Kapitel 27
Langsam spazierte Pippa über den Damm davon.
Deshalb war Gerald nie eifersüchtig, dachte sie, er wusste, dass ihr Verhalten der Krankheit geschuldet war und sie nur Aufmerksamkeit erregen wollte – obwohl er doch eigentlich nie ganz sicher sein konnte, ob sie nicht doch … Ob Tatjana sich all dessen bewusst ist? Wohl nicht. Letzte Nacht hat sie mich absolut überzeugt. Wie weiß man, wann sie die Wahrheit sagt?
Pippa blieb einen Moment stehen. Und wenn Gerald mit dieser Erklärung nur von seiner eigenen Unzulänglichkeit ablenken will?
»Pippa, schläfst du im Gehen?«
Sie schreckte aus ihren Gedanken auf. Sissi und Lothar standen direkt vor ihr.
»Du hättest uns beinahe über den Haufen gerannt«, sagte Sissi und sah sie forschend an.
»Entschuldigt – ich habe geträumt.«
»Kommst du aus dem Camp?«, fragte Sissi. »Wir sind gerade auf dem Weg dorthin, um die Jungs vor dem Sturm zu warnen. Ferdinand sagt, sie sollen zusammenpacken und alle ins Vent Fou kommen. Er stellt den Veranstaltungssaal als Notunterkunft zur Verfügung.«
»Wird es so schlimm?«
Lothar zuckte mit den Achseln. »Ich glaube, Ferdinand will einfach sichergehen.«
»Ist doch lustig!«, plapperte Sissi aufgeregt. »Wie früher bei Klassenfahrten in der Jugendherberge. Wir sitzen alle zusammen und quatschen die ganze Nacht.«
Lothar warf ihr einen entsetzten Blick zu. »Aber wir beide doch nicht, wozu hast du ein Zimmer im Vent Fou? Du hast keine Ahnung, wie laut Hotte und Rudi schnarchen!«
Sissi winkte lachend ab und zog Lothar weiter.
»Soll ich euch helfen?«, rief Pippa ihnen hinterher. »Jemand muss doch Teschkes Sachen packen!«
»Nicht nötig«, antwortete Lothar, »das haben Rudi und ich bereits erledigt.« Er blieb stehen und fügte hinzu: »Und stell dir vor: Wir haben jede Menge Geld gefunden.«
Pippa ging neugierig die paar Schritte zurück zu den Edelmuths. »Geld? Bei Teschke? Ich dachte, er besäße keinen Cent.«
»Da haben wir uns wohl getäuscht«, sagte Lothar. »Es sind dreitausend Euro, mehr als er dem Verein schuldet. Wir werden davon die Kühlwagentür reparieren lassen. Und dann verkaufen wir das Mistding – von uns will da keiner mehr rein.«
»Verständlich. Und das viele Geld lag einfach so in seinem Zelt? Das ist ja unglaublich.«
Lothar winkte ab. »Nein, natürlich nicht. Wir mussten seinen Kram ja überall zusammensuchen. Hier eine Angel, da eine Reuse, lauter verdammt teures Zeug. Im Zelt fanden wir eine Fernbedienung, und Rudi wusste, wozu die gehörte: zu einem Futterboot.«
»Futterboot? Was ist das denn?«
»Typisch Franz – teuer und sinnlos. So ein Ding kostet mehr als sechshundert Euro. Du füllst es mit Futter und manövrierst es per Fernbedienung auf den See hinaus. Totaler Quatsch. Wir mussten also das Futterboot finden und ranholen. Es war dahinten.« Er zeigte hinüber zu den Sümpfen am Wald. »Aber nicht mit Futter befüllt, sondern mit Geld. Wasserdicht verpackt.«
»Und das lag einfach so am Ufer?«
»Nee, er hatte es mit Angelschnur an einer Baumwurzel befestigt. Wir hätten es wahrscheinlich nie entdeckt, wenn dort nicht auch eine seiner Ruten ausgelegen hätte.«
»Sieht ganz so aus, als hätte euer großer Angelheld sich schon öfter auf eure Kosten bereichert«, bemerkte Sissi bissig, »und nicht erst, als es um die Reparatur des Kühlwagens ging.«
»Kein schöner Gedanke«, sagte Lothar zerknirscht, »aber für mich persönlich ist das Geld trotzdem eine Erleichterung.«
»Wieso das?«, fragte Pippa erstaunt.
Lothar seufzte. »Rudi soll zwar auch ein paar Sachen bekommen, aber ich bin Teschkes Nachlassverwalter und Erbe. Und ich dachte, ich muss das ganze Zeug erst mühselig verkaufen, um einen Berg Schulden zu tilgen.«
»Nicht mal im Tod lässt uns dieser Mann von der Angel.« Sissi verdrehte die Augen. »Und Lothar glaubt immer noch, er muss ihm dankbar sein, weil er ihn zu den Kiemenkerlen gebracht hat.«
Pippa lachte auf. »Was gibt es denn da dankbar zu sein? Die Kiemenkerle sind doch keine Freimaurerloge. Lothar hätte jederzeit Mitglied werden können.«
»Wie oft habe ich das schon gesagt«, stöhnte Sissi und wandte sich ihrem Mann zu. »Und dann wären wir nicht immer diesen Sticheleien ausgesetzt. Angeln ist Volkssport. Du darfst angeln und verheiratet sein. Und ich darf das auch. Passen wir nicht ganz toll zusammen?«
»Du verstehst das nicht!«, brummte Lothar und ging missmutig davon.
»So geht das nun schon, seit wir hier sind«, sagte Sissi und korrigierte sich dann. »Nein, erst seit ich es wage, selbst die Rute ins Wasser zu halten, und die anderen ihn deshalb aufziehen.« Sie kicherte. »Weil ich besser bin als er.«
Pippa dachte an Schmidts Bemerkung über die dünnen Wände im Vent Fou. »Ich dachte, ihr versteht euch ganz gut.«
»Keine Spur. Und so was nennt sich Hochzeitsreise.« Sissi sah ihrem Gatten traurig hinterher. »Wir haben gerade mal eine Nacht nicht gezankt, die allererste. Seither streiten wir uns über jede Kleinigkeit.«
»Heißt das, ihr wart in der Nacht von Teschkes Tod nicht zusammen?«
»O doch – aber an das, was wir uns da an den Kopf geworfen haben, mag ich gar nicht mehr denken. Es war schrecklich.«
Pippa enthielt sich eines Kommentars, aber in ihrem Kopf arbeitete es heftig. Wieso hatte Tatjana Wolfgang gegenüber das Gegenteil behauptet? Den Unterschied zwischen Liebesgeflüster und Beleidigungen sollte man doch erkennen können. Wer log hier? Und wer gewann – oder verlor – dabei sein Alibi?
Sie zwang sich, Sissi weiter zuzuhören, die gerade sagte: »Sein Mentor ist tot, und Lothar hat ein schlechtes Gewissen, weil er sich in den letzten Wochen nicht genug um den alten Mann gekümmert hat.«
»Verständlich, aber völlig unnötig.«
»Genau. Und ich lebe noch.« Sissi sah triumphierend in Richtung Camp. »Ich werde noch heute dafür sorgen, dass ihm das endlich klarwird.«
»Dann verabschiede ich mich schon mal für den Rest des Tages von euch beiden.« Pippa wandte sich zum Gehen. »Macht es euch gemütlich und denkt mal nicht an den Rest der Welt. Viel Glück.«
Noch nachdenklicher als zuvor setzte Pippa ihren Weg fort. Erst Geralds Enthüllung über Tatjanas Krankheit, der unerwartete Geldfund und nun auch noch die Erkenntnis, dass Sissis Aussage nicht mit der von Tatjana übereinstimmte.
Pippa entschied spontan, zuerst Tibor zu besuchen. Danach würde sie im Bonace nach Abel sehen und mit Cateline reden. Ihr Rucksack war ein Leichtgewicht, und sie brauchte nicht erst im Vent Fou vorbeizugehen, um ihn loszuwerden.
Ehe sie die Rue Cassoulet erreichte, begegnete ihr Régine-Une, die sich mit einer bis zum Rand gefüllten Einkaufstasche abschleppte.
»Hallo, Pippa!« Régine-Une sah auf ihre Armbanduhr. »Du bist früh dran – oder willst du beim Kochen helfen?«
Auf Pippas verständnislosen Blick hin fügte sie hinzu: »Hat Lisette dir nicht Bescheid gesagt?«
»Ich war seit Tagen nicht im Vent Fou«, erklärte Pippa, »was sollte Lisette mir sagen?«
Régine-Une stellte die schwere Tasche ab. »Der Autan kommt – und da hat die Gendarmerie Hochsaison. In der Wache gehen alle Hilferufe ein, und die freiwilligen Helfer werden von dort aus koordiniert. Deshalb fällt unsere Verabredung heute Abend aus.«
»Verstehe, aber schade ist es trotzdem«, sagte Pippa enttäuscht. »Ich möchte so gern wissen, was in der Polizeiakte steht.«
»Das wirst du. Oder glaubst du, Gendarm Dupont ließe sich eine Chance entgehen, sich endlich mit mir zu treffen? Da würde er lauter heulen als der Sturm!«
Sie nahm die Einkaufstasche wieder auf und ging zusammen mit Pippa Richtung Bonace und Polizeiwache.
»Sei in etwa einer Stunde in der Dienstwohnung der Gendarmerie. Und stell dich auf Ratatouille mit viel Knoblauch ein. In riesigen Mengen, damit die Polizei die Nacht durchsteht, falls es Einsätze gibt.«
»Allmählich macht ihr mir Angst. Ferdinand richtet im Vent Fou eine Notunterkunft für die Camper ein, die Polizei ist in höchster Alarmbereitschaft. Wird der Sturm wirklich so heftig?«
Régine-Une schüttelte den Kopf. »Weniger der Wind als die Menschen. Die spielen bei diesem Wetter verrückt, da muss man auf alles gefasst sein. Oder was meinst du, woher das Vent Fou seinen Namen hat?«
»Vielleicht sollte ich doch besser zusehen, dass ich nach Hause komme, und wir treffen uns ein anderes Mal?«
Wieder blickte Régine-Une auf ihre Armbanduhr. »Keine Sorge – für ein paar Stunden ist hier noch alles ruhig.«
Sie hatten das Bonace erreicht und blieben auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen.
Pippa wollte sich gerade verabschieden, als Leo aus der Tür der Auberge trat und über die Straße rief: »Pippa! Mein Gott, bin ich erleichtert, dich zu sehen. Ich wollte gerade mit dem Auto los und dich vom Berg holen. Bei diesem Wetter sollte man wirklich nicht durch den Wald laufen.«
Während er auf sie zukam, zwinkerte Régine-Une Pippa anerkennend zu und flüsterte: »Ich sehe dich dann später – nachdem er dich gerettet hat.«
Pippa wollte erst protestieren, erinnerte sich dann aber, dass sie ohnehin noch Fragen an Leo hatte.
Pippa zog ihren überraschten Noch-Gatten zur Tür der Brasserie. Der Wirt war gerade dabei, die Fensterfront mit stabilen Holzplatten zu verbarrikadieren.
»Erwarten Sie eine Demonstrationen von gewaltbereiten Steinewerfern?«, fragte Leo.
Der Wirt nickte grimmig. »Allerdings, und zwar eine von ungewöhnlicher Stärke. Der Wind kommt uns nachher besuchen, aber er wirft nicht mit Steinen, sondern mit Ästen. Und ich brauche keine Totholzhecke vor meinem Tresen.«
»Bekommen wir trotzdem einen Kaffee bei Ihnen?«, fragte Pippa freundlich.
Der Wirt antwortete mit einer Geste, die Pippa mittlerweile schon erwartete: Er sah auf die Armbanduhr. »In Ordnung«, sagte er schließlich, »aber ab jetzt mit Gefahrenzulage. Ich schließe um Punkt 13 Uhr, Sie haben eine knappe halbe Stunde.«
»Kommen Leute hier jemals ein zweites Mal her?«, raunte Leo Pippa ins Ohr.
Sie kicherte. »Ich weiß nicht, was du meinst. Er hat uns vor dem Sturm gewarnt und genau gesagt, wie viel Zeit wir noch haben, uns in Sicherheit zu bringen. Das ist doch sehr nett von ihm.«
»Das nennst du doch nicht etwa freundlich«, murrte Leo.
»Das nenn ich okzitanisch – kann mühelos mit dem Umgangston der Transvaalstraße mithalten. Ich fühle mich hier wie zu Hause.«
Sie stellte ihren Rucksack ab und setzte sich mit Leo an einen Tisch. Bei der Tochter des Wirts orderten sie zwei Milchkaffee, die ihnen in Rekordgeschwindigkeit serviert wurden.
»Ich vermute, es hat wenig Sinn, noch einen Versuch zu wagen?«, fragte Leo und sah Pippa hoffnungsvoll an.
Genießerisch trank Pippa ihren Kaffee. »Immer – nur nicht mehr bei mir, Leo. Ich hatte schon immer den Verdacht, dass wir besser Freunde geworden wären statt ein Ehepaar.«
Leo kommentierte ihre Bemerkung nicht, sondern starrte griesgrämig in seinen Kaffee. »Das soll Kaffee sein? Leider schiefgegangen.« Er stellte die Tasse so heftig auf den Tisch, dass die Flüssigkeit über den Rand schwappte.
Pippa grinste. Dann sagte sie: »Aber ich gebe zu, dass du mich in letzter Zeit beeindruckt hast. Die Einladung nach Toulouse war gut eingefädelt. Hoffentlich hast du nicht zu lange auf mich gewartet.«
Leo sah sie verständnislos an. »Entschuldige, wovon redest du?«
Jetzt war Pippa irritiert. »Das okzitanische Café Florian? Das venezianische Zimmer im Museum? Die Rue Leon Gambetta?«
»Wenn es mir irgendwie nützt, habe ich selbstverständlich damit zu tun.« Er grinste sie entwaffnend an. »Ich fürchte nur, du würdest schnell merken, dass ich mich mit fremden Federn schmücke.«
Pippa berichtete ihm von der Einladung nach Toulouse, dem Zettel unter dem Samt und ihren Bemühungen, ihm zu entkommen.
»Ich wünschte, ich wäre der anonyme Absender gewesen«, sagte Leo beinahe wehmütig. »Aber ich habe nur Tatjana einen Gefallen getan und sie in die Stadt gefahren. Bis ich sie wieder abholen konnte, bin ich durch die Geschäfte gebummelt. Ich muss zugeben – Toulouse ist eine schöne Stadt. Für französische Verhältnisse jedenfalls.«
Pippa lachte. »Okzitanische Verhältnisse – und die reichen im Osten bis ins italienische Piemont. Es besteht also kein Grund zur Angst vor Konkurrenz.« Sie wurde wieder ernst. »Aber umso mehr interessiert mich jetzt, wer sich dann die Mühe gemacht hat, mich für einen Tag nach Toulouse zu locken – oder aus Chantilly weg.«
»Du hast genug Verehrer, die dafür infrage kommen.«
Pippa trank ihren Kaffee aus und sagte: »Schönes Stichwort, Leo. Verehrer. Du hast doch in den letzten Tagen ziemlich viel Zeit mit Tatjana verbracht.«
Leo räusperte sich unbehaglich. »Wirklich, Pippa, es ist nichts passiert. Es war nicht, was du denkst. Rein freundschaftlich.«
»Armer Leo, so viel Mühe und keine Belohnung?« Pippa legte amüsiert ihre Hand auf seinen Arm. »Tja, mein Lieber – Tatjana ist eben aus anderem Holz geschnitzt als deine Studentinnen.«
Er warf ihr einen schnellen Blick zu. »Hatten wir uns nicht gerade auf gute Freunde geeinigt?«
»Ganz genau. Und deshalb hoffe ich auch auf deine freundschaftliche Mithilfe. Ist dir an Tatjana irgendetwas aufgefallen?«
»Die gesamte Frau ist eine auffallende Erscheinung.«
»Da gebe ich dir recht«, sagte Pippa. »Aber ich denke da an anderes: Verhalten, Vorlieben, Angewohnheiten – irgendetwas.«
Leo nickte nachdenklich. »Allerdings. Sie hat immer sofort das Weite gesucht, wenn ein bestimmter Angler auftauchte: Armin oder Achim oder so.«
»Diesen Fluchtreflex entwickelt jede Frau. Sonst nichts?«
Leo überlegte einen Moment. »Wenn ich es recht bedenke: Ihrem Mann gegenüber hat sie sich ebenso verhalten.«
»Du meinst, sie ist ihm aus dem Weg gegangen?«, hakte Pippa interessiert nach.
»Sie wollte lieber mit mir Ausflüge machen, als die Zeit mit ihm zu verbringen. Ein bisschen wie bei mir und dir.« Er warf Pippa einen Blick zu, aber die reagierte nicht auf die Anspielung. »Wir sind durch die gesamten Montagne Noire gefahren. Wirklich, ein schönes Fleckchen Erde – und das ausgerechnet in Frankreich.«
»Sonst nichts Erwähnenswertes?«
»Nichts.«
Pippa bemerkte, dass der Wirt mit verschränkten Armen an der Tür stand und sie auffordernd ansah.
»Ich glaube, es wird Zeit zu gehen«, sagte sie, legte Geld auf den Tisch und stand auf. »Komm, ich begleite dich zum Bonace.«
Im Eingangsbereich des Bonace verabschiedete Leo sich von Pippa mit einer freundschaftlichen Umarmung.
»Ich werde jetzt gleich losfahren, Pippa. Meinen persönlichen Sturm habe ich ja hinter mir.« Er sah sie traurig an. »Du weißt, totale Flaute ist nicht so mein Ding.«
Pippa nickte und spürte wider Erwarten einen Kloß im Hals, als Leo ohne ein weiteres Wort ging.
Dann sah sie sich neugierig um, da sie die Auberge bisher nur von außen kannte. Einem kleinen Empfangstresen aus hellem Holz gegenüber befand sich eine geschmackvolle Sitzgruppe, und an den hellgrau getünchten Wänden hingen Drucke von alten Aquarellen, bei denen ein Thema dominierte: Fische.
Klein, aber fein, dachte Pippa anerkennend, als ein Fußball die Treppe heruntergehopst kam und neben ihr an die Wand prallte. Lautes Getrappel von Schritten im Obergeschoss folgte.
… und quicklebendig, führte Pippa ihren Gedanken amüsiert weiter, im Prospekt steht vermutlich Ein lebhaftes und kinderfreundliches Haus, Familienanschluss inklusive.
Sie betätigte die Klingel am Empfang.
Prompt trat Cateline aus einer Tür hinter dem Tresen, während gleichzeitig ihre Söhne die Treppe ins Erdgeschoss heruntergepoltert kamen. Bei Pippas Anblick blieben sie wie angewurzelt stehen. Die Jungs schauten synchron erst zu ihrer Mutter und danach zu Pippa, dann schlichen sie sich Schritt für Schritt Richtung Eingangstür.
Cateline kam blitzschnell hinter dem Tresen hervor und packte sich den erstbesten am Schlafittchen. Solidarisch blieben seine Brüder stehen, während Cedric am ausgestreckten Arm seiner Mutter zappelte.
»Guten Tag, Pippa. Schön, dass du mal vorbeischaust. Die jungen Herren hier haben dir etwas zu sagen.«
»Nö, eigentlich nicht«, platzte Cedric heraus und wurde dafür von seiner Mutter geschüttelt wie ein Hundewelpe.
Sein großer Bruder Eric guckte angelegentlich an die Decke, als er murmelte: »Wir wollten Sie mit dem Zeugs nicht erschrecken.«
»Jungs …«, sagte Cateline drohend.
»Es tut uns wirklich total leid«, fügte Marc kleinlaut hinzu.
Pippa bemühte sich um eine ernste Miene. »Ich nehme an, wir reden von der Voodoowand. Wirklich, sehr eindrucksvoll.«
»Ja, nicht wahr?«, rief Franck. »Sogar wir haben uns gegruselt. Deshalb haben wir uns auch nicht getraut, noch mal hinzugehen und alles wieder abzubauen.«
»Wir haben das in einem Voodoo-Film gesehen«, erklärte Marc eifrig, »da hat das super funktioniert.«
Cedric befreite sich aus dem Griff seiner Mutter. »Bei uns leider nicht.«
»Pascal ist nicht wieder weggegangen«, murrte Marc, »der ist immer noch hier.«
»… und nervt total«, flüsterte Cedric.
»Wie eine richtige Entschuldigung hört sich das für mich nicht an, meine Lieben«, sagte Cateline, »dazu gehört nämlich Reue.«
»Also, ich hab ganz viel Reue, ehrlich!«, rief Cedric. »Aber ich gehe bestimmt nicht noch mal in den stinkigen Rattengang.« Seine Brüder nickten vehement.
Auf ein Nicken Catelines hin flitzten sie allesamt erleichtert zur Tür hinaus.
»Gerade noch rechtzeitig«, sagte Pippa, »noch eine Sekunde, und ich hätte gelacht.«
»Schlimmer als ein Sack Flöhe.« Cateline schüttelte lächelnd den Kopf. »Du willst sicher zu Abel. Es geht ihm schon besser, aber der Arzt will ihn auf keinen Fall mit den Kiemenkerlen nach Hause fahren lassen.«
Pippa spürte eine ganz unangemessene Freude über diese Ankündigung. Wunderbar, dachte sie, während sie Cateline in den ersten Stock folgte. Dann sind nicht alle auf einmal weg. Es wäre für mich sonst sehr plötzlich sehr ruhig am See.
»Komm, ich bringe dich zu ihm«, sagte Cateline und ging vor Pippa in den ersten Stock. Oben im Flur hielt Pippa Cateline auf.
»Warte kurz«, bat sie. »Ich habe den Bericht gelesen. Du wusstest also, wer Pascal ist. Du bist gar nicht wütend auf ihn, weil er sich bei Lisette und Ferdinand eingenistet hat.«
»Stimmt. Ich bin sauer, weil er Jeans Vertrauen missbraucht hat.«
»Du denkst, die beiden haben sich im Gefängnis gegenseitig ihr Leben erzählt …«
»… und Pascal hat es ausgenutzt, dass Jean nie wieder herkommen würde. Jean wollte ja keinen Kontakt, ich durfte ihm nicht einmal schreiben. Für ihn ist dieser Teil seines Lebens ein für alle Mal abgeschlossen. Und das weiß Pascal genau.«
»Er kann diese Lücke gefahrlos ausfüllen«, sagte Pippa nachdenklich.
»Er hat Jeans Vertrauen missbraucht«, wiederholte Cateline, »und jetzt genießt er die Früchte seines Verrats.«
»Vor drei Jahren brach der Bericht ab. Du hast seither nichts von Jean gehört?«, bohrte Pippa weiter.
»Nichts.« Cateline blickte sich um und zog Pippa in ein leeres Gästezimmer. Sie machte die Tür zu, bevor sie flüsterte: »Bis letzten Dienstag.«
»Was?«
»Ich war in Revel einkaufen. Und als ich zu Hause meine Tasche auspackte, lag ein Brief darin. Anonym.«
Diese Form der Kommunikation scheint hier sehr beliebt zu sein, dachte Pippa.
Cateline sah sie lange an, und Pippa rollte mit den Augen. Sie sagte: »Bitte, keine Spannungspausen. Ich bin schon aufgeregt genug.«
»Also gut. Jemand schrieb, dass er Nachricht von Jean für mich hätte. Und dass er sich mit mir treffen wolle, um sie mir zu geben. Ich solle allein kommen. Donnerstag. Um Mitternacht. Zur Treppe, die vom Parkplatz auf den Damm führt.«
»Hast du Thierry davon erzählt?«
»Natürlich nicht! Er hätte mich niemals gehen lassen!«
Pippa schüttelte den Kopf. »Merkt er denn nicht, wenn du dich mitten in der Nacht aus dem Haus schleichst?«
»Donnerstags geht Thierry immer zum Nachtangeln, zusammen mit unserem ältesten Sohn. Und niemals an den Lac Chantilly. Es gibt ja genug andere Möglichkeiten in der Umgebung.«
Das muss der Verfasser der Nachricht gewusst haben, sonst hätte er einen anderen Tag vorgeschlagen, überlegte Pippa.
»Ich war schon weit vor Mitternacht dort. Ich bin mit dem Auto gefahren und habe auf dem Parkplatz gewartet.«
»Du dachtest, der große Unbekannte hat diese Stelle gewählt, weil er mit dem Auto kommt.«
»Genau.« Cateline nickte. »Und ich wollte mir einen Vorteil verschaffen, indem ich mich frühzeitig auf die Lauer lege. Dann hätte ich ihn kommen sehen. Und ich wollte sicher sein, nicht in eine Falle zu tappen.«
»Aber ist der Parkplatz um diese Zeit nicht leer? Wäre dein Auto nicht aufgefallen?«
Über Catelines Gesicht huschte ein Lächeln. »Ganz im Gegenteil: Unser Waldparkplatz ist bei Liebespärchen sehr beliebt. Nachts herrscht dort Rushhour. Ich konnte ganz sicher sein, dass mein Auto nicht auffiel. Außerdem stand ich im Schatten des Kiemenkerl-Busses. Aber ich habe vergeblich gewartet.«
»Es ist niemand gekommen«, sagte Pippa enttäuscht.
»Niemand. Ich habe mich dann aus der Deckung gewagt und bin die Treppe hoch auf den Damm. Am Ufer standen zwei Angler, und im Lager brannte noch in ein, zwei Zelten Licht. Von meinem Unbekannten keine Spur. Und in diesem Moment …«
»… hast du deinen Cedric gesehen, wie er Steine an mein Fenster warf«, vervollständigte Pippa.
»Ich wollte aber nicht, dass ihr zwei merkt, woher ich komme, also bin ich mit dem Auto ganz schnell wieder nach Hause und euch zu Fuß entgegengekommen.«
»Deshalb warst du so schnell und komplett angezogen bei uns. Hab ich mir’s doch gedacht. Und seitdem hat sich der ominöse Briefschreiber nicht wieder bei dir gemeldet?«
»Kein Wort. Es ist zum Verrücktwerden.«
»Hast du den Brief noch?«
Pippas Aufregung stieg, als Cateline nickte und einen zerknitterten Zettel aus dem Ausschnitt zog. »Ich habe ihn immer bei mir.«
Pippa nahm den Brief entgegen, faltete ihn auseinander und strich ihn glatt. Ihr stockte der Atem, als sie Franz Teschkes Handschrift erkannte. Sie täuschte sich bestimmt nicht – sie kannte seine krakeligen Buchstaben von den kursierenden Wettscheinen.
»Meinst du, es war nur ein schlechter Scherz?«, fragte Cateline zaghaft.
»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Pippa langsam. »Ich fürchte nur, der Verfasser dieser Nachricht hält keine Verabredungen mehr ein.«