Kapitel 15
Gegen Mitternacht verabschiedete Pippa sich von der Feier und ging in ihre Wohnung. Nach einer ausgiebigen Dusche saß sie mit einem Glas Blanquette auf dem Bett und ließ den Tag Revue passieren. Selbst durch das geschlossene Fenster konnte sie die lebhaften Diskussionen der Kiemenkerle von der Terrasse hören.
Nach und nach verebbten die Gespräche, und es klang nach Aufbruch. Pippa stellte sich ans Fenster und beobachtete den Rückweg der Angler ins Camp. Jeder ging für sich allein über den Damm; selbst Rudi und Hotte, sonst unzertrennlich, hielten Abstand.
Ihr fiel auf, dass Lothar Edelmuth mit hängenden Schultern hinter den anderen hertrabte.
Warum suchte Lothar nicht Trost bei seiner Frau? Oder Gerald Remmertshausen bei Tatti?
Nachdenklich spülte Pippa das Glas, kuschelte sich ins Bett und löschte das Licht. Obwohl sie todmüde war, wollte der Schlaf sich zunächst nicht einstellen; zu viel ging ihr im Kopf herum. Sie konzentrierte sich darauf, ruhig und tief zu atmen, und endlich dämmerte sie weg.
Klack!
Sie schlug die Augen auf und lauschte. Hatte sie sich das Geräusch nur eingebildet?
Klack! Klack!
Sie richtete sich auf. Jemand warf Steinchen gegen ihr Fenster! Sie seufzte und quälte sich aus dem Bett. Als sie das Fenster öffnete, prallte ein Stein gegen ihre Stirn.
»Au! Verdammt! Wer …« Sie rieb sich die schmerzende Stelle und sah vorsichtig hinaus.
»Oh, Madame Pippa«, rief eine Kinderstimme entsetzt aus, »das wollte ich nicht! Ich bin’s! Cedric!«
Unter ihrem Fenster stand der jüngste Sohn der Didiers und schaute mit zerknirschtem Gesichtsausdruck zu ihr hoch. Er trug einen viel zu großen Pyjama und stand barfuß auf den kalten Wegplatten. In der nächtlichen Kühle zitterte er am ganzen Körper.
Da trägt jemand die Sachen der größeren Brüder auf, dachte sie, oder will erwachsener wirken.
»Was machst du hier, Cedric?«
»Sie sind doch Detektivin«, antwortete der Junge, »ich muss dringend mit Ihnen sprechen. Bitte.« Seine Stimme klang verzweifelt.
»Jetzt? Mitten in der Nacht?«
Sie konnte nicht genau erkennen, ob er nickte oder vor Kälte schlotterte. Sie stieß einen leisen Fluch aus. »Also gut. Warte einen Moment, Cedric, rühr dich nicht von der Stelle. Ich komme zu dir.«
Pippa zog sich einen Trainingsanzug über das Nachthemd und schlüpfte in Turnschuhe. Beim Hinausgehen schnappte sie sich eine warme Decke und das Holzstück, das sie aus dem Wald mitgebracht hatte. Sie klemmte es zwischen Tür und Rahmen des Notausgangs und lief eilig die Wendeltreppe hinunter.
Cedric stand noch immer unter ihrem Fenster und blickte ihr erwartungsvoll entgegen. Fröstelnd hatte er die Arme um sich geschlungen und trippelte von einem Fuß auf den anderen. Er wehrte sich nicht, als Pippa ihn in die Wolldecke hüllte. Sie legte ihm den Arm um die schmalen Schultern und ging mit ihm die Auffahrt hinunter auf die Straße zu.
»Es ist fast zwei Uhr – was um alles in der Welt tust du hier? Ich nehme doch nicht an, dass deine Eltern wissen, wo du steckst?«
Er schüttelte den Kopf und sagte stolz: »Ich hab gewartet, bis alle schlafen. Dann bin ich aus dem Fenster geklettert. Da ist eine riesige Steineiche, ihre dicken Zweige reichen bis an mein Fenster. Es ist ganz einfach. Ich habe das schon oft gemacht.«
Wieso überrascht mich das jetzt nicht?, dachte Pippa. »Ich bringe dich zurück nach Hause. Es ist zu kalt, um ohne Schuhe durch die Nacht zu geistern. Viel kälter als die Nächte zuvor.«
»Das kommt von unserem Wind, der heißt Autan und kommt vom Mittelmeer rüber«, erklärte der Junge altklug. »Der bringt mächtig Kopfschmerzen, und nach ein paar Tagen drehen alle Leute durch. Vor allem die Erwachsenen.« Unvermittelt blieb er stehen und rief angriffslustig: »Nach Hause gehe ich erst, wenn ich Ihnen meinen Auftrag erteilt habe!«
»Auftrag?!«, fragte Pippa verblüfft.
Cedric nickte. »Das habe ich im Fernsehen gesehen. Das macht man so. Man hat ein Problem. Dann sucht man sich einen Detektiv, und dann erteilt man den Auftrag, und der Detektiv macht alles wieder wie vor dem Problem.« Er ließ sich weiterziehen und fügte zögernd hinzu: »Im Fernsehen sind das alles Männer. Aber Sie gehen auch. Ich kenne ja keinen anderen Detektiv.«
Pippa verkniff sich ein Schmunzeln. »Korrektur: Du kennst gar keinen Detektiv. Ich bin nämlich keiner. Und ich nehme auch keine Aufträge an.«
Cedric machte eine wegwerfende Handbewegung. »Klar – das müssen Sie sagen, weil Sie undercover sind. Das habe ich auch gesehen. Ich weiß Bescheid.«
Nach einer kleinen Pause fragte er: »Sind Sie sehr teuer?«
Er nestelte ein Sparbuch aus der Tasche seiner Schlafanzugjacke und hielt es ihr hin. »Das ist vom Zeitungaustragen und vom Spüldienst. Das können Sie alles haben, wenn Sie meinen Bruder wiederfinden.«
Jetzt blieb Pippa stehen. »Einer deiner Brüder ist weg?«, fragte sie erschrocken.
Cedric sah sie aus großen Augen ernst an. »Ja. Der, den ich nicht kenne.«
Sie standen am Ende der Auffahrt, als sie eilige Schritte hörten, die sich näherten. Eine Frau kam mit wehendem Mantel die Rue Cinsault entlanggelaufen.
»Oh, Mist«, murmelte Cedric, »maman.«
»Mein Gott«, sagte Cateline außer Atem, als sie Pippa und Cedric erreicht hatte, »Junge – was machst du denn mitten in der Nacht hier draußen?«
»Wie hast du überhaupt mitgekriegt, dass ich weg bin?«, fragte Cedric zerknirscht. »Ich war doch ganz leise.«
»Nicht leise genug, mein Lieber.« Cateline zog ihn liebevoll an den Ohren. »Außerdem bist du viel zu jung, um dich nächtens zu einer älteren Frau zu schleichen.«
Als der Junge merkte, dass seine Mutter viel zu erleichtert war, ihn gefunden zu haben, um ihn zu bestrafen, bekam er Oberwasser. »Aber sie kann uns helfen«, sagte er eifrig, »sie hat so was schon öfter gemacht. Madame Pippa klärt Geheimnisse auf.«
Pippa fing Catelines durchdringenden Blick auf und fragte Cedric: »Woher hast du denn das?«
»Ich war gestern schwimmen«, erklärte er stolz, »und als ich mich zum Trockenwerden auf die Felsen gelegt habe, redete Régine aus dem Touristenbüro gerade mit Régine aus dem Paradies. Erst hat sie ihr ein paar Besucher angekündigt – und dann haben die beiden sich unterhalten. Über Sie.« Er zeigte auf Pippa.
»Dass sie weiterhilft, wo die Polizei es nicht kann«, fuhr er aufgeregt fort, »und bei uns konnte sie ja nicht.«
Cateline packte ihren Sohn bei den Schultern. »Wovon redest du denn, um Himmels willen?«
Cedric schluckte, dann sagte er leise: »Der Mann heute – der tote Angler, meine ich –, der hat hier keine Familie, aber er hat all diese Männer um sich rum, die sich um ihn kümmern. Sogar, wo er jetzt tot ist. Jean, der hat Familie, aber keiner von uns kümmert sich um ihn. Der ist jetzt vielleicht ganz alleine tot, und das sollte nicht sein. Auch wenn man tot ist, sollte man jemand um sich haben. Uns.«
Cateline ließ Cedric los und trat betroffen einen Schritt zurück.
Als der Junge weitersprach, klang seine Stimme vorwurfsvoll. »Ihr habt uns immer wieder gesagt, wir sind Brüder, und Brüder bekämpfen sich nicht. Alle für einen, einer für alle, wie bei den Musketieren. Aber warum dann nicht für Jean?«
Cateline starrte ihren Sohn an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. In ihrem Gesicht arbeitete es, und Pippa hielt den Atem an, während sie auf Catelines Reaktion wartete. Diese zog Cedric liebevoll an sich und flüsterte: »Du hast recht, mein Kleiner, vielen Dank, dass du mich daran erinnert hast. Niemand sollte allein sein. Jean gehört zur Familie. Ganz gleich, was er gemacht hat. Ganz gleich, ob lebendig oder tot. Ich werde alles mit Pippa regeln, versprochen – aber du gehst jetzt ins Bett, und zwar sofort.«
Der Junge entwand sich den Armen seiner Mutter und sah Pippa hoffnungsvoll an.
»Du kannst dich auf uns verlassen, Cedric«, sagte sie. »Wir tun, was wir können.«
Cedric strahlte und stürmte dann die Straße entlang nach Hause. Alle paar Schritte machte er einen kleinen Luftsprung.
»Auf den können Sie stolz sein«, sagte Pippa zu Cateline, die ihrem Sprössling nachdenklich hinterherblickte.
»Ich weiß. Bei mir selbst bin ich da nicht so sicher.«
Weil du mich vor weniger als vierzig Stunden gebeten hast, nicht mehr nach Jean zu suchen, dachte Pippa, und jetzt steckst du in einer Zwickmühle, weil du eine Kehrtwendung machen musst.
»Lassen Sie uns zum Pavillon gehen, Cateline. Dort können wir uns ungestört unterhalten.«
Cateline nickte. Wortlos gingen sie über die Picknickwiese, denn Pippa wollte Cateline noch ein wenig Zeit zum Nachdenken geben.
Der Wind hatte sich gelegt, und im Pavillon waren sie zusätzlich geschützt. Sie setzten sich eng nebeneinander auf eine Bank.
»Sieht so aus, als müsste ich Sie bitten, mit Ihren Nachforschungen fortzufahren«, sagte Cateline.
»Gern – wenn Sie sich dessen sicher sind«, erwiderte Pippa. »Erzählen Sie mir bitte ehrlich, was damals passiert ist.«
Cateline blickte auf ihre Knie. Eine Zeitlang rang sie mit sich, dann seufzte sie und begann zu sprechen: »Der Junge lebte seit unserer Hochzeit bei den Legrands – aber Thierry wollte seinen Sohn gerne wieder bei uns haben. Deshalb haben wir zu diesem Essen eingeladen. Wir wollten ihm sagen, dass wir ihm die Entscheidung überlassen, wo er wohnen möchte. Er sollte wissen, dass unsere Tür jederzeit für ihn offen steht – dass er genauso in die Familie gehört wie das Kind, das ich erwartete.«
»Und das war mit Ferdinand und Lisette abgesprochen?«, fragte Pippa vorsichtig.
Wieder seufzte Cateline. »Unglücklicherweise nicht, denn Thierry war der Meinung, er könne das allein entscheiden. Damit haben wir Lisette und Ferdinand natürlich überrumpelt, und es gab bösen Streit. Die beiden wollten gehen und fragten Jean, ob er mitkäme. Als der Junge sich ihnen anschließen wollte, flippte Thierry aus. Er warf Lisette und Ferdinand vor, sie würden den Jungen gegen ihn aufhetzen und ihm mutwillig entfremden.«
Warum hat Vinzenz das eigentlich nicht erwähnt, dachte Pippa. Oder hat er es nicht herausgefunden?
»Lisette und Ferdinand waren zu Recht wütend«, fuhr Cateline fort, »Thierry und ich haben alles falsch gemacht. Wir haben die beiden vor den Kopf gestoßen und den Jungen völlig überfordert. Wir wollten alles auf einmal. Der Junge sollte sich mit uns versöhnen und sich gleichzeitig über das neue Kind in der Familie freuen. Ich weiß nicht, wer wütender war über meine Schwangerschaft: Ferdinand oder der Junge.«
Cateline holte tief Luft. »Dummerweise hat Ferdinand dann gesagt, dass wir den Jungen doch gar nicht mehr bräuchten, wenn wir bald ein eigenes Kind bekommen. Ich hätte nicht gedacht, dass Thierry noch wütender werden könnte, aber er wurde es. Ein eigenes Kind?, hat er wie von Sinnen gebrüllt. Jean ist mein Kind! Mein Sohn! Und daran ist nichts zu rütteln! Wenn du einen Sohn haben willst, krieg selber einen!«
»Ich schätze, das hat Ihrem Schwager gar nicht gefallen.«
»Er hat meinem Mann einen Kinnhaken versetzt. Als Thierry zurückschlagen wollte, hat sich der Junge dazwischengeworfen. Ich bin sicher, er wollte nur helfen – eine Schlägerei verhindern, aber …«
»Jean hat Thierrys Antwort abbekommen.«
»Mitten ins Gesicht. Das war entsetzlich. Ich dachte schon, er hätte ihm ein paar Zähne ausgeschlagen – jedenfalls hat der Junge stark aus Mund und Nase geblutet. Thierry hatte ihn noch nie geschlagen. Auch wenn es keine Absicht war … wir waren alle schockiert.«
»Ist so das Blut auf die Treppe gekommen?«
Cateline schüttelte den Kopf. »Nein. Die Schlägerei fand im Wohnzimmer statt. Thierry war über sich selbst entsetzt und hat gebrüllt, dass alles Ferdinands Schuld sei. Sein Schwager wolle einfach nicht zugeben, dass vielleicht er derjenige ist, der keine Kinder bekommen kann, und nicht die arme Lisette – und eigne sich deshalb fremde Kinder an.«
»Ein Schlag unter die Gürtellinie. Nicht besonders schön für die Legrands.«
»Ferdinand war der festen Überzeugung, dass Schwangerschaften reine Frauensache sind. Wenn er den Tatsachen ins Auge gesehen und sich zum Arzt getraut hätte, wäre Lisette vielleicht heute selbst Mutter. Aber Ferdinands Angst um seine verdammte Männlichkeit ließ das nicht zu.«
»Gott sei Dank hat sich das heutzutage geändert.«
»Glauben Sie? Ich wäre mir da nicht so sicher. Manche Männer gehen auch heute noch nicht zum Arzt, wenn sie Angst haben, es könnte bei ihnen Unfruchtbarkeit festgestellt werden. Dann wären sie ja kein ganzer Mann mehr!« Cateline lachte bitter auf. »Aus dem gleichen Grund lehnen sie es empört ab, sich sterilisieren zu lassen, wenn genug Kinder im Haus sind – das könnte ja ebenfalls ihre Männlichkeit schwächen. Bei der Frau finden sie einen derartigen Eingriff natürlich vernünftig oder erwarten von ihr, dass sie die Pille nimmt … Aber so ist Frankreich. Mag sein, dass das in Deutschland schon anders ist.«
Dein kleiner Exkurs hat mir jetzt mehr über deinen Thierry verraten, als dir lieb sein kann, Cateline, dachte Pippa. Vielleicht ist er eben doch eine andere Generation. Obwohl, wenn ich es recht bedenke: Leo hätte auch Theater gemacht.
»Und nachdem Thierry seinen Schwager der Unfruchtbarkeit bezichtigt hatte, sind die Legrands gegangen – ohne Jean?«, fragte Pippa.
Cateline nickte. »Genau. Thierry hat ihnen jeglichen weiteren Umgang mit dem Jungen verboten. Dann hat er Jean nach oben auf sein altes Zimmer geschickt.«
Tatsächlich?, dachte Pippa. Pascal hat doch erzählt, dass Jean in den Kriechkeller gesperrt wurde! Oder haben Lisette und Ferdinand da übertrieben, um Pascal zu beeindrucken?
»Und wie ging es Ihnen nach diesem turbulenten Abend, Cateline?«, fragte sie.
»Nicht gut. Ich fühlte mich schuldig, denn meine Schwangerschaft hatte alles ins Rollen gebracht. Nach der ganzen Aufregung war mir fürchterlich übel, und ich hatte große Angst, dass der Streit zwischen Thierry und dem Jungen weiter eskalieren könnte.« Sie seufzte. »Ich habe Thierry aus dem Haus gezogen, damit er sich beruhigt. Wir sind spazieren gegangen. Um den ganzen See. Leider habe ich mich zwischendurch immer wieder ausruhen müssen. Wir waren Stunden weg.« Sie blickte traurig über den ruhig daliegenden Lac Chantilly, als würde sie den Weg in ihrer Erinnerung noch einmal gehen. »Unser zweiter Fehler: Wir haben uns nach diesem Eklat nicht sofort um Jean gekümmert. Wir haben ihn alleingelassen.«
Cateline schwieg einen Moment. »Es war ein schlechter Tag für dieses Treffen. Der Autan wehte. Da sind die Menschen nervöser – und unberechenbarer als sonst.«
Pippa erwiderte nichts, um Cateline nicht zu unterbrechen. Es herrschte tiefe Stille, im Camp war keiner der Angler noch wach. Nur der Mond schien, und oben am Berg leuchtete das Licht des Chambres d’hotes du Paradis.
Nach einer langen Pause sprach Cateline endlich weiter. »Als wir ins Haus zurückkamen – das war schrecklich. Der Junge war verschwunden. Er hatte ein paar Kleinigkeiten in seine Sporttasche gepackt, und im Safe fehlten die letzten beiden Raten für das Bonace.« Sie schüttelte sich. »Am entsetzlichsten war das viele Blut. Es ergoss sich über die ganze Treppe, wie ein Bach. Und überall dieser eklige, süße Geruch. Bis heute kann ich kein Blut riechen, mir wird immer noch genauso schlecht davon wie damals.« Sie rang nach Luft. »Ich habe diesen grauenvollen Gestank einfach nicht ausgehalten und mir die Seele aus dem Leib gekotzt. Ich konnte einfach nicht aufhören. Thierry hat mich nach Revel zum Arzt gefahren. Aber es war zu spät.«
»Sie haben Ihr Kind verloren.«
Trotz der Dunkelheit sah Pippa, dass Cateline nickte.
Also hatten Bruno und Abel recht mit der Fehlgeburt – aber die erklärte nicht das Blut auf der Treppe.
»Ich habe mich jahrelang nicht davon erholt«, sagte Cateline, »von Kindern wollte ich erst einmal nichts mehr hören.« Sie lachte leise. »Aber ich habe ganz schön aufgeholt, was?«
»Eine Frage habe ich noch, Cateline. Mir fällt auf, dass alle immer nur von dem Jungen sprechen. Niemand nennt seinen Namen.«
»Jean … er war für alle immer noch das Kind. Er war so ein wunderschöner Junge.«
Pippa wandte sich Cateline zu und sah sie prüfend an.
»Ich habe ihn wirklich gern angesehen«, sagte Cateline leise. »Es treibt mich um, dass er das missverstanden und sich Hoffnungen gemacht hat. Jean hatte sich in mich verliebt, und ich habe es zugelassen. Ohne diese Schwärmerei wäre das alles nicht passiert.«
»Waren Sie viel mit ihm allein?«
»Er hat in den Sommerferien im Vent Fou gejobbt – wir haben uns praktisch täglich gesehen. Durch ihn habe ich Thierry überhaupt erst kennengelernt.«
Auch das noch, dachte Pippa. Es muss ein schwerer Schlag für Jean gewesen sein, die erste große Liebe an den eigenen Vater zu verlieren.
»Jean hat seinen Vater sehr verehrt«, erzählte Cateline weiter, »aber er hat Thierry natürlich zu einer anderen Generation gezählt als mich und sich selbst. Als einen möglichen Konkurrenten um meine Gunst hat er ihn überhaupt nicht wahrgenommen. Verständlich – Thierry ist zwanzig Jahre älter als ich und Jean nur fünf Jahre jünger. Und wir hatten so viele gemeinsame Interessen. Er begleitete mich auf der Gitarre, wenn ich sang, er archivierte die Fossilien, die ich sammelte, wir waren häufig zusammen angeln und …« Ihre Stimme brach.
»Hatten Sie ein Verhältnis mit Jean?«
Cateline machte eine abwehrende Handbewegung. »Du liebe Güte – nein. Er war der Erste, den ich in dieser fremden Umgebung kennenlernte, und er war nett zu mir. Ich gebe zu, ich habe mich geschmeichelt gefühlt. Alle Mädchen waren in ihn verknallt, aber ich nie. Wirklich nicht. Für mich war er nur der Sohn des Mannes, den ich liebte. Das war ein großer Fehler.«
»Und jetzt, wie ist es jetzt? Ihre Schwester meint, Sie haben vielleicht Angst, Jean heute zu begegnen.«
»Ach ja?«, fragte Cateline interessiert. »Wieso denkt sie das?«
»Nun ja …«, Pippa druckste unbehaglich, »immerhin ist er die jüngere Version Ihres Gatten …«
Cateline saß einen Moment völlig ruhig da. Dann sagte sie: »All die Jahre – und meine Schwester kennt mich immer noch besser als ich mich selbst.«