Kapitel 8
Denkst du, dass Thierry tatsächlich zum Wettangeln kommt?«, fragte Pippa, als sie mit Wolfgang zum Vent Fou zurückschlenderte.
»Keine Ahnung, schwer zu sagen. Kommt auf seinen Ehrgeiz an. Und auf ihren Einfluss. Hast du gesehen, wie sie … He, du hörst mir ja überhaupt nicht zu!«
Pippa wandte ihren Blick vom leeren Pavillon zurück zu dem entrüsteten Kommissar. »Natürlich höre ich dir zu. Ich wollte nur … Wo Alexandre wohl heute malt?«
»Offensichtlich nicht im Pavillon d’amour.«
»Heißt der so?«
»Muss wohl«, schnappte Schmidt. »Zwei Leute, die sich da drin begegnen, scheinen sich unweigerlich ineinander zu verlieben. Aber wem erzähle ich das?«
Pippa blieb stehen und funkelte ihn an. »Das geht dich nichts an.«
»Dass Alexandre und Pascal dich anhimmeln, ist nun wirklich nicht zu übersehen.«
»Eifersüchtig?« Pippa konnte sich kaum das Lachen verkneifen.
»Keineswegs. Wir zwei sind uns ja auch nicht im Pavillon über den Weg gelaufen, nicht wahr?«
»Du scheinst überhaupt noch nie dort gewesen zu sein, sonst hättest du mich nicht als Freundin engagieren müssen.« Um Wolfgang abzulenken, deutete sie auf den See. »Du warst doch schon öfter in Chantilly, ich erinnere mich, dass du auf Schreberwerder davon erzählt hast. Konntest du denn letztes Jahr noch herfahren?«
Schmidt warf ihr einen vernichtenden Blick zu und ging weiter. »Vier kurze Tage. Mehr blieb nicht, nachdem ihr euch auf Schreberwerder unbedingt gegenseitig an die Kehle musstet.«
»Und für die ganzen Morde gab es natürlich nur einen Grund: dir den Urlaub zu versauen. Genialer Plan, nicht wahr?«
Schmidt presste die Lippen zusammen und beschleunigte seinen Schritt.
Pippa erkannte, dass sie in ein Fettnäpfchen getreten war, und suchte nach einer Möglichkeit, ihn zu besänftigen. »Wie habt ihr diesen wunderschönen See überhaupt entdeckt? Pia sagt, selbst bei den Franzosen ist er kaum bekannt.«
Schmidt grinste. »Entschuldigung angenommen!« Er deutete über den See. »Du hast recht, der Lac Chantilly ist außergewöhnlich. Der schöne Jan hat ihn entdeckt.«
»Der schöne Jan?«
»Jan Weber. Auch ein Kiemenkerl. Aus Krankheitsgründen nicht dabei. Seines Zeichens Weinhändler und deshalb ständig in ganz Frankreich unterwegs. An den Südhängen der Montagne Noire gibt es berühmte Weinanbaugebiete. Von seinem Lieblingsweingut, der Domaine d’Esperou, bringt er uns immer ein paar Flaschen mit. Göttlicher Wein.«
»Und auf einer seiner Reisen hat der schöne Jan dann dieses Sahnehäubchen von See entdeckt?«
»Er hat wieder und wieder davon geschwärmt, ihn als reinstes Anglerglück beschrieben – und uns schließlich mit seiner Begeisterung angesteckt. Das war vor drei Jahren, und seither sind wir jedes Jahr wiedergekommen. Prachtvolle Karpfen – allein dafür lohnt es sich.«
Geduldig lauschte Pippa seinen Erzählungen über Lagerfeuerromantik, kapitale Fänge, entspannte Grillabende und schräge Gesänge zur Klampfe.
»Ich werd nicht mehr – Bruno singt für euch?«, fragte sie lachend.
»Mit ganzer Leidenschaft. Es gibt nichts Besseres, als am abendlichen Feuer zu sitzen und Brunos Interpretation von Wir lagen vor Madagaskar zu lauschen. Pure Entspannung.«
»Heute Abend wird allerdings weniger Entspannendes zu hören sein.«
»Wohl wahr.« Schmidt nickte grimmig und sagte in perfekter Imitation Brunos: »Das wird aufregend. Sehr aufregend.«
Am Swimmingpool des Vent Fou entdeckten die beiden Tatjana und Pascal. Die junge Frau trug ein knappes Badedress aus Jeansstoff, das ihre Figur eindrucksvoll zur Geltung brachte.
»Du liebe Güte«, entfuhr es Pippa, »dieses exklusive Stückchen Stoff habe ich gerade in einer Zeitschrift bewundert. Tatjana sieht darin besser aus als das Fotomodell. Wie eine Porzellanpuppe. Kein Wunder, dass euer Doktor sie unbedingt haben wollte.«
Wolfgang Schmidt kniff die Augen zusammen und sah zu Tatjana hinüber. »Schade nur, dass er die Puppe ins Regal gestellt und dort vergessen hat. Er hat nie begriffen, dass kostbares Porzellan gepflegt werden muss.«
Pippa sah ihn prüfend an. »Du magst sie.«
Er zuckte mit den Achseln. »Sie ist nicht verkehrt. Sie lebt nur in ihrer sehr eigenen Welt.«
»In einer äußerst exklusiven, wie es scheint.«
Pascal hatte sie entdeckt und winkte.
»Pippa, komm doch rüber, schwimmen«, rief Tatjana ihr zu. »Das Wasser ist herrlich!«
»Ein anderes Mal, ich muss arbeiten«, rief Pippa zurück.
»Freundinnen fürs Leben?«, fragte Schmidt spöttisch. »Ausgerechnet Tatti und du?«
»Komplizinnen«, erwiderte Pippa geheimnisvoll und freute sich über sein erstauntes Gesicht.
In der Wohnung war es warm und stickig. Pippa hatte zwar daran gedacht, die Fenster geschlossen zu lassen, aber die Vorhänge nicht zugezogen. In der Hoffnung auf ein erfrischendes Lüftchen riss sie alle Fenster auf.
»Hast du etwas Kühles zu trinken?«, fragte Schmidt und ließ sich auf einen Stuhl am Esstisch fallen.
Pippa holte Mineralwasser aus dem Kühlschrank und füllte zwei Gläser, bevor sie sich zu ihm setzte. Durstig trank sie in großen Schlucken, dann deutete sie auf die Plastiktütchen, die vor Schmidt lagen.
»Was ist da drin?«
Schmidt grinste zufrieden. »Spuren aus dem Geisterhaus. Blut von der Treppe, Holzsplitter und so weiter.«
»Ehrlich? Aber das Blut ist fünfundzwanzig Jahre alt. Kann man mit so alten Proben noch etwas anfangen?«
Schmidt lachte. »Wenn man sogar anhand der Blutflecken an Kaspar Hausers Kleidung beweisen konnte, dass er nicht aus fürstlichem Hause stammte, dürften läppische fünfundzwanzig Jahre kein Problem darstellen. Solange humanes Gewebe – gleich welcher Art – sichergestellt werden kann, spielt das Alter keine Rolle. Ich ziehe diesen Fall einfach durch wie jeden anderen auch. Improvisation ist nicht meine Stärke.«
»Das sah gestern Morgen aber anders aus.«
»Angst verleiht Flügel«, sagte Schmidt verlegen und wechselte eilig das Thema. »Hast du hier ein Telefon?«
Pippa zeigte ihm den Apparat, und er führte einige Gespräche auf Französisch. Sie hörte trotzdem heraus, dass er zuletzt mit einem internationalen Kurierdienst sprach, und wurde aufmerksam, als er eine Sendung nach Wiesbaden ankündigte.
»Du willst die Proben zum BKA schicken?«, fragte sie, als er aufgelegt hatte. »Ist es nicht verboten, eure Experten für Privatsachen einzuspannen?«
»Ich schicke alles an meinen Freund Stephen und bitte ihn, sie sich anzusehen«, antwortete Schmidt. »Ob, wann und wie intensiv er sie sich ansieht, liegt nicht in meiner Hand.« Er grinste. »Aber eines weiß ich: Er hat die schärfsten Augen.«
Als der Kurier vor der Tür stand, musste Pippa tief in die Tasche greifen, um für die Sendung zu bezahlen.
Fassungslos sah sie Schmidt an, der seelenruhig in sein Baguette mit Käse biss. »Wieso habe ich jetzt so viel bezahlt? Und für was?«
»Dein Fall oder meiner?«, fragte Schmidt zurück, leerte sein Glas mit einem großen Schluck und verabschiedete sich.
Pippa vertiefte sich in ihre Übersetzungen und überarbeitete die bereits erledigten Texte. Dann fragte sie per E-Mail bei Professor Benedetto Libri an der Universität Venedig nach, ob er das schon übersetzte Material für die geplante Festschrift gerne vorab lesen würde.
Sie griff sich den nächsten Stapel Briefe. Auf dem Aktendeckel klebte ein Zettel mit dem Zitat: Man ist nicht feige, wenn man weiß, was dumm ist.
Je länger sie las, übersetzte und korrigierte, desto mehr fesselten sie Abenteuerlust, Großwildjagd und Stierkampf. Ihr Respekt vor der hingebungsvollen Forschungsarbeit ihrer Auftraggeber wuchs mit jedem Brief, den sie bearbeitete. Sie selbst hatte Hemingway immer als Großmaul und unverbesserlichen Macho abgetan. Da sie mit Leo ein Vollblutexemplar dieser Gattung an ihrer Seite gehabt hatte, schien Hemingway keine Bereicherung ihrer Welt. Damals hatte Pippa stattdessen immer häufiger zu Theodor Fontane und Jane Austen gegriffen, um sich bestätigen zu lassen, dass auch andere Formen des Lebens und Liebens existierten als die ihres untreuen Gatten.
Es war bereits Abend, als sie ihren Laptop zuklappte und sich streckte. Allmählich wurde es Zeit, ins Camp zu gehen und mit ihren Kundschaftern erste Informationen auszutauschen. Verführerischer Knoblauchduft lockte sie in die Restaurantküche.
»Gibst du mir eine Tasse Suppe?«, fragte sie Pascal, der geschäftig zwischen Herd und Arbeitstisch hin und her eilte. Mit ungeduldigen Handbewegungen forderte er zwei Küchenhilfen auf, beim Schneiden des Gemüses an Tempo zuzulegen.
»Es gibt gleich Abendessen. Verdirb dir nicht den Appetit, ich habe etwas ganz Besonderes.« Er unterbrach sich und öffnete fluchend den Backofen, dem eine heiße Qualmwolke entwich.
»Ich kann leider nicht bleiben. Ich bin auf dem Weg zum Zeltplatz«, sagte Pippa bedauernd.
Sichtlich widerstrebend schöpfte er Knoblauchsuppe in eine Schale und brach ein Stück von einer Baguettestange ab. Er knallte beides auf die Arbeitsplatte und sah Pippa mit verschränkten Armen beim Essen zu.
»Ich bekomme dich nie zu Gesicht«, brummte er schließlich. »Die Kiemenkerle nehmen dich ja sehr in Anspruch.«
»Oder ich sie – kommt ganz auf den Blickwinkel an«, gab Pippa zurück. Sie wischte die letzten Tropfen der Suppe mit dem Brot aus der Schale. »Köstlich.«
»Komm doch morgen früh mit mir auf meine Einkaufstour. Dann können wir uns endlich mal unterhalten, und du siehst etwas von der Gegend.«
»Einverstanden. Wohin geht es?«
Pascals Laune besserte sich schlagartig. »Unter anderem zur berühmten Ferme von Las Cases.« Er küsste genießerisch seine Fingerspitzen. »Die machen die beste Melsat.«
Ehe Pippa nachfragen konnte, wann sie zu der Tour aufbrechen würden, kam Lisette herein. Sie trug einen riesigen Weidenkorb, der bis zum Rand mit Artischocken gefüllt war.
»Das ist die Vorspeise, die du verpasst, Pippa«, rief Pascal und wies auf den Korb. »In Weißwein-Kräutersud gegarte Artischocken!«
Pippas fester Vorsatz, auf das Abendessen im Vent Fou zu verzichten, geriet ins Wanken. Gegen frische Artischocken war sie normalerweise machtlos.
»Hast du schon mit den Erkundigungen zu unserer Vergangenheit begonnen?«, fragte Lisette und lenkte Pippa damit ab.
»Wir sind mittendrin«, antwortete sie, »ich bin gerade auf dem Weg zu meinen Helfern.«
»Helfer?«
Lisette und Pascal wechselten einen schnellen Blick, und Pippa wurde klar: Den beiden behagte keineswegs, dass sie die Nachforschungen nicht allein durchführte.
Pascal nickte kaum merklich, und Lisette hakte sich bei Pippa ein.
»Wenn du schon gehen musst, begleite ich dich ein Stück«, sagte Lisette und lächelte. »Ein paar Schritte an der frischen Luft werden mir guttun.«
Sie verließen das Restaurantgelände und schlenderten auf dem Damm entlang.
»Ich dachte, Sie würden allein nach der Antwort auf unsere Fragen suchen«, sagte Lisette schließlich. »Mit Pascal. Nur Sie und er.« Sie zeigte zurück zum Vent Fou. »Er soll alles ohne Hypotheken übernehmen, ohne finanzielle und ohne persönliche. Ich möchte, dass er das weiß.«
»Wann wollen Sie aufhören zu arbeiten? Steht das schon fest?«, fragte Pippa.
»Wir werden ihm in der Hochsaison noch helfen – aber ab Winter würden wir gerne auf Reisen gehen. Ferdinands Traum ist es, eine Kreuzfahrt zu machen. Und ich möchte wieder einmal länger ins Elsass. Alte Freunde treffen. Familie habe ich dort keine mehr.«
»Ich dachte, Ihre Familie ist hier«, sagte Pippa vorsichtig.
»Cateline …« Lisette sprach den Namen beinahe sehnsüchtig aus und seufzte. Dann fuhr sie mit fester Stimme fort: »Seltsam, dieser Ort hat nur knapp zweihundert Einwohner, und meine Schwester und ich schaffen es seit Jahrzehnten, uns konsequent und erfolgreich aus dem Weg zu gehen.«
»Klingt so, als wären Sie beide Großmeister im Vermeiden von Aussprachen.«
Lisette lachte bitter. »Aussprachen? Wir wissen doch nicht einmal genau, worüber wir uns aussprechen müssen. Deshalb setze ich so große Hoffnung in Sie, Pippa.«
»Wer verhindert die Versöhnung: Ferdinand oder Thierry?«
Wieder seufzte Lisette. »Einer so stur wie der andere. Sie sind wie Stier und Torero – nur dass die Rollen ständig wechseln. Ich bete seit Jahren, dass die beiden nicht irgendwann die passende Arena finden und ein weiteres Unglück geschieht.«
Pippa fühlte sich an den Briefwechsel der Professoren über Mut und Feigheit erinnert, den sie soeben bearbeitet hatte: Solange der Torero in seinem Territorium bleibt, ist er sicher, aber betritt er das Gebiet des Stiers, besteht Lebensgefahr.
»Ich sehe keine Möglichkeit, wie die beiden je wieder zusammentreffen könnten, ohne sich an die Gurgel zu gehen.« Lisette schüttelte den Kopf.
Pippa legte ihr die Hand auf den Arm. »Aber ich.«
Lisette sah sie neugierig an.
»Wolfgang Schmidt hat Thierry angeboten, beim Wettangeln mitzumachen. Ferdinand angelt doch auch, oder?«
Lisette nickte, und ihr Gesicht leuchtete auf. »Sie meinen …?«
»Beim Wettangeln würden sich die beiden Kampfhähne auf neutralem Territorium treffen – und geredet werden darf auch nicht viel. Jedenfalls nicht, wenn es nach Franz Teschke geht.«
In diesem Moment sah Pippa, wie Sissi und Vinzenz die Treppe vom Parkplatz zur Dammkrone heraufkamen. Beide schleppten schwer an nagelneuem Angelgerät. Sie riefen Pippa und Lisette einen fröhlichen Gruß zu und baten um Hilfe beim Transport bis zum Zeltlager. Obwohl Vinzenz unter dem Gewicht eines Bündels langer Angelruten sichtlich schwitzte, wurde Pippa bewusst, dass sie ihn zum ersten Mal beinahe ausgelassen erlebte.
Verrückt, dachte sie, der Mann ist älter als mein Vater, aber ich finde ihn unglaublich anziehend. Vielleicht ist es doch möglich, dass Tatti einmal richtig in ihren Gerald verliebt war – ohne Hintergedanken an Sicherheit und Versorgung.
Im Camp wurde gerade das Essen abgeräumt, als die Vierergruppe eintraf. Vinzenz bat seine Kollegen, sich wieder auf den Bänken und Klappstühlen niederzulassen.
»Sind wir vollzählig?«, fragte Vinzenz, als alle Plätze besetzt waren.
»Franz ist am See unterwegs«, sagte Wolfgang Schmidt, »auf der unermüdlichen Suche nach dem optimalen Platz, um den Wettbewerb zu gewinnen.«
Die Kiemenkerle gackerten, während Sissi und Tatjana sich einen amüsierten Blick zuwarfen. Tatjana rief Pippa und Lisette zu sich auf eine Biergartenbank. Blasko Krabbe sprang sofort auf, um der Wirtin seinen gepolsterten Klappsessel anzubieten, aber Lisette winkte lächelnd ab und setzte sich zu den anderen Frauen.
»Liebe Freunde, ab morgen gibt es am Lac Chantilly eine Angelschule, und zwar unter meiner Leitung«, begann Vinzenz seine Rede. »Ich habe zudem kompetente Unterstützung – in Alexandre Tisserand, einem Maler aus Toulouse, der ebenfalls passionierter Angler ist.«
»Ich fass es nicht, Vinzenz, du kannst ja ganze Sätze! Und auch noch so viele!«, rief Hotte und klatschte Beifall.
»Der muss als Professor immer so viel quatschen. Da ist er froh, wenn er mit den Fischen um die Wette schweigen kann«, mutmaßte Rudi feixend.
Vinzenz Beringer hob zur Bestätigung den Daumen. »Ein paar Schülerinnen haben sich bereits angemeldet«, fuhr er fort, »und wie es der Zufall will, sind diese Damen unter uns.«
Die Kiemenkerle sahen sich erstaunt um und blickten in die strahlenden Gesichter von Sissi, Tatjana und Pippa.
Abel Hornbusch meldete sich wie in der Schule, um Vinzenz Beringers Aufmerksamkeit zu erregen. »Ich würde auch gern mitmachen, geht das?«
Lothar Edelmuth und Wolfgang Schmidt stießen sich an und rollten mit den Augen.
»Wir werden uns mit unseren frisch erworbenen Kenntnissen beim Preisangeln beteiligen«, sagte Sissi triumphierend. »Wir haben zwar keine Chance, aber jede Menge Enthusiasmus.«
»Und einen Namen haben wir auch schon«, verkündete Tatjana in Richtung ihres Mannes, der ihrem Blick konsequent auswich. »Wir sind die Blinkerbabys.«
Achim Schwätzer lachte auf. »Wohl eher Blinker-Barbies, meine Damen. Wollt ihr die Fische mit grellem Make-up in den Infarkt treiben? Dann wären wir Männer ja völlig chancenlos. In diesem Fall würde ich lieber zu dir überlaufen, Tatti. Ich ziehe dir auch gerne die Angelhaken aus dem Körper, wenn du die Schnur nicht ausgeworfen bekommst.«
»Kommt gar nicht in Frage, Achim«, schnaubte Blasko, »du bleibst bei uns. Sonst kommen die Mädels noch auf die Idee, als Mannschaft gegen uns anzutreten.«
»Guter Vorschlag, Blasko«, sagte Beringer ungerührt, »das machen wir. Danke für die Anregung. In welcher Gruppe wärst du denn gerne? Noch kannst du dich entscheiden.«
Blasko sah Beringer ungläubig an. »Wie bitte? Natürlich bleibe ich, wo ich bin. Es ist anstrengend genug, diese Truppe hier in Reih und Glied zu halten – noch chaotischer brauche ich es wirklich nicht.«
Die anderen Kiemenkerle nickten oder murmelten Zustimmung.
»Das hätte ich nicht von dir gedacht, Abel, dass du auf die andere Seite wechselst«, murrte Wolfgang Schmidt und funkelte seinen Ex-Schwager von der Seite her an, aber dieser zuckte unbeeindruckt mit den Schultern.
»Wer hat Lust, uns zu unterstützen?« Vinzenz sah sich auffordernd in der Runde um, und zu Pippas Erstaunen meldete sich Lisette. »Ich habe schon lange keine Zeit mehr zum Angeln gehabt. Ich würde es gern mal wieder versuchen.«
Pippa hatte einige Schwierigkeiten, sich die stets elegante Erscheinung der Restaurantwirtin in einer Gummihose im Wasser vorzustellen, war aber erleichtert, dass außer ihr noch jemand ein Auge auf Ferdinand und Thierry haben würde, falls diese beim Wettbewerb mitmachten.
»Das würde mich sehr freuen, Madame Legrand.« Vinzenz verbeugte sich galant vor Lisette. »Wir haben den kostspieligen Einkauf im hiesigen Angelgeschäft übrigens auch genutzt, um den glücklichen Verkäufern die Zunge zu lösen, und sie nach den Vorkommnissen in der Rue Cassoulet gefragt. Geldscheine machen eben gesprächig.«
Sissi ergriff das Wort. »Sie haben Pascal als Koch gelobt, aber …« Sie brach ab und sah Vinzenz hilfesuchend an.
Vinzenz übernahm souverän. »Aber sie sind klar der Meinung, dass er der letzte Nagel im Zerwürfnis zwischen den Familien Legrand und Didier ist.«
Lisettes Gesicht zeigte keine Regung. Sie hielt ihre Hände ruhig im Schoß gefaltet und sah Vinzenz aufmerksam an. Mit einem Nicken forderte sie ihn auf, weiterzusprechen.
Vinzenz berichtete: »Einer der Verkäufer meinte, es wäre naheliegender, Didiers ältesten Sohn Eric in die Pflicht zu nehmen. Und auch die anderen Söhne, sobald sie alt genug sind. Immerhin seien die vier Jungen Blutsverwandte.«
»Er sagte, es wäre eine echte Erholung für die ganze Region bis hinunter nach Revel, wenn Eric endlich beschäftigt wäre«, fügte Sissi hinzu. »Und wohl auch für die Mädchen der Umgebung …«
Die gespannte Aufmerksamkeit der Zuhörer löste sich in Gelächter.
»Jedenfalls wünscht sich hier wohl jeder, dass die Bengel von der Straße wegkommen«, sagte Vinzenz.
»Und vom See, wie ich höre.« Hotte sah sich entrüstet um. »Angeblich haben diese Rabauken sogar Dynamit eingesetzt, um frischen Fisch für das Bonace zu besorgen.«
Ein empörtes Raunen ging durch die Zuhörer, aber Lisette schüttelte leicht den Kopf. »Gewildert haben sie – aber nicht mit Dynamit.«
»Wie auch immer«, rief Rudi erbost. »Die Polizei sieht jedenfalls tatenlos zu.«
»Vielleicht kriegen die Gendarmen immer ihren Anteil von der Beute«, mutmaßte Blasko, was wieder allgemeine Heiterkeit auslöste.
Vinzenz hob die Hand. »Wir sollten uns nicht über Dinge echauffieren, die weder verifiziert werden können noch für unsere Nachforschungen relevant sind.«
Er sah eindringlich in die Runde, bis wieder Ruhe herrschte, und lächelte dann Lisette zu. »Wichtiger ist, wie der Junge geschildert wurde, der seit Mai 1987 vermisst wird. Er muss knapp achtzehn gewesen sein und – wie ich anmerken möchte – wohl recht naiv für sein Alter. Ein Jugendlicher, der die zweite Ehe seines Vaters nicht guthieß. Allerdings nicht, weil er ihm diese Liebe nicht gönnte oder seinen Vater nicht teilen wollte, nachdem sie jahrelang allein in einem Männerhaushalt gelebt hatten. Der Grund war vielmehr, dass der junge Mann selbst in jugendlicher Schwärmerei – in erster Liebe sozusagen – für die schöne Cateline entbrannt war, die viel jünger als sein Vater und kaum älter als er selbst war.«
Pippa spürte neben sich eine Bewegung: Lisette war bei Beringers letzten Worten leicht zusammengezuckt.
»Typisch – junge Frau und alter Mann«, grölte Schwätzer, »kennt man ja: Diese Kombination führt gerne zu Schwierigkeiten.«
Blasko Krabbe prustete, aber Bruno sah Achim Schwätzer strafend an, als Gerald Remmertshausen abrupt aufstand und im Küchenzelt verschwand. Tatjana verfolgte seinen Abgang mit undefinierbarem Gesichtsausdruck.
Jetzt hätte Gerald die Gelegenheit gehabt, den Beweis anzutreten, dass diese Konstellation sehr wohl klappen kann, dachte Pippa. Er hätte nur zu seiner jungen Frau stehen müssen.
»Ganz wie unser Achim, dem die Gefühle seiner Mitmenschen stets gleichgültig sind«, fuhr Vinzenz ruhig fort, »ging der junge Mann unverhohlen in Konkurrenz zu seinem Vater. Er versuchte Cateline davon zu überzeugen, dass er die bessere Wahl wäre, holte sich aber eine Abfuhr nach der anderen.«
»Und auch das wiederholt sich immer und immer wieder«, warf Hotte grinsend ein. »Nicht wahr, Achim?«
Schwätzer holte Luft, als wollte er heftig entgegnen, besann sich dann aber und schwieg.
Lisette sah wieder auf ihre Hände hinab, und Pippa schien es, als atmete sie kaum. Auch Vinzenz streifte Lisette mit einem mitfühlenden Blick und überlegte ganz offensichtlich, ob er weitererzählen sollte.
»In jedem Fall – Cateline hat nicht auf den jungen Didier gehört«, sagte er leise. »Sie hat, wie geplant, seinen Vater geheiratet. Man kann sich vorstellen, wie schwierig es für alle drei wurde, zusammen unter einem Dach zu leben.«
»So klein, wie das Haus ist, konnte man sich da bestimmt nicht aus dem Weg gehen.« Hotte schüttelte betroffen den Kopf.
»Genau.« Vinzenz nickte. »Deshalb hat der junge Mann auch darauf bestanden, auszuziehen.«
»Das hat man uns in der Bar-Pastis ebenfalls erzählt«, sagte Rudi. »Sein Vater weigerte sich aber, ihn finanziell zu unterstützen. Thierry Didier war der Meinung, dass sein Sohn, solange der sich keine eigene Wohnung leisten konnte, die Füße gefälligst unter den elterlichen Tisch zu stellen und bedingungslos zu gehorchen habe.«
Bruno seufzte schwer. »Diesen Satz gibt es also länderübergreifend. Meine Güte, ich fass es nicht.«
Vinzenz nickte wieder. »Diese Ohnmacht seinem Vater gegenüber hat den Jungen noch wütender werden lassen. Es muss in ihm gekocht haben.«
»Und dann ist der Kleene zu den Legrands ins Vent Fou gezogen, um seinem Vater zu beweisen, dass er sehr gut ohne seine Hilfe zurechtkommen kann«, warf Hotte ein. »Damit hat er die väterliche Autorität verhöhnt und Thierry vor dem ganzen Dorf bloßgestellt.«
»Thierry Didier fand, dass die Legrands ihm mit der Aufnahme des Jungen in den Rücken fielen. Er verlangte von ihnen, seinen Sohn zurückzuschicken. Madame Legrand und ihr Mann boten stattdessen an, weiter für den Jungen zu sorgen. Sie versprachen, ihm Haus und Campingplatz zu vererben, weil sie selber keine Kinder bekommen konnten, sich aber immer welche gewünscht haben.«
Ein beinahe unmerkliches Nicken von Lisette bestätigte Vinzenz’ Worte.
Zu Pippas Überraschung stand jetzt Tatjana leise auf. Sie nahm allerdings nicht den kurzen Weg über den Damm zurück zum Vent Fou, sondern wählte die deutlich längere Route um den See herum und durch den Wald.
Achim Schwätzer sah Tatjana einen Moment lang nach, holte dann rasch eine Jacke aus seinem Zelt und folgte ihr. Er erreichte sie noch vor der Wegbiegung und legte den Arm um sie, als wollte er sie trösten. Ohne dass Tatjana sich gegen seine Geste wehrte, verschwanden die beiden im Wald.
Pippa war von diesem Anblick so fasziniert, dass sie dem Gespräch im Lager erst wieder Aufmerksamkeit schenkte, als Vinzenz mit der Familiengeschichte der Didiers fortfuhr.
»Dann kam die Nacht, in der die Situation eskalierte. Thierry und Cateline hatten den Jungen zu einem Festessen eingeladen, denn die Legrands glaubten an Versöhnung und hatten dieses Treffen verlangt. Da der Junge sich nach Cateline sehnte, ging er hin.«
»Verhängnisvolle Entscheidung«, verkündete Bruno betrübt, »das haben wir auf dem Tennisplatz erfahren.«
»Stimmt leider«, sagte Vinzenz, »denn das glückliche Ehepaar wollte ihm nicht nur mitteilen, dass sie ihm vergeben hätten und ihm von jetzt an eine Wohnung zahlen würden, sondern auch, dass sie sich auf Nachwuchs freuten.«
Bruno machte ein bekümmertes Gesicht. »Für den Jungen musste es so aussehen, als würde ihn das neue Baby endgültig aus der Familie drängen.«
»Darüber, was dann geschah, gibt es nur wilde Gerüchte«, meldete Blasko sich zu Wort. »Es muss auf jeden Fall hoch hergegangen sein. Unsere Informanten mutmaßen, dass es zu einer Schlägerei kam, an der alle drei beteiligt waren: Thierry, Cateline und natürlich dieser Junge.«
Pippa riss der Geduldsfaden. »Dieser Junge … dieser Junge … der muss doch einen Namen gehabt haben! Sagt doch endlich mal seinen Namen!«
Lisette antwortete mit fester, aber trauriger Stimme: »Jean. Er hieß Jean Didier.«
Sie erhob sich steif von der Bank und ging langsam in Richtung Damm. Alle sahen ihr geschockt und stumm nach – irgendwie hatten sie vergessen, dass Lisette zu den Betroffenen gehörte.
Pippa sprang auf und folgte Lisette eilig. Als sie die elegante Dame eingeholt hatte, erkannte sie zum ersten Mal das Leid hinter dem Bedürfnis, die Vorkommnisse in der Rue Cassoulet aufzuklären. Behutsam legte sie ihr den Arm um die Schultern, wie es zuvor Achim bei Tatjana getan hatte. Bei der Berührung begann Lisette sofort zu weinen.
Ich ermittle nicht in einem fiktiven Geheimnis, dachte Pippa erschrocken, hier geht es um echte Menschen. Das ist kein Spiel.