Kapitel 29

Pippa stand vor der Schwingtür zur Restaurantküche des Vent Fou und atmete langsam ein und aus.

Jetzt bist du reif, Pascal, dachte sie, aber vorher muss ich ruhig werden. Einatmen, ausatmen …

Durch das Bullauge in der Tür sah sie die gesamte Brigade auf Hochtouren arbeiten; auch Lisette und Ferdinand halfen mit. Alles musste vorbereitet sein, wenn der Sturm über den Ort hereinbrach. Wie ein Dirigent seinen Taktstock schwang Pascal einen Kochlöffel und delegierte die Aufgaben, die von seinen Helfern mit einem im Chor gebrüllten »Oui, Chef!« in die Tat umgesetzt wurden. Dann ging der Koch an den Herd und nahm den Deckel von einem Topf, dessen Rand ihm bis zur Brust reichte. Eine große Dampfwolke stieg auf.

Jetzt oder nie, dachte Pippa, gab sich einen Ruck und stieß die Tür auf.

Pascal fuhr herum. Er lächelte erfreut, als er Pippa sah, aber dann setzte er ein gespielt strenges Gesicht auf. »Ah – du kommst, um mir zum Verlust meines treuen Citroën HY zu kondolieren. Wirklich mutig. Dann kannst du auch gleich die Brühe kosten. Du musst später ohnehin helfen, die Suppe zu verteilen.«

Pippa gab keine Antwort. Sie ging auf Pascal zu und blieb dicht vor ihm stehen. In der Küche wurde es still, niemand arbeitete mehr. Die Küchenhelfer stießen sich grinsend an, Lisette und Ferdinand spitzten die Ohren. Pippa sah Pascal direkt in die Augen und sagte, unhörbar für die anderen: »Wo ist Jean-Alexandre Didier?«

Pascal beugte sich ungerührt wieder über den Topf, streute Curry hinein, rührte um und antwortete schließlich achselzuckend: »Woher soll ich das wissen?«

Pippas Stimme war ruhig. »Und Jan-Alex Weber? Wo ist der?« Für einen winzigen Augenblick erstarrte Pascal, fasste sich wieder, nahm eine riesige Pfanne vom Haken und stellte sie mit einem Knall auf den Herd.

»Wer soll das sein?«, fragte er, ohne sie anzusehen.

»Sag du’s mir!«, schoss Pippa zurück.

Pascal reagierte nicht.

»Wenn du es mir sagst, weiß ich, dass es für diese ganze Scharade einen harmlosen Grund gibt«, sagte Pippa gefährlich leise, »wenn nicht, landet ihr beide auf meiner Verdächtigenliste zum Tode von Franz Teschke. Dann muss ich davon ausgehen, dass er sterben musste, weil er mir oder Cateline etwas Wichtiges hätte verraten können.«

Pascal wandte sich zu seinen Leuten um und brüllte: »Raus hier! Alle raus hier – aber sofort! Und keiner kommt wieder, bevor ich rufe!«

Alle zogen Töpfe vom Herd oder ließen ihre Arbeit liegen und stehen. Ferdinand machte den Versuch, etwas zu sagen, aber Pascal deutete nur wortlos zur Tür.

Pippa vergewisserte sich mit einem Blick, dass alle die Küche verlassen hatten.

»Also, wo ist er?«

Pascal seufzte. »Appartement 2.«

»Dachte ich’s doch. Tisserands Wohnung – oder besser Jean-Alexandre Didiers Wohnung?«

Pascal sah Pippa vorsichtig an, während weiter Currypulver in den Topf rieselte.

»Gib es endlich zu, Pascal: Du warst nicht in Berlin, um mich einschätzen zu lernen oder aus der Ferne zu bewundern, wie du behauptet hast. Du hast dich mit Jan Weber getroffen, um diese Maskerade zu besprechen.«

Pascal zuckte zusammen und starrte entsetzt auf das Gewürz in seiner Hand. »Verdammt! Zu viel Curry!«, zischte er und griff zur Kochsahne, die er großzügig in die Suppe gab, um den allzu asiatischen Einschlag wieder zu neutralisieren.

»Ja und nein«, sagte er dann, »er sollte eben auch mit dir einverstanden sein.«

Das wird ja immer schöner, dachte Pippa. »Und? War der gnädige Herr einverstanden

Pascal nickte vehement. »Er war begeistert! Und er wollte unbedingt dabei sein, wenn ich dich endlich kennenlerne.«

Ferdinand steckte seinen Kopf zur Tür herein.

»Raus hat er gesagt«, fauchte Pippa, und Ferdinand verschwand eilig wieder.

Pascal probierte die Brühe und verzog das Gesicht. »Auf ein Neues«, murmelte er, ging mit dem Topf zum Ausguss und leerte ihn aus. Er spülte den Topf und stellte ihn zurück auf den Herd, dann gab er Gemüse hinein und schwitzte es an. Nach ein paar Minuten goss er Wasser und Wein dazu, verschloss den Topf mit einem Deckel und drehte sich wieder zu ihr um. Vorsichtig forschte er in ihrem Gesicht nach einem Stimmungswechsel.

Netter Versuch, Zeit zu schinden und mich abzulenken, Pascal, dachte Pippa, klappt aber nicht.

»Wenn du glaubst, dass ich dir die Geschichte abnehme, bist du schiefgewickelt«, sagte Pippa unerbittlich.

Pascal wandte den Blick ab und seufzte. »Tust du nicht?«

»Welches Interesse sollte Jan-Alex Weber haben, wen du heiratest, es sei denn … Moment!«

Sie ging raschen Schrittes zur Schwingtür und stieß sie auf. Ein Pulk von Leuten sprang erschrocken zurück: Nicht nur die halbe Küchenbrigade samt der Legrands hatte sich zum Lauschen versammelt, auch Wolfgang Schmidt und ein paar andere Kiemenkerle blickten sie neugierig an.

»Seid ihr euch endlich einig?«, fragte Ferdinand neugierig. »Wird das jetzt was mit euch beiden?«

Pippa nahm keine Notiz von ihm, sondern winkte Lisette heran. »Steht Jean-Alexandre Didier immer noch als Erbe in eurem Testament?«

Lisette nickte erstaunt. »Ja – warum fragst du? Wir waren einfach noch nicht bereit …«

»Wann wolltet ihr das ändern?«

»Wenn Pascal heiratet. Als Hochzeitsgeschenk sozusagen.«

»Großartige Idee, wirklich.« Pippa entdeckte Vinzenz unter den Umstehenden. Sie zeigte auf ihn und sagte: »Du kommst auch noch dran, verlass dich drauf. Denk dir schon mal eine einleuchtende Erklärung aus, warum du in der Sache drinhängst.«

Sie drehte sich um und ging wütend zurück in die Küche. Von ihrem Schwung pendelten die Schwingtüren heftig, bevor sie wieder zum Stillstand kamen.

»Jetzt verstehe ich endlich«, knurrte Pippa, »ich sollte dabei helfen, dir das Vent Fou zu sichern. Nach einer gewissen Schonzeit hättet ihr mich rausgekickt – und die Legrands wahrscheinlich gleich mit, damit ihr euer schönes, warmes Nest ganz für euch habt. Ich war nichts als eine passende Spielfigur. Habt ihr Wetten darauf abgeschlossen, wer die gutgläubige Pippa am gründlichsten reinlegt? Wie hoch sind denn die Quoten bei Tibor?« Wütend schlug sie auf den Arbeitstisch.

Pascal hob abwehrend die Hände. »So war es nicht, wirklich nicht!«

»Ach nein? Wie war es denn? Jean und du, ihr hattet ja in langen Nächten im Knast genug Zeit, alles haarklein auszutüfteln. Erzähl doch mal.«

»Was meinst du?«, fragte er ehrlich verblüfft. »Woher weißt du …«

»… dass du im Gefängnis gesessen hast? Tja, mein Lieber, ihr habt das Monopol auf Kabale und Liebe eben nicht gepachtet. Also – raus mit der Sprache: Weshalb warst du im Knast? Hochstapelei? Gebrochene Eheversprechen? Schmuggelei? Kunsthandel?«

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Du überschätzt meine kriminelle Energie.«

»Ach ja?« Pippa ärgerte sich, dass er ihre Anschuldigungen überaus komisch zu finden schien.

»Ich war dort, was ich auch hier bin: Koch!«, sagte er in einem Tonfall, als spräche er mit einem Kind.

»Wie bitte?«

»Ich habe die Gefängnisküche geleitet, Pippa! Oder glaubst du, die Insassen bekommen jeden Tag zerkochte Bohnen im Blechnapf vorgesetzt?«

Pippa war einen Moment lang zu perplex, um zu reagieren, dann lachte sie laut.

Von beiden unbemerkt hatte Jan Weber alias Alexandre Tisserand die Küche betreten. Jetzt stellte er sich neben seinen Freund.

»Pascal hat mir sehr geholfen«, sagte er und schlug dem Koch freundschaftlich auf die Schulter. »Mir ging es im Gefängnis nicht gerade gut. Ich war schlicht nicht die übliche Klientel dieser Anstalt und hatte mit einigen meiner … Kollegen ziemliche Probleme. Die haben mir ordentlich zugesetzt. Ich wäre untergegangen. Das wurde erst anders, als Pascal mich in die Gefängnisküche holte. Ich hatte endlich eine sinnvolle Aufgabe und fand in Pascal einen echten Freund. Er half mir, wegen guter Führung vorzeitig freizukommen. Danach sind wir zusammen nach Berlin, haben unser Wissen und unser Geld zusammengelegt und den Weinhandel eröffnet. Pascal hat mir nichts weniger als das Leben gerettet.«

»So viel zur deutschen Ehefrau und deiner Vorliebe für die schöne deutsche Sprache, Monsieur Tisserand«, ätzte Pippa. »Übrigens – wie soll ich dich denn ab jetzt nennen? Jan? Alexandre? Jean? Lügner

»Jean ist mir recht«, erwiderte er und lächelte.

»Heimweh ist mächtig. Deshalb sind wir immer häufiger hierhergefahren«, erzählte Pascal weiter. »Zuerst haben wir vorsichtshalber weiter weg gewohnt, aus Angst, dass jemand Jean erkennt.«

»Aber mehr als zwanzig Jahre sind eine lange Zeit«, übernahm Jean wieder, »besonders, wenn man als unfertiger Teenager weggegangen ist. Ich sehnte mich nach Chantilly und dem See. Wir wurden immer mutiger – und niemand hat mich je erkannt.«

Pippa war entschlossen, sich nicht weichklopfen zu lassen. »Mir kommen die Tränen. Wirklich rührend. Und trotzdem hat es euch nicht gereicht, im Paradies zu wohnen und dort paradiesisch glücklich zu sein. Nein, ihr musstet unbedingt mich da mit reinziehen. Dafür gibt es keine Entschuldigung – aber ich will wenigstens eine Erklärung.«

»Erst lief ja alles super«, sagte Pascal. »Ich bekam den Job im Vent Fou, und wir planten, über die nächsten Jahre hin eine behutsame Annäherung zu versuchen. Aber plötzlich entschieden Lisette und Ferdinand, sich schon in diesem Jahr aus dem Geschäft zurückzuziehen. Und sie hatten eine Bedingung für die Übergabe an mich.«

»Dass du eine Partnerin findest, die dir im Vent Fou hilft«, warf Pippa ein.

»Sie sind eine andere Generation – sie glauben, es gibt keinen anderen Weg als mit einer Frau an meiner Seite.« Pascal nickte unglücklich. »Dann verkauften sie auch noch das Haus in der Rue Cassoulet an die Peschmanns. Für uns wurde die Zeit plötzlich knapp, und Pia Peschmann erzählte immer so viel von ihren Berliner Freunden und besonders von dir.«

»Und da hattest du den glorreichen Einfall, mich für eure Pläne einzuspannen.«

Pascal schüttelte vehement den Kopf. »Nein. Das war nicht ich.«

Pippa blickte zu Jean. Der zuckte mit den Schultern und sagte: »Das war Régine.«

»Waaaaas? Die vom Paradies? Régine-Deux?« Pippa runzelte die Stirn. »Wer noch? Wer hat mich noch bei meinen Ermittlungen unterstützt und wusste die ganze Zeit Bescheid?«

»Vinzenz«, gestand Pascal und trat vorsichtshalber einen Schritt zur Seite.

Pippa schloss für einen Moment ergeben die Augen und befahl: »Hol ihn rein.«

Jean ging eilig hinaus und kehrte Sekunden später mit Vinzenz Beringer im Schlepptau zurück.

Pippa verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Vinzenz von oben bis unten. »Ich muss dich wohl nicht mehr fragen, woher du dein fundiertes Wissen über Jean Didier hattest. Ich bin enttäuscht. Von dir hätte ich am allerwenigsten erwartet, dass du dich an einer derartigen Schmierenkomödie beteiligst.«

»Bitte um Entschuldigung.« Vinzenz verbeugte sich. »Aber ich war wirklich überzeugt, dass wir auf diese Weise zwischen den Didiers und den Legrands endlich Frieden stiften können. Fünfundzwanzig Jahre Feindschaft und Groll sind genug.«

Gegen ihren Willen musste Pippa zugeben, dass alle sich sehr für Jean eingesetzt hatten. »Du kannst stolz sein, Jean«, sagte sie, »du hast ein paar echte Freunde.«

»Ohne sie hätte ich es nie gewagt«, erwiderte dieser strahlend.

»Aber wieso habe ich so lange gebraucht, euch auf die Schliche zu kommen?«, fragte Pippa kopfschüttelnd.

Vinzenz lächelte. »Es ist die uralte Grundregel des Spiels: Alle glauben die Lüge – keiner glaubt die Wahrheit.«

Genau, dachte Pippa, wie bei Tatjana. Und auch der Lehrer in der Galerie hat zu seinen Schülern Ähnliches gesagt.

Sie nickte langsam. »Dennoch: Hattet ihr keine Angst, dass man auf die Namensgleichheiten aufmerksam wird? Jean-Alexandre Didier, Jan-Alex Weber, Alexandre Tisserand. Wie sollte das auf die Dauer gutgehen?«

»Die Idee verdanken wir unserem Sprachwissenschaftler«, sagte Jean und zeigte auf Vinzenz. »Die Namen dienten meinem Schutz: Er sagte, ich würde weniger Fehler machen, je mehr Ähnlichkeiten vorhanden sind.«

»Ganz gleich, ob ihn jemand Jan oder Jean, Alexandre oder Alex rief – er konnte immer gefahrlos reagieren«, erklärte Vinzenz. »Er hätte glaubhaft versichern können, sich verhört zu haben.«

»Jetzt verstehe ich, warum du am Abend im Lager so viel mehr zu berichten wusstest als Sissi. Aber dein Bericht hatte entscheidende Lücken. Du hast uns nicht die ganze Wahrheit gesagt. Du hast nicht erwähnt, dass Lisette und Ferdinand mit auf dem verhängnisvollen Treffen waren.«

»Sagen wir: Ich habe nicht die ganze Wahrheit verraten«, gab Vinzenz zu.

»Leg dich nie mit einem Sprachwissenschaftler an!« Jean Didier lächelte.

»Was ist das? Ein schmissiger Werbeslogan für eine verkannte Wissenschaft?« Pippa war wider Willen beeindruckt von den drei Männern, die sich so viel Mühe gegeben hatten, schlechte Vergangenheit in gute Zukunft zu verwandeln. Aber sie wollte sich noch nicht geschlagen geben.

In diesem Moment platzte Wolfgang Schmidt in die Küche und stutzte. »Sieh da – unser Undercover-Kiemenkerl«, sagte er zu Tisserand. Dann wandte er sich Pascal zu und verkündete: »Gendarm Dupont fragt nach der Gulaschkanone für die Sturmhelfer!« Er lehnte sich mit der Hüfte an die Arbeitsplatte und naschte vom geschnittenen Gemüse.

Pascal riss den Deckel vom Suppentopf und fluchte. »Verdammt, das habe ich völlig vergessen. Ich muss mich beeilen. Kannst du mir helfen, Pippa? Packst du schon mal das Brot zusammen?«

»Ich wüsste jemanden, der dir helfen kann: die Didiers«, sagte Pippa ernst. »Lass sie endlich holen, dann kannst du ihnen auch gleich deinen Kumpel vorstellen.«

Jean Didier keuchte entsetzt. »Bist du wahnsinnig?«

»Auch nicht wahnsinniger als eure Maskerade und euer dämlicher Plan – den Franz Teschke ja offenbar durchschaut hat«, konterte Pippa gelassen.

Vinzenz, Pascal und Jean stöhnten unisono auf.

»Es ist wirklich ironisch«, sagte Jean dann, »da will ich zum fünfundzwanzigsten Jahrestag meines unrühmlichen Verschwindens endlich alles wieder ins Lot bringen – und mache alles nur noch schlimmer.«

»Wie bitte?«, unterbrach Schmidt. »Du bist auch Jean Didier? Ich fasse es nicht. Jetzt fehlt nur noch, dass ihr drei Teschke auf dem Gewissen habt.«

»Natürlich nicht«, gab Jean ärgerlich zurück. »Also wirklich, Wolle!«

Vinzenz hob die Hand. »Immer mit der Ruhe. Hier geht es um mehr als unsere persönlichen Befindlichkeiten. Ein Mensch ist gewaltsam gestorben, und das muss aufgeklärt werden. Möglichst ohne dass Unschuldige verleumdet werden oder darunter leiden müssen. Deshalb werden wir alle Fragen dazu wahrheitsgemäß beantworten.«

Schmidt räusperte sich. »Also Klartext, bitte. Habt ihr Teschke auf dem Gewissen, weil er euch auf die Schliche gekommen ist? Hat er die Maskerade durchschaut und gedroht, euch zu verraten? Was habt ihr mit Teschkes Tod zu tun?«

»Mit Teschkes Tod gar nichts«, sagte Jean, »aber wir haben mit seiner unstillbaren Gier nach teurem Angelzeug und seiner kreativen Suche nach Geldquellen Bekanntschaft gemacht.«

»Er hat Geld dafür verlangt, dass er sich aus Pippas Recherchen wegen Jean heraushält«, erklärte Vinzenz. »An dem Abend, als wir uns alle im Lager getroffen haben, um die Ergebnisse unserer Ermittlungen auszutauschen, haben wir ihn zum Angeln geschickt.«

»Wir wollten verhindern, dass er sich verplappert«, fügte Jean hinzu, »denn das hätte er garantiert getan. Sein Schweigen hat uns einiges gekostet.«

»Ihr habt euch erpressen lassen, obwohl ihr ohnehin vorhattet, alles aufzudecken?«, fragte Pippa erstaunt.

»Aber es war doch noch viel zu früh!«, rief Pascal. »Erst sollten die Didiers und die Legrands Jean kennenlernen – aber noch nicht als Jean! Er sollte sich ihnen erst später offenbaren, wenn sie ihn genug mögen, um ihm nicht mehr böse zu sein. Régine vom Paradies hatte einen genauen Zeitplan ausgetüftelt, immer einen kleinen Schritt nach dem anderen – und es war noch nicht so weit. Régine hätte genau gewusst, wann die Zeit reif war.«

»Zweifellos«, sagte Pippa trocken.

»Aber selbst ich war mit Blindheit geschlagen, Jan … Jean.« Schmidt schüttelte den Kopf. »Wieso hat ausgerechnet Teschke dich erkannt?«

»Hat er ja nicht«, jammerte Pascal, »er hat einfach gut kombiniert.«

»Mir ist ein idiotischer Fehler unterlaufen«, gestand Jean, »ich habe bei Tibor einen Wettschein gekauft und mit Weber unterzeichnet.«

Die Wettscheine haben nicht nur die Jungs reingerissen, dachte Pippa, immerhin habe ich mit ihrer Hilfe Teschke als Erpresser entlarvt.

»An die sprachlichen Fallstricke haben wir gedacht«, sagte Vinzenz, »aber nicht an die Macht der Gewohnheit beim Unterschreiben.«

»Und wie viel hat euch das gekostet?«, fragte Pippa.

»Tausend Euro«, stieß Pascal hervor.

»Tausend Euro? Das geht ja noch.« Da gab es schon ganz andere Summen, dachte Pippa.

»Von jedem, von Jean, Vinzenz und mir«, grollte Pascal. »Der alte Mann hat eins und eins zusammengezählt und mir auf den Kopf zugesagt, dass ich mit von der Partie bin.«

»Dreitausend Euro also«, kommentierte Schmidt, »ganz schön happig für ein paar Tage Klappe halten.«

»So teuer war es nun auch wieder nicht.« Vinzenz zuckte mit den Achseln. »Schließlich hat Teschke mich Monat für Monat angebettelt. Ich hatte mir vorgenommen, anschließend einige Monate lang mit meinen milden Gaben auszusetzen.«

Den erschüttert wirklich gar nichts, dachte Pippa.

»Unter diesem Aspekt müsste die Erpressung doch gerade dich unglaublich geärgert haben, Vinzenz«, sagte Schmidt.

Dieser schüttelte den Kopf. »Nein – mir war klar, dass Franz einmal in seinem Leben das Gefühl von Macht haben wollte.«

»Und wenn er sich nicht mit dieser Summe zufriedengegeben hätte und immer wieder angekommen wäre?«, fragte Schmidt. »Oder euch trotzdem verraten hätte? An jemanden, der mehr zahlt?«

»Und genau das hatte er vor!«, rief Pippa.

»Was?«, riefen die Männer im Chor.

Pippa berichtete von dem anonymen Schreiben, das Cateline von Teschke bekommen hatte, und auch, dass sie am Donnerstag auf dem Parkplatz am Damm vergeblich auf ihn gewartet hatte.

Jean schüttelte den Kopf, und Pascal zischte: »Diese kleine Ratte!«

»An dem Tag hat er unser Schweigegeld kassiert«, sagte Vinzenz, und Jean fügte hinzu: »Und ist sofort nach Revel in den Angelladen gefahren.«

»Und hat bei der Gelegenheit Cateline den anonymen Brief in die Einkaufstasche geschmuggelt«, mutmaßte Pippa.

Pascal verdrehte die Augen. »Und wir dachten, in Revel kann er wenigstens kein Unheil anrichten. Hier in Chantilly konnten wir Teschke nämlich ständig unter Beobachtung halten. Vinzenz hatte ihn im Lager unter Kontrolle, Jean und ich kümmerten uns abwechselnd um den Rest.«

Vinzenz warf Jean einen auffordernden Blick zu. Dieser nickte und sagte: »Apropos, wir müssen dir etwas beichten, Pippa. Von deinem Zimmerfenster aus hat man den besten Blick über den gesamten See. Dein Fernglas ist wirklich gut. Hohe Dämmerungsleistung. Ideal für die Jagd.«

»Ihr wart das!«, rief Pippa. Und irgendwann habt ihr mir dabei die Einladung nach Toulouse in die Mappe gelegt, dachte sie, eigentlich ganz nett von euch.

Fast schon versöhnt sah sie Jean und Pascal an. »Dann tut es mir leid, dass ich nicht um 14 Uhr im Le Florida war – das war eine schöne Geste. Danke.«

Die beiden Männer wechselten einen irritierten Blick. »Wovon sprichst du?«

Auf Pippas Erklärung hin versicherten beide glaubhaft, nicht die Urheber der Einladung nach Toulouse gewesen zu sein.

»Aber ich hätte diese Idee gern gehabt«, sagte Jean.

»Darf ich das irgendwann nachholen?«, fragte Pascal hoffnungsvoll. »Du bist ja noch eine Weile hier.«

»Ich bitte sogar darum. Wir drei gehen zusammen aus, und ihr ladet mich ein – als Wiedergutmachung für eure Pläne mit mir.«

Dann stutzte Pippa. »Moment mal. Ich habe eure Besuche doch erst in der Nacht bemerkt, als Teschke schon tot war. Was habt ihr denn danach beobachtet?«

Pascal und Jean erröteten. Dann murmelte Jean: »Wassernixen.«

Pippa wusste nicht, ob sie lachen oder schimpfen sollte. »Ihr seid wie die Chaotenbande der Didiers. Hinter allem Blödsinn, den ihr fabriziert, steckt immer der beste Wille. Frei nach dem Motto: Moralisch ist, wonach man sich gut fühlt. Unmoralisch ist, wonach man sich schlecht fühlt

»Lass mich raten – Hemingway«, kommentierte Schmidt.

»Recht hat der Mann.« Vinzenz stieß Jean an. »Und du geh dich endlich rasieren und nimm die Perücke ab. Du bist mir mit langen Haaren einfach zu attraktiv.« Er fuhr sich mit der Hand über seine Glatze. »Und hör auf mit dem grässlichen Akzent. Ab sofort bist du wieder Jean Didier.«

Die Küchentür schwang auf, und Pierre Dupont kam herein.

»Hast du mich vergessen, Pascal? Ich brauche die Gulaschkanone! Das Wetteramt hat den Autan hochgestuft. Heute Nacht wird er hier Windstärke 12 erreichen.« Er machte eine dramatische Pause. »Venturi-Effekt«, fügte er hinzu, als wäre damit alles erklärt.

Er blickte auf seine Armbanduhr. »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, bis es losgeht. Höchstens noch zwei Stunden. Das Camp muss ganz abgebaut werden, sonst werden die Zelte zu fliegenden Teppichen. Und holt den Bus vom Waldparkplatz.« Er nickte Pascal zu. »Euer Haus und das Bonace wurden zu offiziellen Notunterkünften erklärt. Richte dich darauf ein, dass es voll wird.«

Pascal wurde umgehend aktiv. »Wir holen auch die Notbetten vom Speicher. Jean und Vinzenz, ihr helft dabei. Schmidt und Pippa – ihr sagt den Kiemenkerlen Bescheid.«

Pierre Dupont nickte Schmidt bestätigend zu. »Jetzt.«

»Die ideale Aufgabe für uns«, sagte Pippa zu Schmidt, als sie die Küche verließen, »unsere Mission ist schließlich noch nicht zu Ende.«

»Was meinst du?« Schmidt sah sie genervt an.

»Ich glaube ohne weiteres, dass Jean, Pascal und Vinzenz sich in Sicherheit glaubten und deshalb kein Motiv hatten, Teschke zu ermorden. Aber wer war es dann?«

Tote Fische beißen nicht: Ein neuer Fall für Pippa Bolle
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