Daten!«
Pippas Blick wanderte zu Schmidt. Jetzt verstehe ich, dachte sie und nickte ihm anerkennend zu, dabei hast du Tatjana geholfen. Deshalb habt ihr euch getroffen.
»Gerald ist nie selbst zu den Untersuchungen erschienen, sondern hat Achim Schwätzer geschickt«, erklärte Schmidt. »So konnte er seinen Zustand vertuschen, hat sich aber Achim gleichzeitig ausgeliefert.«
»Ich dachte, du verlässt mich, wenn du von der Sterilisierung erfährst. Und ich habe immer gedacht, du gibst die Hoffnung auf ein Kind einfach irgendwann auf«, sagte Gerald zu Tatjana, aber die sah ihn nicht einmal an.
»Und das alles, um Ihr Gesicht zu wahren?«, fragte Pippa fassungslos. »Auf Kosten Ihrer Frau?«
Tatjana erhob sich von der Bank und stellte sich nah vor ihren Mann. »Ausgerechnet Achim. Als ob es da nicht bessere Männer gegeben hätte.« Sie wandte sich zu den anderen um, die sprachlos zusahen. »Aber vernünftige Männer würden so eine Schweinerei, so einen Betrug nicht mitmachen – die würden nicht derart tief sinken, um so ein schäbiges Ziel zu erreichen.«
Zumindest Thierry, Schmidt und auch Dupont fühlten sich bei Tatjanas Worten sichtlich unbehaglich. Achim tobte grunzend in seinen Fesseln, durch den Knebel der Möglichkeit beraubt, seinen wütenden Kommentar dazuzugeben.
»Und niemand anderer als du, Achim, hätte diese Abmachung unter Männern als Freifahrtschein angesehen, mir nachzustellen und mich zu belästigen.« Tatjana fixierte Schwätzer starr, während sie sich ihm langsam näherte. »Oder was hast du zur Verteidigung deiner oder Geralds Männlichkeit zu sagen?« Sie verharrte einen Moment vor ihm, dann spuckte sie ihm vor die Füße.
Achim zuckte zurück und rollte panisch mit den Augen.
Ungerührt entfernte Jean den Knebel, und Schwätzer wimmerte: »Ihr müsst mich vor ihr schützen! Ihr seht doch, dass sie wahnsinnig ist! Wer weiß, was sie mir sonst noch antut!«
Beinahe hätte Pippa laut gelacht, als auf diesen Satz hin alle Männer auf Achims empfindlichstes Körperteil starrten.
»Bitte! Sie darf mir nichts tun!«, bettelte Achim weiter. »Steht nicht einfach so rum! Helft mir!«
Tatjana schüttelte angeekelt den Kopf. »Bei dir ist jede Rache verschwendete Energie. Ich mache mir an dir die Hände nicht schmutzig.« Sie setzte sich wieder auf die Bank.
Sofort zeterte Achim: »Die ist nicht zurechnungsfähig. Die doch nicht! Bringt sie in die Klapse, wo sie hingehört.«
Niemand rührte sich.
»Die ist doch verrückt«, keifte Achim schrill, »und jähzornig. Und sie hat schon einen Menschen auf dem Gewissen.« Als er merkte, dass er keine Hilfe bekommen würde, brüllte er: »Ich zeige euch an! Alle! Wegen unterlassener Hilfeleistung! Tut endlich was!«
Tatjana fuhr herum. »Und was hast du für Teschke getan? Wo war deine Hilfeleistung? Du warst noch am Kühlwagen, als ich fortlief.« Sie sah zu ihrem Mann hinüber. »Und du auch, Gerald. Ihr wusstet beide, was ich nicht wusste – dass die Verriegelung von innen nicht öffnet.«
Achim Schwätzer wurde blass und schluckte krampfhaft. »Sie war es, sie ganz allein. Sie ist die Mörderin«, krächzte er heiser. »Sie hat die Tür zugeschlagen. Ich habe es selbst gesehen! Genau wie Gerald!«
Unter den angewiderten Blicken der Umstehenden verstummte er erschrocken.
Dupont straffte die Schultern. »Ganz genau. Sie haben es beide gesehen. Und weder Sie noch Herr Remmertshausen haben die Tür wieder geöffnet. Ich nehme Sie fest. Alle drei.«