Kapitel 19

Schmidt nahm Pippas Arm und zog sie erneut von der Gruppe weg.

Als sie außer Hörweite waren, sagte er leise: »Das ist eine reichlich gewagte These, meine Liebe. Und eine ungeheure Anschuldigung. Wie bist du darauf gekommen?«

Pippa erzählte ihm von der Notausgangtür, aber Schmidt blieb skeptisch.

»Nur wegen dieser zufälligen Parallelität?«

Pippa verschränkte die Arme vor der Brust und fragte angriffslustig: »Du bist also ganz sicher, dass Franz Teschkes Tod lediglich ein Unfall war?«

»Das ist es ja, Pippa …«, Schmidt seufzte, »wenn du in der Nähe bist, habe ich da meine Zweifel.«

»He, ihr zwei!«, rief Hotte. »Was ist denn jetzt – seid ihr nur zum Turteln hier, oder wollt ihr auch angeln?«

Die übrigen Kiemenkerle hatten sich jetzt ebenfalls bei Alexandre Tisserand eingefunden und sahen neugierig zu ihnen herüber.

»Tisserand will uns etwas über die Gegend hier und das Forellenangeln erzählen«, erklärte Lothar. »Wir warten nur noch auf euch.«

»Wir kommen sofort, Moment noch!«, antwortete Schmidt und sagte dann leise zu Pippa: »Wir treffen uns heute nach dem Abendessen in deiner Wohnung und sprechen alles noch einmal durch, okay? Je weniger Aufsehen wir jetzt erregen, desto besser.«

Er grinste spitzbübisch und legte demonstrativ den Arm um sie. »Obendrein beflügeln wir damit die romantischen Phantasien der Kiemenkerle … jedenfalls derer, die dich nicht vor mir retten wollen.«

Pippa musste lachen. »Genau so machen wir es. Und du hast natürlich recht – von Mord zu sprechen hat schwerwiegende Konsequenzen. Vorher sollten wir noch einmal an der Notausgangtür probieren, ob und wie das Holzstück auch nach außen gedrückt werden kann.«

»Kommt gar nicht in Frage, meine Liebe: Ich mache Versuche mit der Kühlwagentür, und du erfährst das Ergebnis. Und ich sehe mir auch den Voodoozauber an. Höchstpersönlich und allein. Das ist alles nichts für Amateure.«

Pippa sah in sein Gesicht und stellte erfreut fest, dass der lockere Kommissar, den sie auf Schreberwerder kennen und schätzen gelernt hatte, zurückgekehrt war. Wie gut, dass die Fronten zwischen uns geklärt sind und wir wieder entspannt miteinander umgehen können, dachte sie erleichtert.

»Wenn du schon den Kommissar heraushängen lässt, ist es auch deine Aufgabe, Pascal über seine Fanwand zu informieren«, sagte sie. »Und bevor du bei den Didiers ein Donnerwetter loslässt, denk kurz darüber nach, was hier wirklich wichtig ist. Doch wohl Franz, oder?«

»Verstehe – du willst nicht, dass die Jungs bestraft werden. Guter Plan. Damit werden sie sich bestätigt fühlen und noch viele weitere dieser Streiche aushecken.«

»Eins musst du doch zugeben: Die Streiche sind zwar nicht immer puppenlustig, aber sie entbehren nicht einer gewissen Kreativität. Das gefällt mir.«

»Du willst also den ganzen Kram einfach abnehmen und die Kellerasseln wieder sich selbst überlassen?«, fragte er kopfschüttelnd.

»Versuch doch zu verstehen, was dahintersteckt«, sagte Pippa. »Versetze dich mal in die Lage der Jungs: Sie wohnen zwar in Chantilly, aber die Familie war nie wirklich Teil des Dorfes. Und warum nicht? Weil alle sich noch an Jean erinnern – und an sein Verschwinden. Seit Jahren kämpfen die Jungs mit ihren Streichen gegen dieses Phantom an, sie wollen endlich wahrgenommen werden. Es ist eine Flucht nach vorn, mit der sie ständig das Gegenteil erreichen, denn die allgemeine Aufmerksamkeit richtet sich nicht auf sie, sondern auf ihre verzweifelten Streiche … und auf Pascal, den neuen Liebling der Legrands.« Sie lächelte und fuhr fort: »Und natürlich jetzt auch auf mich, als Ergänzung ihrer Heile-Welt-Pläne für Pascal. Da haben die Jungs eben gehofft, der Voodoozauber bringt wenigstens den Zustand vor unserem Auftauchen wieder zurück.«

»Ich kann kaum glauben, was ich höre: Pippa im Weichspülgang«, gab Schmidt unbeeindruckt zurück. »Du hast eindeutig zu viel Zeit mit Bruno verbracht.«

Sie gesellten sich zu den anderen. Hotte sagte gerade: »Ich weiß nicht, mir macht das Angeln gar keinen richtigen Spaß mehr, seit Franz … Für keinen von uns ist das Angeln so sehr Passion wie für ihn … Er war unser Motor.«

Schmidt nickte. »Er hat uns alle angetrieben. Und mitgerissen. Für ihn war Angeln wie Atmen.«

»Nee, so automatisch nun doch nicht«, warf Bruno ein. »Er hat es richtig genossen … so richtig, versteht ihr? Eher wie … wie …«

»Sex, mein Lieber, ist das Wort, das du suchst«, sagte Achim Schwätzer, »aber das kommt in deinem Friede-Freude-Eierkuchen-Hirn ja nicht vor. Ihr seid in dieser Hinsicht alle eher unterbelichtet. Da muss ich bei einigen fast mithelfen. Ist wohl das Alter, nicht wahr, Gerald? Aber keine Angst, ich biete mich immer gerne als Ersatz an – und in deinem Fall bin ich ganz besonders gern zu Diensten.«

Gerald Remmertshausen machte einen langen Schritt hinüber zum Unterstand, riss die Grillzange vom Rost und ging drohend auf Schwätzer zu. Obwohl er die glühend heiße Zange direkt vor Schwätzers Gesicht hielt, wich dieser keinen Millimeter zurück. Die Umstehenden sahen atemlos zu, aber niemand griff ein.

»Ich warne dich, Achim«, zischte Remmertshausen drohend, »treib es nicht zu weit.«

Achim Schwätzer zuckte nicht mit der Wimper, sondern beantwortete die Drohung mit einem mokanten Lächeln.

Remmertshausen rang sichtlich um Fassung. Schließlich ließ er die Grillzange ins Gras fallen, drehte sich ohne ein weiteres Wort um und stapfte wütend davon.

»Bleib doch hier, Gerald«, rief Bruno hinter ihm her, »du weißt doch, wie er ist! Du weißt doch, wie Achim ist …«

Aber Remmertshausen reagierte nicht, sondern schlug den Weg in Richtung Chantilly ein und verschwand hinter einer Wegbiegung.

»Er weiß doch, wie Achim ist …«, murmelte Bruno noch einmal betrübt.

»Eben«, sagte Achim Schwätzer und warf einen beredten Blick auf Sissi, »und die Damen wissen es auch … früher oder später …«

»Du lässt deine Dreckspfoten von meiner Frau!«, schrie Lothar Edelmuth unbeherrscht, bevor Sissi ihn stoppen konnte.

»Lothar hat Angst um die Einzige, die sich je nach ihm umgedreht hat«, stänkerte Schwätzer unbeirrt weiter, »und jede Menge Angst vor dem direkten Vergleich, nehme ich an. Kann man ja verstehen.«

Lothar riss sich von Sissi los und machte einen Satz auf Schwätzer zu, der auch diesmal nicht zurückwich.

»Sieh an, Lothar Edelmuth verliert seinen Edelmut …« Achim Schwätzer kicherte anzüglich. »Du solltest dir stattdessen ein Beispiel an deinem Namensvetter nehmen, Lothar … oder bist du auch kein guter Fußballspieler?«

Lothar holte aus, um zuzuschlagen, aber Wolfgang Schmidt drängte sich schnell zwischen die beiden. »Es reicht jetzt, Achim«, fuhr er Schwätzer an, »es reicht schon lange. Pass auf, dass du den Mund nicht voller nimmst, als du auch schlucken kannst, hörst du?«

Achim Schwätzer schnaubte ärgerlich.

Es ist, als hätte er eine Schlägerei mit Lothar geradezu herbeigesehnt, dachte Pippa, so als müsste er nach der Konfrontation mit Gerald unbedingt Dampf ablassen …

»Mach dir um die Größe meines Mundes mal keine Sorgen, Wolfgang«, fauchte Schwätzer. »Was ich will, das kriege ich auch. Ich nehme mir, was ich brauche.«

Pippa riss der Geduldsfaden. Sie hatte die Nase voll von Imponiergehabe, dummen Sprüchen und zweideutigem Gerede.

»Ach wirklich, tust du das?«, sagte sie eisig zu Achim Schwätzer. »Und wenn es nicht klappt? Wird die Frau dann einfach als uninteressant oder als Niete eingestuft?«

Schwätzers Lippen wurden schmal. »Höre ich Eifersucht? Habe ich dich bisher nicht genug beachtet? Ist Wolle zu selten zu Hause?«

Ehe sie reagieren konnte, ließ Schwätzer seine Angel fallen, legte Pippa den Arm um die Taille und zog sie an sich. Mit der freien Hand zog er ihr die Schiebermütze vom Kopf, und ihre roten Locken fluteten über ihre Schultern. Pippa wand sich in seinem Griff, aber er hielt sie fest.

»Rotes Haar – das hätte ich auch versteckt«, höhnte Schwätzer, »aber immerhin: Ihr sollt gute Liebhaberinnen sein … leidenschaftlich.«

»Und wie!«, schrie Pippa, befreite sich mit einem Ruck und schlug ihm mitten ins Gesicht.

Schwätzer fuhr überrascht zurück und presste eine Hand an seine knallrote Wange. Die umstehenden Männer, die schon Anstalten gemacht hatten, Pippa zu Hilfe zu eilen, lachten und applaudierten ihr, was Schwätzer nur noch wütender machte.

»Du blödes, fettes Nilpferd!«, brüllte er, völlig außer sich. »Du hältst dich wohl für etwas Besonderes! Und dabei bist du bei allen Männern immer nur die Nummer zwei, weil sie die Nummer eins nicht haben können – die gehört nämlich mir!«

Er redet von Tatjana, dachte Pippa und spürte sofort das Bedürfnis, diese zu verteidigen. »Was zu beweisen wäre«, schoss sie zurück. »Ich glaube viel eher, sie hat dich in der Hand.« Sie pustete über ihre leere Handfläche. »… und sie kann dich so leicht wegblasen.«

Schwätzer erstarrte und wurde blass. Seine Stimme klang unsicher, als er schließlich sagte: »Ach ja? Du und sie – ihr seid wohl neuerdings Beichtschwestern? Erzählt euch alles, was? Passt bloß auf, dass ihr euch nicht in die eigene Tasche lügt mit eurem Weibergeschwätz. Ich habe gleich gesagt: die Frauen und die Zahl Dreizehn werden wir noch bereuen.«

»Das habe ich gesagt! Das ist mein Satz!«, beschwerte Bruno sich empört.

»Typisch Achim – reagiert absolut humorlos, wenn ihm einer das Wasser reichen kann.« Sissi kicherte amüsiert.

»Eine«, korrigierte Pippa, »das ist ja das Schlimme.«

Wieder lachten alle und spendeten Beifall. Achim Schwätzer erkannte, dass er den Schlagabtausch verloren hatte, verließ – wie vorher Gerald – beleidigt die Angelstelle und schlug den Heimweg ein.

»Nachdem nun hoffentlich sämtliches Pulver verschossen ist«, sagte Vinzenz und seufzte, »können wir uns jetzt vielleicht mit den friedvollen Bächen der Montagne Noire und ihrem Fischreichtum beschäftigen. Alexandre möchte uns gern etwas darüber erzählen. Alexandre – du hast mein Versprechen, dass wir alle so friedlich lauschen werden, wie es dieser Idylle geziemt.«

Tisserand nickte lächelnd. »Vielen Dank, Vinzenz. Diese Bäche hier fließen zum Wehr und können dort reguliert werden. Die Rinne, die ihr dort seht, Rigole genannt, wird nur bei Unwetter benutzt. Dann wird auch das Wehr in ihre Richtung geöffnet, und die Wassermassen schießen durch das gemauerte Bett zu Tal.« Er deutete auf den Bach, an dem sie standen. »An Tagen wie heute reicht die Kapazität des Paradiesbaches aus, um das Wasser zum Lac Chantilly zu bringen.«

Während Tisserand anschaulich erklärte, beobachtete Pippa die Kiemenkerle. Offenbar nahm niemand Geralds oder Achims Ausbrüche allzu ernst – aber traurig über den demonstrativen Abgang erst des einen und dann des anderen schienen sie ebenfalls nicht zu sein.

Die Nerven liegen nach dem plötzlichen Tod Teschkes eben blank, dachte Pippa, und ich bin sicher, dass alle erschrockener sind, als sie zugeben wollen. Kann einer von ihnen diese ungute Situation herbeigeführt haben? Ist einer von ihnen ein Mörder?

Sie musterte Tisserands Zuhörer. Alle waren ganz bei der Sache und lauschten interessiert, wie er von den unzähligen Zuläufen in die verschiedenen Stauseen erzählte, die den berühmten Canal du Midi speisen. Sie konnte sich die Ungeheuerlichkeit, dass einer unter ihnen Teschke umgebracht haben sollte, beim besten Willen nicht vorstellen.

»Und es ist ganz gleich, wo Sie sich mit Ihrer Angelrute hinstellen«, sagte Tisserand, »von den Bächen im tiefsten Buchenwald bis hin zu den künstlich angelegten Wasserwegen – überall werden Sie prächtige Fänge machen. Hier in Südfrankreich werden die größten Fische aus dem Wasser gezogen, die die Welt je gesehen hat. Der – wenn auch inoffizielle – Weltrekord liegt bei mehr als einundvierzig Kilo für einen Karpfen. 2008 wurde er in einem See bei Dijon gefangen, nur ein paar Autostunden von hier entfernt.«

Das beeindruckende Gewicht des Rekordkarpfens löste bei den Männern ehrfürchtiges Gemurmel aus.

»So viele Bäche, so viele Seen – so wenig Zeit«, sagte Rudi sehnsüchtig.

Tisserand lächelte und fuhr fort: »Wenn das Wetter sich hält, zeige ich Ihnen gerne meinen Lieblingsplatz: Prise d’eau d’Alzeau, sozusagen der Ausgangspunkt aller Wasser des Canal du Midi. Dort steht auch ein Denkmal für Pierre Paul Riquet, den genialen Konstrukteur dieser einzigartigen Anlage. Dort oben beginnt das Wassernetz, das seit der Zeit Ludwigs XIV. dafür sorgt, dass der Regen dieser Berge dorthin gelangt, wo er am dringendsten gebraucht wird: in den Kanal des Südens.«

»Nehmt nur euer Angelzeug – ich packe alles ein, was ins Vent Fou muss«, sagte Pippa eine gute Stunde später, als es an den Aufbruch zurück ins Tal ging. »Ihr könnt ruhig schon loslaufen.«

Bruno war die Enttäuschung deutlich anzusehen, als er ihr den Schlüssel für den Citroën HY aushändigte. »Bist du sicher, dass du allein aufräumen willst?«, fragte er und setzte hoffnungsvoll hinzu: »Ich helfe wirklich gern!«

Pippa ahnte, warum er ihr dieses Angebot machte. »Du kannst mit mir hinunterfahren, wenn du willst.«

Er zögerte kurz, schüttelte aber dann den Kopf. »Ich verstehe schon – du willst mal fünf Minuten deine Ruhe.« Unauffällig deutete er mit dem Kopf auf Wolfgang Schmidt, der ein paar Schritte entfernt den Grill reinigte. »Du brauchst Zeit zum Nachdenken. Ein gemächlicher Spaziergang zurück ins Tal tut mir ganz gut. Ich werde sowieso immer bequemer und steifer.«

Als wollte er seine eigenen Worte Lügen strafen, ergriff er den riesigen, schweren Korb, in dem sich leere Schüsseln und Teller stapelten. Ohne erkennbaren Kraftaufwand hievte er ihn mit einem Schwung ins Auto.

»Bruno, wirklich, wenn du lieber mitfahren möchtest …«, bot Pippa noch einmal an.

»Keine Angst, Bruno, der Weg ist leicht zu schaffen«, sagte Schmidt, der in diesem Moment dazukam, »wir nehmen den kürzesten Weg hinunter, über die großen Trittsteine. In wenig mehr als einer halben Stunde sind wir unten im Lager.«

»Du, Wolle, du bist dann im Lager«, erwiderte Bruno düster.

Pippa sah den Kiemenkerlen nach und atmete tief durch.

Werde ich mit den Jahren immer weniger menschenkompatibel, oder sind die Kiemenkerle einfach besonders anstrengend?, dachte sie. Komisch, und ich habe geglaubt, ich bin durch die Transvaalstraße abgehärtet.

Sie genoss die Ruhe, die sich einstellte, als das Geplapper der Gruppe im Wald verklang. Nur das einschläfernde Gurgeln des Baches und Vogelgezwitscher waren noch zu hören. Erst jetzt merkte sie, wie müde sie nach der durchwachten Nacht und den Turbulenzen dieses Tages war. Sie setzte sich auf eine der Bänke am Tisch der Grillhütte, legte die Arme auf die Tischplatte und bettete ihren Kopf darauf.

Nur ein paar Minuten, dachte sie, und schon schlief sie tief und fest.

Sie erwachte, als eine heftige Windböe durch die Grillhütte fuhr. Große Regentropfen klatschten lautstark auf das Dach. Verwirrt blickte Pippa auf ihre Armbanduhr und stellte fest, dass sie mehr als eine Stunde geschlafen hatte. Dennoch passte die Dämmerung nicht zur Uhrzeit, aber ein Blick in den Himmel zeigte eine dichte Wolkendecke, aus der es immer stärker regnete. Das zuvor so einladend frische Grün des Waldes wirkte jetzt dunkel und undurchdringlich.

Pippa trat unter dem Dach hervor und zog unwillkürlich den Kopf ein, als dicke Regentropfen sie trafen.

Da sie keine Lust hatte, in tiefer Dunkelheit ins Tal fahren zu müssen, trotzte sie tapfer dem Regen und sprintete einige Male zwischen der Hütte und dem Auto hin und her, bis alles verladen war. Dann machte sie noch einen letzten Kontrollgang über das Gelände, um vergessene Gegenstände einzusammeln, aber sie fand nicht einmal Schwätzers Angel, obwohl sie sich genau erinnerte, dass er sich ohne sein Equipment auf den Heimweg gemacht hatte.

Das ist nun wieder ein netter Zug, dass die Jungs ihm den Kram hinterhertragen, dachte Pippa. Ich wette, das war Bruno.

Sie sah sich ein letztes Mal um und ging zum Grill, um sich zu vergewissern, dass er ordnungsgemäß gelöscht war. Ein vergessenes Geschirrtuch lag auf der Ablage, und als sie es hochnahm, entdeckte sie Gerald Remmertshausens Smartphone.

»Oho«, sagte Pippa verblüfft, »Gerald hat bestimmt schon bemerkt, dass er nackt herumläuft.«

Sie steckte das Telefon in die Hosentasche und lief hinüber zu dem alten Wellblech-Lieferwagen, der unter einem so dichten Blätterdach hoher Bäume stand, dass bisher kaum ein Regentropfen bis zu ihm vorgedrungen war. Sie kletterte auf den Fahrersitz und starrte ratlos auf das übersichtliche Armaturenbrett des Wagens. Es gab zwar nur wenige Knöpfe – aber welcher war der für die Scheibenwischer? Pippa probierte einen nach dem andern aus. Als sich schließlich zwei metallene Stummel kreischend über die Windschutzscheibe bewegten, fuhr sie erschrocken zusammen. Offenbar hatte sie zufällig den richtigen Schalter erwischt, aber die Scheibenwischer waren abgebrochen.

»Na super – offensichtlich muss der Markt in Revel bei Regen ohne Ferdinand auskommen. Der feine Herr fährt wohl nur bei Sonnenschein«, fluchte sie und startete den Motor.

Vorsichtig steuerte sie den Wagen im Schritttempo den Waldweg hinunter. Sie konnte durch den strömenden Regen kaum etwas sehen und rumpelte immer wieder durch Schlaglöcher. Ihr brach der Schweiß aus, und sie wünschte sich sehnlichst Bruno zurück ans Steuer. Angestrengt spähte sie durch die tropfnasse Scheibe.

Plötzlich knallte es, und sie verriss das Lenkrad. Der Wagen rutschte zur Seite weg, nahm wieder Fahrt auf und landete mit einem harten Ruck an einer riesigen Buche.

Starr vor Schreck schloss Pippa für einen Moment die Augen, um sich wieder zu sammeln.

»Pascal, mein Lieber«, murmelte sie mit zusammengebissenen Zähnen, »das stellt unsere junge Liebe jetzt auf eine harte Probe.«

Sie kletterte aus dem Lieferwagen, um sich den Schaden anzusehen. Die imposant vorstehende Nase des Citroëns glich jetzt der eines Boxers nach verlorenem Kampf. Besorgt ging sie um den Lieferwagen herum und entdeckte vorne rechts einen platten Reifen, in dem ein großer Nagel steckte.

»Verdammt. Verdammt. Verdammt.«

Während sie darüber nachdachte, wie es weitergehen sollte, ertönte aus ihrer Hosentasche ein leises Geräusch.

»Geralds Smartphone!«, rief sie vor Erleichterung laut aus und zog es hervor. »Dein Besitzer wird mir sicherlich verzeihen, wenn ich dich benutze!«

Auf dem hellen Display leuchtete eine Textnachricht, die sie – ohne es zu wollen – automatisch las: Ergebnis wie erwartet. Wiederherstellung chancenlos. Clinique privée Hôpital Saint-Georges, Toulouse.

Pippa war über sich selbst erschrocken, weil sie die an Remmertshausen gerichtete Nachricht gelesen hatte. Heilfroh sah sie, wie der Text automatisch vom Display verschwand. Sie versuchte, die Nummer des Vent Fou einzutippen, aber das Gerät verweigerte ihr den Dienst, indem ein neuer Text aufleuchtete: Pin-Nummer eingeben.

Müssen diese neuen Dinger denn für alles und jedes gesichert sein? Hat sich denn die ganze Welt gegen mich verschworen?, dachte sie verzweifelt. Immerhin, der Regen hat nachgelassen. Dann werde ich es mal per pedes versuchen.

Hoffentlich freuten sich Ferdinand und Pascal wenigstens darüber, dass sie gut versichert war …

Sie folgte dem Weg bis zu den großen Trittsteinen im Bach, wo ein kleiner Wegweiser zum Lac Chantilly zeigte. Gott sei Dank ist der Weg gut ausgeschildert, dachte sie, ich sollte ohne Probleme zurückfinden …

Sie trat auf den ersten Stein und blickte fasziniert ins schäumende Wasser, das sich zwischen den Steinen hindurchdrängte und in Kaskaden weiter in Richtung Lac Chantilly floss.

Vorsichtig balancierte sie weiter über die glitschigen Quader. Als sie das andere Ufer erreicht hatte, knackten hinter ihr Zweige, und sie fuhr erschrocken herum. Nichts bewegte sich zwischen den Bäumen, und sie atmete auf.

»Dies ist ein Wald, Pippa«, murmelte sie. »Wenn hier Zweige knacken, dann ist das völlig normal. Jetzt ist Dämmerung, die Jagdzeit für die Tiere des Waldes. Alles ist in Ordnung – nur du bist eine Memme.«

Ihre Atmung hatte sich gerade wieder beruhigt, als ein Kiesel viel zu nah an ihrem Kopf vorbeisauste und gegen einen Baumstamm prallte. Von der Wucht des Einschlags splitterte Rinde ab und rieselte zu Boden.

Pippa sah sich wütend um. Wo waren diese vier Monster? So klein seid ihr nicht mehr, dass euch nicht klar ist, wie fürchterlich so etwas schiefgehen kann, dachte sie. Ich habe jedenfalls kein Interesse an einem Loch im Kopf. Ein bisschen Kinder-Voodoo ist eine Sache, eine David-und-Goliath-Schleuder eine andere.

»Jungs, das ist jetzt gerade kein Spaß mehr!«, rief sie in den Wald hinein. »Außerdem: Redet mal mit Cedric – der hat die Seiten gewechselt! Genauso wie eure Frau Maman!«

Bis auf das Rauschen des prompt wieder einsetzenden Regens hörte sie keinen Laut.

»Ich arbeite nicht nur für die Legrands – ich arbeite auch für euch!«, versuchte Pippa es weiter. »Wir sind keine Feinde! Niemand ist gegen euch!«

Sie entschied, auf die andere Seite zurückzugehen, um ihren guten Willen zu demonstrieren. Als sie den Fuß auf den ersten Trittstein setzte, flog das nächste Wurfgeschoss direkt an ihrem Gesicht vorbei, gefolgt von weiteren, die immer schneller in ihre Richtung flogen. Es grenzte an ein Wunder, dass sie nicht getroffen wurde. Eilig sprang sie ans Ufer zurück und verschanzte sich hinter einem Baum, während der Regen stärker und dichter wurde.

»Jungs?«, schrie sie durch das Rauschen. »Marc? Eric? Franck? Seid doch vernünftig!«

Pippa hielt den Atem an und lauschte. Niemand antwortete auf ihr Rufen, aber es flogen auch keine Kiesel mehr. Sie wartete noch einige Minuten, doch es blieb ruhig.

Sie beschloss, sich bis zur trockenen Rigole zu schleichen, von der Tisserand gesprochen hatte. In der Deckung des betonierten Kanals schaffte sie es hoffentlich mit heiler Haut bis hinunter zum See.

Und dort unten, meine Lieben, werden wir ein ernstes Gespräch führen, dachte sie grimmig, denn meine Geduld ist erschöpft. Ihr glaubt, ihr wisst, wie stark der Autan bläst? Das ist ein laues Lüftchen gegen den Wind, den ich machen kann. Macht euch auf etwas gefasst.

Sie kroch langsam durch das Unterholz und versuchte, so wenig Geräusche wie möglich zu machen. Als sie die betonierte Rigole erreicht hatte, ließ sie sich vorsichtig hineingleiten und ruinierte sich dabei mit Algen und Moos die Kleidung.

Das ist es mir wert, dachte Pippa, wäre doch gelacht, wenn ich bei eurem Katz-und-Maus-Spiel nicht die Oberhand behielte.

In gebückter Haltung schlich sie durch die anderthalb Meter tiefe Betonrinne, immer bemüht, in den glitschigen Pfützen nicht auszurutschen. Dennoch schlitterte sie mehr als zu laufen und suchte immer wieder krampfhaft Halt an der glatten Seitenwand. Der immer stärker fallende Regen setzte ihr zu, aber sie biss die Zähne zusammen.

Sie hielt inne, als sie oberhalb der Rinne ein kreischendes Geräusch hörte, so als schrammte Eisen über Eisen. Pippa überlegte noch, ob sie es wagen sollte, den Kopf hinauszustrecken, als ein lautes Donnern erklang und die Seitenwand unter ihrer Hand spürbar zu vibrieren begann.

Sie blickte hinter sich und sah eine schäumende Wasserwelle direkt auf sich zurasen. Noch während sie begriff, dass jemand das Wehr geöffnet haben musste, riss das Wasser sie mit sich. Ihre Hände tasteten verzweifelt nach Halt, der sich nirgends fand. Sie wurde unter Wasser gezogen, ihre Beine schrammten an der Betonwand entlang, dann wurde sie wieder an die Oberfläche gespült, wo sie kurz nach Luft schnappen konnte und um Hilfe zu schreien versuchte.

Aber die gurgelnden, brodelnden Wassermassen erstickten ihren Schrei und zogen sie wieder hinunter.

Tote Fische beißen nicht: Ein neuer Fall für Pippa Bolle
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