Kapitel 6

Kurz darauf saß Pippa am Schreibtisch und schob zum wiederholten Male die Stapel ihrer Übersetzungsarbeit von einer Seite auf die andere. Keine der nach Themen geordneten Briefsammlungen konnte sie ausreichend fesseln. Ihr Blick wanderte immer wieder aus dem Fenster, hinüber zum Anglerlager.

Nur wer eine eigene Melodie hat, darf auch auf die Welt pfeifen, stand auf einem der Materialordner, die die kopierten Abhandlungen der Professoren enthielten. Gutes Zitat, dachte sie. Das ist von Hemingway? Respekt. Mit diesen Texten fange ich an. Ein Ordner dolce far niente wird sich nicht finden lassen, und dafür bin ich leider auch nicht hier.

Vier Stunden später schob sie den Stuhl zurück und streckte sich. Ihr Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass sie sich sputen musste, um noch irgendwo ein Mittagessen zu ergattern.

Zielstrebig ging sie die Rue Cinsault hinauf bis zur Abzweigung nach Revel und versuchte es in der Brasserie gegenüber der Auberge Bonace. Sie war der einzige Gast. Touristen und Einheimische hatten um diese Zeit längst gegessen und hielten jetzt sieste unter den Sonnenschirmen am Strand. Auf ihren fragenden Blick hin nickte das junge Mädchen hinter der Theke freundlich und deutete auf einen Tisch am Fenster. Pippa stellte erfreut fest, dass sie von dort aus in den Hinterhof des Bonace blicken konnte, wo eine Frau mittleren Alters gerade den Kaffeetisch deckte.

Das muss Cateline sein, dachte Pippa, die Ähnlichkeit mit Lisette ist trotz des Altersunterschieds unübersehbar.

Die beiden jüngeren Didier-Söhne kickten einen Fußball über den Hof und trafen den Tisch. Zu Pippas Erstaunen schimpfte Cateline nicht, sondern schnappte sich lediglich den Ball und gab ihn nicht wieder her.

Ganz schön abgehärtet, dachte Pippa. Ich wäre wütend geworden – oder hätte völlig unergiebige Vorträge gehalten.

»Ist es schon zu spät für einen Croque?«, fragte sie, als die Kellnerin an ihren Tisch kam und nach ihren Wünschen fragte.

»Natürlich nicht. Madame oder Monsieur?«

»Ohne Ei, bitte«, erwiderte Pippa.

Die Bedienung nickte und verschwand in der Küche. Pippa beobachtete, wie Cateline den Ball immer wieder in die Luft warf und auffing, bis ihre Söhne den Wink verstanden und den Kaffeetisch wieder in Ordnung brachten. Als sie mit der Arbeit ihrer Sprösslinge zufrieden war, warf sie ihnen den Ball wieder zu.

Pippa musste lächeln, weil ihr bei dieser beeindruckenden Demonstration mütterlicher Gelassenheit die ungestüme Kinderbande der heimischen Transvaalstraße in den Sinn kam. Sie nahm sich vor, sich in Zukunft von Catelines Erziehungsstil inspirieren zu lassen.

Ein deutlich älterer Mann kam aus dem Haus. Cateline drehte sich zu ihm um, und sie umarmten sich wie frisch Verliebte.

Das muss Thierry Didier sein, dachte Pippa. Hut ab, die beiden verstehen sich also noch immer, trotz der äußerlich schwierigen Situation – oder gerade deswegen?

»Einmal Croque Monsieur, bitte sehr.«

Die junge Kellnerin stellte den überbackenen Käse-Schinken-Toast auf den Tisch und fragte: »Machen Sie hier Ferien, Madame?«

Da Pippa am ersten Bissen kaute, nickte sie nur. Dann sagte sie: »Ich beneide Sie. Sie dürfen leben, wo andere Leute Urlaub machen.«

Das Mädchen zog die Schultern hoch und wiegte den Kopf. »Ich weiß nicht. Im Sommer ist es ganz nett hier, aber im Winter … todlangweilig. Alles wie ausgestorben, bis auf die kulinarischen Deutschkurse und natürlich die Angler, die schreckt gar nichts ab. Die kommen zu jeder Jahreszeit. Ich würde gern in Revel arbeiten, oder noch lieber in Toulouse.« Sie warf einen Blick zur Küchentür und dämpfte die Stimme. »Aber das erlauben meine Eltern nicht. Ich bin hier wie festgenagelt.«

Pippa sah hinüber in den Hof des Bonace, wo mittlerweile die ganze Familie um die Tafel saß und sich Kaffee und Kuchen schmecken ließ.

»Aber es gibt doch noch andere Jugendliche hier.« Pippa zeigte aus dem Fenster. »Da kann man doch etwas zusammen unternehmen.«

Das Mädchen warf einen kurzen Blick auf die Didiers. »Die? Mit denen ist man lieber vorsichtig …«

»Vielleicht findest du im Herbst neue Verbündete, da werden Freunde von mir mit ihren Kindern nach Chantilly ziehen. Daniel müsste etwa so alt sein wie du, und Bonnie ist vierzehn.«

»Das ist ja klasse! Endlich mal neue Leute in diesem Kaff. Wo werden die denn wohnen?«

Jetzt bin ich gespannt, dachte Pippa und sagte: »Rue Cassoulet 4.«

»Waaas?« Das Mädchen plumpste mit schreckgeweiteten Augen auf den Stuhl neben ihr. »Da spukt es!«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Da ist doch …« Das Mädchen unterbrach sich und zeigte verstohlen hinüber zum Hof des Bonace. Sie beugte sich vor und flüsterte: »Da wohnten früher die Didiers.«

Jetzt schnappte Pippa nach Luft. Da Ferdinand und Lisette Legrand das Haus an die Peschmanns verkauft hatten, war sie zwangsläufig davon ausgegangen, dass die beiden früher auch dort gewohnt hatten. So viel zu mir als gewiefte Ermittlerin, dachte sie ironisch.

»Wirklich? Diese große Familie lebte in dem kleinen Haus?«, fragte Pippa vorsichtig weiter.

Das Mädchen schüttelte heftig den Kopf. »Nur Vater und Sohn.«

»Thierry Didier und nur ein Sohn? Wieso denn das? Ich dachte, er hat vier.«

»Nein, keiner von den Rüpeln.« Das Mädchen machte eine wegwerfende Handbewegung. »Obwohl – Eric hat seine guten Seiten, wenn er will. Und ein so schönes Lächeln. Aber er kann echt eklig sein.«

Bleib bei der Sache, Mädchen, dachte Pippa ungeduldig. »Ekliger als der Sohn, mit dem Thierry Didier in der Rue Cassoulet wohnte?«

Das Mädchen blickte sie erstaunt an. »Woher soll ich das wissen? Der war längst tot, als ich geboren wurde!«

»Tot? Das ist schrecklich. Ein Unfall?«

Wieder beugte sich das Mädchen weit über den Tisch. »Mord«, flüsterte sie eindringlich, »und meine Familie …«

»Weiß nichts darüber«, sagte ein vierschrötiger Mann mit Kochschürze barsch, der wie aus dem Nichts neben dem Tisch erschienen war.

Nachdenklich sah der Wirt Pippa durch das Fenster nach, die bei seinem Auftauchen resigniert nach der Rechnung verlangt hatte.

»Ein Wasser, ein Croque Monsieur«, murmelte er, »die war nicht nur wegen des Essens hier.« Er verzog unwillig das Gesicht und herrschte seine Tochter an: »Was ist das Teuerste auf der Karte?«

»Der Cinsault und das Cassoulet«, antwortete das Mädchen eingeschüchtert.

»Cassoulet. Das passt ja.« Der Wirt grinste. »Wenn die Frau noch einmal hier aufkreuzt, wirst du ihr genau das empfehlen. Mit allen Zutaten! Verstanden?«

»Aber du hast doch eben gesagt …«

Er hob die Hand, um sie zu unterbrechen. »Eben hast du nur getratscht. Ab jetzt verkaufst du die Informationen.«

Pippa redete sich gar nicht erst ein, sie würde den Pavillon rein zufällig ansteuern. Sie suchte jemanden, mit dem sie ihre neuesten Erkenntnisse besprechen konnte, und Alexandre schien ihr nicht nur aus diesem Grunde ein geeigneter Gesprächspartner zu sein.

Auf dem Weg dorthin kam sie am Minigolfplatz vorbei, wo die Kiemenkerle gerade eine Spielrunde beginnen wollten. Sie ließ sich nicht lange bitten, als Hotte rief: »Kommen Sie, Pippa! Sissi und Lothar spendieren eine Runde, als Dankeschön für die Glückwünsche zu ihrer Hochzeit.«

Er deutete mit dem Daumen auf das junge Ehepaar, das sich verliebt anlächelte. In Lothar erkannte Pippa den Jogger, den sie am Morgen zusammen mit den drei Anglern auf dem Damm gesehen hatte.

Sie nahm den Schläger, den Wolfgang Schmidt ihr in die Hand drückte, und hörte aufmerksam zu, als Sissi sachkundig erklärte, wie man den Schläger hielt und sicher einlochte.

»So wie du ausholst, müsstest du eine hervorragende Fliegenfischerin sein, Schatz«, rief Lothar sichtlich stolz.

»Dann kauf Schatz mal schnell eine Fliegenklatsche«, stichelte Achim Schwätzer prompt, ohne damit allerdings die erhoffte Reaktion bei den beiden Frischverheirateten zu erreichen.

Stattdessen antwortete Tatjana Remmertshausen: »Die darf aber nicht zu klein sein, damit man mit ihr auch größeres Ungeziefer erschlagen kann.« Sie warf Schwätzer einen vielsagenden Blick zu.

»Etwa von der Größe, die du für deinen Mann gebrauchen könntest«, ätzte dieser zurück, »damit du endlich freie Bahn hast?« Er trat nah an sie heran und fügte halblaut hinzu: »Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Fliegenklatschen werfen, liebe Tatti.«

»Kleiner ist gerne auch mal gemeiner.« Tatjana musterte ihn abschätzend von oben bis unten. »Das trifft nicht nur für deine Drohungen zu, Achim. Aber was will man von einem Schwätzer auch anderes erwarten?«

Alle Achtung, dachte Pippa, diese spitze Zunge könnte es sogar mit Karin Wittig aufnehmen. Nur ist Achim Schwätzer nicht der passende Gegner. Sie sollte damit lieber mal ihren Mann aus der Reserve locken.

Pippa sah sich um, aber niemand außer ihr hatte dem Schlagabtausch der beiden Beachtung geschenkt, denn alle waren mit dem Spiel beschäftigt. Ihr fiel auf, dass Gerald Remmertshausen der einzige der Kiemenkerle war, der nicht zum Minigolf erschienen war – dafür sah sie Pascal, Lisette und Ferdinand kommen, dicht gefolgt von Alexandre Tisserand. Dieser trug seine Malutensilien unter dem Arm und kam wie zufällig vom Pavillon herbeigeschlendert. Er nickte Pippa zu und blieb etwas abseits stehen.

»Schön, dass ich Sie alle hier antreffe«, sagte Ferdinand, »ich möchte für heute Abend zu einem Grillfest auf unsere Terrasse einladen. Speis und Trank auf Kosten des Vent Fou. Ein Lampionfest für meine Anglerfreunde aus Deutschland, die so großzügig sind, dass sie an den Wochenenden nicht auf ihrem Exklusivrecht bestehen, sondern auch andere Angler ans Wasser lassen.«

Die Kiemenkerle ließen Ferdinand lautstark hochleben und klatschten Beifall, nur Franz Teschke murrte: »Samstag und Sonntag, ein ganzes langes Wochenende. Verlorene Zeit. Was sollen wir mit Tagen anfangen, an denen wir unseren See nicht für uns allein haben? Blöde Neuerung. Und diese dämliche Regel, dass alle Hotelgäste bei uns angeln dürfen! Wahrscheinlich ist der Kühlwagen völlig überflüssig, weil die anderen uns alles vor der Nase wegfangen. Aber Hauptsache, das Vent Fou schaufelt sich so viel Geld wie möglich in seine Taschen. Wer gibt denen eigentlich das Recht, im Lac Chantilly …«

Bruno legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Es sind französische Fische, Franz.«

Wütend schüttelte Teschke die Hand ab und schwang seinen Schläger. Blasko Maria Krabbe verdankte es nur seinem raschem Wegducken, dass er nicht am Kopf getroffen wurde.

»Verdammt, Franz«, grollte Blasko, »das ist ein Golfschläger und keine Angelrute! Damit kannst du Leute umbringen!«

Auf einen Wink ihres Mannes stellte sich Sissi hinter Teschke und führte seinen Arm, um ihm den besten Schwung beizubringen. Als Pascal dasselbe Pippa anbot, mischte Tatjana sich ein.

»Bei Pippa sah es schon recht gut aus, aber ich könnte Hilfe gebrauchen, Pascal.«

»Ich kann dir helfen«, sagte Schmidt, aber Tatjana ignorierte sein Angebot und stellte sich zu Pascal.

Zähneknirschend folgte dieser ihrer Aufforderung, und Tatjana nutzte die Situation, indem sie sich eng an ihn drängte, als er sie umfasste.

Das war der älteste Trick der Welt, Tatjana, dachte Pippa, musste aber gleichzeitig vor dieser Frechheit den Hut ziehen. Sie nimmt sich einfach, was sie will, ohne Rücksicht auf Verluste oder verletzte Gefühle – und wirkt dabei dennoch anziehend. Ich wünschte, ich hätte mehr von deiner Zielstrebigkeit und deinem Mut, Tatjana, schließlich hätte ich auch nichts dagegen, wenn Pascal mir den Schläger führt – oder Alexandre Tisserand den Pinsel.

Die Kiemenkerle übergingen die Szene, als wären sie derlei von Tatjana gewöhnt. Lisette und Ferdinand sahen einander unangenehm berührt an, Tisserand wirkte amüsiert, aber Achim Schwätzer schaute drein, als hätte man ihn bei der Verteilung von Schokolade übergangen.

Sieh an, dachte Pippa, in diesem Fall ist der Eifersüchtige also nicht der Ehemann. Wenn Achim wirklich bei Tatjana landen will, sollte er allerdings dringend seine Taktik ändern.

Da für den Abend eine große Party anstand, entschied Pippa, doch nicht weiter am Minigolfspiel teilzunehmen, sondern lieber noch einige Stunden zu arbeiten. Alexandre Tisserand bot ihr an, sie zum Hotel zu begleiten. Schmidt knirschte buchstäblich mit den Zähnen, als Pippa ihn zum Abschied kurz in den Arm nahm.

»Vorsicht«, flüsterte sie ihm zu, »der Achim-Schwätzer-Look steht dir nicht … zu. Ebenso wenig wie ihm selbst.«

»Hast du wieder im Pavillon gemalt?«, fragte Pippa auf dem Weg zum Vent Fou.

»Nur kurz«, erwiderte Tisserand, »dann hat die Neugier mich in die Rue Cassoulet getrieben. Ich habe mir den Tatort angesehen.«

»Ach?« Pippa sah den Maler irritiert an.

»Unheimlich, das Haus. Die Treppe ist tatsächlich sehr steil und gefährlich. Da ist der Hals schnell gebrochen, wenn man hinunterfällt.«

Pippa stellte fest, dass seine Vorgehensweise sie unangenehm berührte. Sie hatte ihn zwar als langjährigen Kenner der Gegend um seine Meinung gebeten, aber dass er eigenmächtig ermittelte, gefiel ihr nicht.

»Wie bist du ins Haus gekommen?«, fragte sie einen Ton schärfer, als es sonst ihre Art war.

Falls Tisserand ihre Verstimmung bemerkte, ließ er es sich nicht anmerken. »Kein Problem. Das Haus ist fast eine Ruine, und das Gelände war frei zugänglich.«

Da Pippa sich absolut sicher war, dass Pia am Vortag das rostige Tor sorgfältig abgeschlossen hatte, konnte nur Tibor so nachlässig gewesen sein, es offen stehen zu lassen.

»War der Polier nicht dort?«, fragte sie weiter.

»Außer einem unablässig schimpfenden Vogel und zwei fetten Spinnen im Kriechkeller war niemand da.«

»Du hast den Kriechkeller entdeckt?« Pippa war verblüfft. »Ohne den Bauplan hätte ich den niemals gefunden.«

Er lächelte sie entwaffnend an. »Das Auge des Malers entdeckt so manches.«

Pippas Neugier siegte über ihren Ärger. »Und – wie ist dein Eindruck?«

»Soll ich ehrlich sein? Ich denke, deine Freunde sollten den Keller zuschütten, das alte Gemäuer abreißen, ein schmuckes, neues Häuschen hinsetzen – und die ganze Sache vergessen.«

Pippa war erstaunt, dass ausgerechnet Tisserand nicht für das malerische Steinhaus plädierte. »Bist du sicher?«

»Absolut. Dabei geht es doch um den Zwist zweier Familien, oder? Damit haben deine Freunde nichts zu tun. Ein neues Haus wird man nach kurzer Zeit nur noch mit den Peschmanns in Verbindung bringen und nicht mehr mit dem Verschwinden eines halbwüchsigen Jungen, der eine passende Gelegenheit genutzt hat, sich davonzumachen und die Welt zu sehen.«

»Du glaubst, der vermisste junge Mann ist einfach abgehauen? Warum hätte er das tun sollen?«

Tisserand lachte kurz auf. »Überall auf der Welt reißen Teenager von zu Hause aus. Dafür kann es hundert Gründe geben: Liebeskummer, pure Abenteuerlust, eine bloße Dummheit.«

»Aber das viele Blut auf der Treppe! Und warum ist er dann nie zurückgekommen? Oder hat sich wenigstens gemeldet?«

Alexandre strich sich gedankenverloren über den Bart. »Das ist allerdings eine berechtigte Frage. Die kann dir wohl nur der junge Mann selbst beantworten.«

Nachdem Pippa ein paar Stunden konzentriert gearbeitet hatte, zog sie sich für die Party um und begutachtete sich im Spiegel. Sie trug ein buntes, schwingendes Kleid der Kasulke-Schwestern und hatte sich ein farblich passendes Tuch in die roten Haare gebunden.

Das sollte die Aufmerksamkeit meiner potentiellen Verehrer erregen. Ganz gleich, ob Wolfgang Schmidt, Pascal oder Alexandre, mir ist jeder Bewerber recht, dachte sie und sagte zu ihrem Spiegelbild: »Tut mir leid, Tatjana, aber heute Abend kenne ich kein Pardon. Du hast bereits einen Ehemann.«

Sie trat näher an den Spiegel heran und zog die Nase kraus. »Na gut – ich habe auch einen. Aber nur noch auf dem Papier und hoffentlich nicht mehr lange. Ich habe alles Recht der Welt, mich wieder umzusehen.«

Sie hielt einen Moment inne. »Oder sind wir uns noch ähnlicher, als ich dachte, Tatti, und wir beide sitzen im gleichen Scheidungsboot? Und wenn, wer steht dann bei euch am Ruder – du oder Gerald?«

Die Terrasse war festlich geschmückt, und es herrschte ausgelassene Stimmung. Nur Ferdinand sah immer wieder besorgt zum Himmel. Ein paar winzige Wolken hatten sich über dem See zusammengezogen, aber die Sonne ging in perfekten Rot- und Gelbtönen unter. Mit jeder Minute kamen die Lampions besser zur Geltung.

Lisette folgte Ferdinands Blick und sagte: »Das sind nur Vorboten. Ein paar Tage haben wir noch, bis alle verrückt werden.«

Wolfgang Schmidt stand als Freiwilliger am Grill, um die vom Verein gestifteten frischen Fische zuzubereiten. Er kämpfte mit dem ersten Ansturm der Gäste, als Lisette um Gehör bat.

»Sehr verehrte Kiemenkerle, ich möchte Sie heute Abend bitten, Ihren internen Wettbewerb zu öffnen und auch andere Gäste des Hotels daran teilhaben zu lassen. Das Vent Fou ersetzt Ihnen dafür nicht nur einen Teil Ihrer Investitionen, sondern stiftet zusätzlich einen wertvollen Pokal: den goldenen Fair-Play-Cup.«

Auf einen Wink von ihr präsentierten Pascal und Ferdinand einen schimmernden Henkelpokal von beeindruckender Größe.

»Ist der schön!«, rief Sissi. »O bitte, Lothar, versuch den zu gewinnen – da hast du eine reelle Chance.«

»Versuchen Sie es doch selbst, meine Liebe«, sagte Alexandre Tisserand, »ich bin sicher, Ihr Mann hilft Ihnen dabei.«

»Wenn er mir das Angeln beibringt, kann er selbst nicht genug üben«, antwortete Sissi besorgt. »Dies ist sein erstes Vergleichsangeln. Er braucht die vierzehn Trainingstage vorher dringend, um sich zu verbessern.«

Tisserand kniff die Augen zusammen. »Für mich sah es so aus, als könnten Sie selbst auch Spaß am Angeln haben.«

»Schon, aber Lothars Angelfreunde sind nicht gerade erpicht darauf, dass wir Frauen mitmachen.«

Franz Teschke streute großzügig Salz auf seinen Grillfisch und murmelte: »In einem Männergesangverein ist nun mal kein Platz für Sopranstimmen.«

Tisserand lächelte, als hätte er von einem Vollblutangler nichts anderes erwartet, wandte sich dann aber wieder an Sissi. »Und weil seine Kollegen solche Meinungen äußern, fragt Ihr Mann erst gar nicht?«

Sissi nickte betrübt.

Pippa bemerkte, dass Vinzenz Beringer dem Gespräch zwischen Sissi und Tisserand aufmerksam folgte. Auch Tatjana hatte die letzten Sätze aufgeschnappt und sagte: »Unsere mutigen Ehemänner. Meiner würde auch nie fragen.«

»Keine Ahnung, vor was die sich fürchten«, schaltete sich Achim Schwätzer ein, »ein richtiger Mann hat doch keine Angst, gegen eine Frau anzutreten!«

»Genau das ist es, Achim. Nicht gegen: mit!«

Schwätzer sah sie verblüfft an, und Tatjana schüttelte den Kopf angesichts seiner völligen Verständnislosigkeit. Aber Pippa erkannte sofort, dass er seine Taktik gegenüber Tatjana änderte, als er erwiderte: »Von mir aus könnt ihr Mädels gerne mitmachen. Auch wenn fünfundneunzig Prozent aller Angler in Deutschland Männer sind, muss das noch lange nicht für Frankreich gelten. Ich jedenfalls fürchte mich nicht vor Konkurrenz.« Beim letzten Wort malte er Anführungszeichen in die Luft.

Selbst wenn er etwas Nettes sagt, kommt eine Art Beleidigung dabei heraus, dachte Pippa. Tatjana hatte mit ihrer Einschätzung von Schwätzer völlig recht. Er lag mit seinen Kommentaren immer ein wenig daneben. Oder war gerade das seine Kunst?

Das Auftauchen von Hotte und Rudi lenkte Pippa ab, denn die beiden setzten sich zu ihr und prosteten ihr zu.

»Sie sind also die legendäre Pippa«, stellte Hotte fest und schenkte ihr Clairette nach.

»Wissen Sie, wir haben gedacht, Sie wären eine imaginäre Freundin, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Rudi kicherte. »Aber nun sitzen Sie leibhaftig mit uns am Tisch.«

Hotte warf einen Blick zum Grill, wo Schmidt die nächste Runde Fische auf Teller verteilte, und zwinkerte Pippa zu. »Nun erzählen Sie mal – wie war das, als Sie unseren Kommissar Wolle kennengelernt haben?«

Gott sei Dank kenne ich Wolfgangs Version, dachte Pippa und berichtete den neugierig lauschenden Freunden vom Sommer auf Schreberwerder, wo Kommissar Schmidt ermittelt hatte und sie sich begegnet waren.

Während sie erzählte, bemerkte sie aus den Augenwinkeln, dass Vinzenz Beringer Alexandre Tisserand zur Seite nahm und eindringlich auf ihn einredete. Der sonst so zurückhaltende Beringer sprach ungewohnt lebhaft. Pippa stellte anerkennend fest, dass er mit seinem markanten Cäsarenkopf und der schlanken Figur trotz seiner über sechzig Jahre neben dem attraktiven Tisserand durchaus bestehen konnte. Tisserand hörte aufmerksam zu, sah sich dann nach den anderen Partygästen um und nickte schließlich. Am Ende schüttelten sich die beiden Männer die Hand, als schlössen sie einen Pakt.

Rudis Stimme riss Pippa aus ihren interessanten Beobachtungen. »Und? Wollen Sie sich unseren Wolle für immer angeln?«

Ehe die sprachlose Pippa eine Antwort parat hatte, trat Beringer heran und sagte: »Wozu sollte sie? Es gibt so viele Fische im See, nicht wahr, Pippa?«

Hut ab, dachte Pippa, vor dem muss man sich vorsehen. Der redet nicht viel, aber er beobachtet mindestens so gut wie ein Maler.

Ein paar Meter entfernt legte Tisserand seinen Arm um Sissis Taille und bugsierte sie in eine ruhige Ecke der Terrasse, wo sie eine angeregte Diskussion begannen. Sissi wirkte so glücklich, dass Pippa sich unwillkürlich fragte, ob sich zwischen den beiden etwas anbahnte.

Erst wirft Tatjana sich Pascal an den Hals, und jetzt flirtet Tisserand unverhohlen mit Sissi, dachte sie, die Zahl meiner Verehrer schrumpft rapide. Ich werde mich doch wohl nicht ernsthaft mit dem Herrn Kommissar beschäftigen müssen?

Als hätte Lothar Edelmuth ihre Gedanken gehört, verließ er wütend die Terrasse und stapfte davon.

»Lothar! Wo willst du hin?«, rief Sissi ihm nach.

Lothar Edelmuth blieb kurz stehen und drehte sich um. »Ich bin müde. Sehr müde!«, antwortete er grimmig. »Ich schlafe heute im Lager.«

»Was zum …?«, murmelte Sissi verdutzt und wandte sich hilfesuchend an Tatjana, die Lothars Abgang nachdenklich verfolgte.

»Deiner bleibt also auch nicht«, sagte Tatjana und seufzte. »Irgendwas am Angeln ist stärker als wir.«

Sissi nickte traurig und zeigte auf Pippa. »Sie ist auch schon den ganzen Abend solo. Wolle steht lieber am Grill, als mit ihr Händchen zu halten.« Sie winkte Pippa. »Komm doch rüber und mach unser Strohwitwen-Trio komplett.«

Diese ließ sich nicht zweimal bitten – das Gespräch mit Hotte und Rudi war ihr deutlich zu heikel geworden.

Tatjana holte bei Pascal einen Cocktail und drückte ihn Pippa in die Hand. »Der wird dich aufmuntern. Pascal nennt ihn Hurricane Irene – und er wird dich umblasen, das verspreche ich dir.«

Prompt löste der erste Schluck bei Pippa einen Hustenanfall aus.

»Tattis Mann lässt sich nur selten ohne Telefon am Ohr sehen«, sagte Sissi, »und meiner erträgt die Stänkereien der anderen, ohne mich zu verteidigen. Obendrein ist er sofort beleidigt, wenn ich mich mal mit einem anderen unterhalte. Und du bist so weit gereist, und trotzdem stellt dein Freund einen heißen Grill zwischen euch. Wirklich toll.«

Tatjana nickte vehement. »Wir sollten unsere Männer mit unseren eigenen Waffen schlagen. Frauen müssen zusammenhalten.«

Pippa suchte nach Worten. Sie konnte nachvollziehen, dass die beiden enttäuschten Ehefrauen sich mit ihr in einem Boot wähnten – aber wie sollte sie ihnen erklären, dass sie das selbst keineswegs so sah? Da sie ihre Liebeslüge nur mit der für Wolfgang vernichtenden Wahrheit aufklären konnte, hielt sie lieber den Mund.

Tatjana und Sissi nahmen Pippas Schweigen als Zustimmung und nickten einander verschwörerisch zu.

Dann sagte Sissi so leise, dass niemand sie belauschen konnte: »Wir haben da ein großartiges Angebot von Vinzenz und diesem netten Maler. Und wir würden es gerne annehmen – aber nur, wenn du mitmachst.«

Tote Fische beißen nicht: Ein neuer Fall für Pippa Bolle
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