Kapitel 4
Die kleine Ferienwohnung im zweiten Stock des Vent Fou war wie für Pippa gemacht. Blanke Holzdielen auf dem Fußboden, schlichte Möbel und Fenster mit Ausblicken, die Ansichtskarten zur Ehre gereicht hätten.
Vom kombinierten Schlaf- und Arbeitszimmer aus konnte sie das gesamte Panorama vom See bis zu den Bergen überblicken, und das Bad verfügte über ein Fenster zur Liegewiese des Pools und zur schmiedeeisernen Wendeltreppe, die außen am Haus als Fluchtweg diente. Durch die bodentiefen Fenster des Wohnraums mit Küchenzeile und Sofa sah man auf den Eingang des Restaurants, den Hof und die überdachte Terrasse.
Höchst angetan von ihrem Domizil auf Zeit kehrte Pippa nach ihrem Rundgang zu Pia zurück, die auf der Arbeitsplatte der Küchenzeile saß, mit den Beinen baumelte und erwartungsvoll grinste. »Genau dein Geschmack, oder?«
»Absolut! Ich bin beeindruckt«, sagte Pippa begeistert.
»Das war nicht zu übersehen.«
Pippa wunderte sich kurz über Pias süffisanten Tonfall. Verdutzt ließ sie sich auf einen der Küchenstühle fallen, als ihr ein Licht aufging. »Du meinst überhaupt nicht diese entzückende Wohnung – du sprichst von Pascal! Du hattest Hintergedanken, als du mich hierhergelockt hast.«
Pia präsentierte einen unschuldigen Augenaufschlag. »Ich wollte nur das Notwendige mit dem Angenehmen verbinden. Jedes Obsttörtchen wird durch einen Klecks Sahne geadelt. Und wenn die Sahne dann noch von einer leckeren Kirsche gekrönt wird …«
Wie aufs Stichwort kam das Gesprächsthema mit Pippas Gepäck zur Tür herein.
»Mit der Kirsche ist hoffentlich diese Wohnung gemeint und mit der Sahne der Auftrag, auf Tibor und seine Crew aufzupassen – und nicht umgekehrt«, sagte Pascal und stellte die Koffer ab. »Ich bin sicher, Sie werden sich hier wohl fühlen. Was immer ich dazu beitragen kann …«
»Jede Menge, möchte ich wetten«, murmelte Pia kaum hörbar, sprang von der Arbeitsplatte, setzte sich zu Pippa und lud Pascal per Handzeichen ein, sich ebenfalls niederzulassen.
»Hast du Pippa schon alles erzählt?«, fragte er.
»Zum Teil.«
Pippa, die inständig hoffte, dass man ihr die Verlegenheit angesichts des attraktiven Kochs nicht ansah, blickte Pia erstaunt an. »Wie viele Teile gibt es denn? Und wovon?«
»Von der Rue Cassoulet Nr. 4«, erwiderte sie ernst, »zu viele unbekannte und wahrscheinlich noch mehr unerwünschte.«
Pascal nickte. »Vermutlich hätten Lisette und Ferdinand niemals einen anderen Käufer für das Haus gefunden als Pia und Jochen.«
»Vielleicht hätte es geholfen, es nicht so verkommen zu lassen«, sagte Pippa trocken.
»Keine Chance.« Pascal hob beide Hände. »Kein Einheimischer betritt dieses Haus – weder Makler noch Handwerker, und erst recht nicht Lisette und Ferdinand.«
Sieh an, dachte Pippa, also sind Tibor und seine Jungs nicht nur billige, sondern auch ahnungslose Arbeitskräfte …
»Uns liegt viel daran, dass die Gerüchte endlich verstummen – und das geht nur, wenn wir wissen, was damals wirklich passiert ist.« Pia sah Pippa bittend an.
»Eintausendsiebenhundert Kilometer lang habe ich wirklich geglaubt, ich sollte hier nur eine gemütliche Bauaufsicht übernehmen«, gab diese zurück. »Danke, Pia.«
»Um ehrlich zu sein – es war meine Idee«, gab Pascal zu. »Pia hat so viel von Ihnen erzählt und davon, dass Sie schon zwei Mal an Mordermittlungen beteiligt waren.« Er nahm ihre Hand und fügte eindringlich hinzu: »Ich bin überzeugt, du bist die Richtige für diese Aufgabe.«
Pippa bewunderte Pascals Überredungskunst. Dieser Mann übersprang spielend mehrere Stufen des Kennenlernens – und das auf äußerst charmante Weise. Sie zog ihre Hand aus seiner und sagte: »Ich dachte, niemand weiß, ob in diesem Haus tatsächlich ein Mord geschah. Außerdem kann ich mich nicht erinnern, je meine Dienste als Detektivin angeboten zu haben. Ich bin Übersetzerin und hüte Häuser. Das ist alles.«
»Aber du hast doch schon Mörder überführt!«, rief Pascal.
Pippa machte eine abwehrende Handbewegung. »Alles purer Zufall und ein paar unerwartet zielsichere Treffer meines Gehirns. Eigentlich wollte ich immer nur meine Ruhe wiederhaben. Auf keinen Fall würde ich sagen, dass ich die Mörder überführt habe.«
»Du untertreibst maßlos«, meldete sich Pia zu Wort. »Immerhin war ich auf Schreberwerder dabei.«
Pascal stand auf und öffnete den Kühlschrank. Gerührt registrierte Pippa, dass dieser bis zum Rand mit Leckereien gefüllt war. Der Koch holte eine Flasche Blanquette heraus und nahm drei Gläser vom Regal über der Spüle, bevor er zum Tisch zurückkehrte.
»Alles steht bereit, falls du dich selbst verpflegen willst. Frühstück und Abendessen warten dann in Pascals Restaurant«, sagte Pia.
Pippa deutete auf den Kühlschrank. »Wenn ihr glaubt, dass ihr mich auf diese Art rumkriegt«, sie schwieg und kostete die mit Spannung geladene Stille voll aus, »… dann habt ihr absolut recht.«
Pia und Pascal sahen sich erleichtert an und riefen synchron: »Dann wirst du uns helfen?«
»Ich werde es versuchen. Aber ich halte es für eine verrückte Idee, mich mit Detektivarbeit zu betrauen. Ich kenne weder die beteiligten Personen noch die Gegend hier. Und noch dazu reden wir von einem Vielleicht-Mord. Es gab schließlich nicht mal eine Leiche!«
»Die Gegend wird Pascal dir …«, rief Pia aufgeregt.
»Genau! Und die Legrands erzählen dir alles über den Fall, und ansonsten fragst du im Dorf herum«, fiel Pascal ihr ins Wort.
»Mein Französisch ist allerdings miserabel«, gab Pippa zu bedenken.
»Aber, aber!« Pascal lächelte sie strahlend an. »Stell dein Licht nicht unter den Scheffel – außerdem gibt es immer noch mich, wenn du nicht weiterweißt. Hand drauf, Pippa.«
Wie hypnotisiert starrte Pippa auf die Hand, die er ihr hinstreckte. Sie dachte fieberhaft nach. Dass sie die Wahrheit über die Rue Cassoulet 4 herausfinden würde, hielt sie für mehr als unwahrscheinlich, aber wenn ihr das die Gelegenheit gab, mit diesem Bild von einem Franzosen Zeit zu verbringen, sollte es ihr recht sein.
Pippa schlug ein, und Pia ließ den Korken aus der Flasche schießen. Der Schaumwein sprudelte in die Gläser, und sie stießen gutgelaunt auf die Vereinbarung an.
Sie kamen nicht dazu, den Blanquette auch zu trinken, denn lautes Geschrei aus dem Hof störte die fröhliche Runde.
Eine durchdringende Frauenstimme verlangte herrisch nach Pascal, und dieser reckte den Hals, um aus dem Fenster zu blicken. Was er sah, schien ihm nicht zu gefallen, denn er verzog das Gesicht und stellte sein Glas mit einem Seufzer ab.
»Stammgäste«, sagte er, »früher als erwün… als angekündigt. Ich werde Lisette beim Einchecken helfen, Ferdinand ist noch nicht vom Markt zurück.«
Die Neugier trieb Pippa ans Fenster. Vor dem Eingang des Restaurants standen zwei Frauen inmitten von Gepäck, und auf dem Parkplatz erkannte sie den Bus der Angler aus Berlin. Ein paar der Männer schleppten weitere Koffer und Taschen heran.
»Das gibt es nicht!«, sagte Pippa erstaunt. »Wie klein die Welt ist. Unsere Retter von der Autobahn, Pia! Wo wollen die denn unterkommen? Habt ihr so viele Wohnungen, Pascal?«
Der Koch schüttelte den Kopf. »Nur die Damen ziehen hier ein. Die Männer zelten auf dem hauseigenen Campingplatz am anderen Seeufer – die wollen nur ihre Zelte abholen.« Mit deutlichem Widerwillen ging er zur Tür.
»Du lässt mich doch jetzt nicht alles allein mit Pippa besprechen?«, fragte Pia.
Pascal zuckte bedauernd die Achseln. »Kann ich momentan nicht ändern. Familienbetrieb und selbständig, da gibt es kein Entkommen. Wird Zeit, dass ich mir eine vielköpfige Familie zulege, die für ihr Erbe um die Wette ackert. Wir sehen uns beim Abendessen. Auf der Terrasse.«
Vergeblich suchte Tatjana Remmertshausen in Pascals Gesicht nach Anzeichen von Freude darüber, sie endlich wiederzusehen. Hieß es auch bei ihm: aus den Augen, aus dem Sinn? Hatte er deshalb ihre Mails nicht mehr beantwortet?
»Pascal«, sagte sie leise, »was ist denn los? Freust du dich nicht, mich zu sehen?«
Pascal runzelte die Stirn. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück, um ihrer drängenden Nähe zu entgehen, aber Tatjana folgte ihm.
Der Koch machte eine höfliche Verbeugung. »Wie schön, dass Sie wieder bei uns zu Gast sind, Madame. Ich hoffe, Sie und Ihre Freunde haben einen angenehmen Aufenthalt.«
»Das sind nicht meine Freunde«, zischte Tatjana, »das weißt du ganz genau.«
Einige ihrer Mitfahrer waren näher gekommen, sie bemerkte, dass Achim Schwätzer interessiert die Ohren spitzte. Tatjana sah sich schnell nach Gerald um, aber ihr Mann bugsierte gerade einen riesigen Gaskocher zurück in den Bus und hatte keine Augen für sie.
Als Pascal sich anschickte, Sissi zu begrüßen und die Angler für den Campingplatz einzuweisen, schaltete Tatjana einen Gang höher. Sie ließ sich gegen Pascal fallen und hauchte: »Mir ist furchtbar heiß. Ich glaube, ich werde ohnmächtig.«
Pascal rief sofort nach ihrem Gatten und übergab sie umstandslos an Remmertshausen, der die junge Frau in den Schatten der Terrasse zog.
Tatjana genoss die Aufmerksamkeit, die ihr zuteilwurde, sichtlich, registrierte aber dennoch, dass Pascals Blicke immer wieder zu einem Fenster im Obergeschoss des Seitenflügels wanderten. Sie bat ihren Mann um ein Glas Wasser, um Pascal in Ruhe beobachten zu können.
Tatjana presste die Lippen zusammen, als sie bemerkte, dass am Fenster eine Frau stand und das Treiben im Hof beobachtete. Eine Frau mittleren Alters, mit absurd roten Haaren und etlichen Pfund zu viel auf den Hüften.
Erleichtert atmete sie auf. Gott sei Dank keine Konkurrenz, dachte sie und winkte der Rothaarigen fröhlich zu, die ihren Gruß erstaunt erwiderte. Auf das Glas Wasser wartete sie nicht mehr.
Als Tatjana Remmertshausen das Vent Fou betrat, hatte sie bereits einen Plan: Sie würde sich mit dieser Rothaarigen anfreunden. Denn falls diese einen direkten Draht zu Pascal hatte, könnte sich das als sehr nützlich erweisen.
Am späten Nachmittag schlenderten Pia und Pippa durch den Ort und genossen es, sich nach zwei Tagen Fahrt die Füße vertreten zu können.
Pippa deutete auf das Schild der ansteigenden Straße, in die sie einbogen. »Rue Soupe à l’Aile Rose?«, fragte sie amüsiert. »Straße der rosa Knoblauchsuppe? Wie kommt man denn auf diesen Straßennamen? Die Leute hier haben Humor.«
Als Pia nickte, stieß Pippa sie in die Seite. »Nun erzähl schon, du weißt doch etwas darüber.«
»Der Ort wurde zusammen mit dem See zur Zeit des Sonnenkönigs angelegt. Die Seen der Umgebung, wie unser Lac Chantilly oder der Lac Saint-Ferréol, speisen den Canal du Midi, den berühmten Wasserweg von Toulouse zum Mittelmeer. Der Lac Saint-Ferréol ist bis heute das Hauptreservoir für den Kanal, unser Stausee hier war schon immer weniger Notwendigkeit als vielmehr Ausflugs- und Anglerparadies.«
»Davon leben die Legrands«, sagte Pippa.
»Genau.« Pia nickte. »Die Angler sind ihre Haupteinnahmequelle. Sie kommen einzeln oder in Gruppen. Ihre Fänge sind beliebtes Zahlungsmittel für ihre Unterkunft und bereichern Pascals Speisekarte um manche Delikatesse.«
Der Anstieg endete hinter der Ortsgrenze. Von hier reichte der Blick bis hinunter nach Revel, da die kargen Hügel unbebaut waren und nur ein schmaler Fahrradweg ins Tal führte. Zwischen zwei einsamen Buchen hatte man eine Bank aufgestellt, unter der sich die weite Ebene ausbreitete.
»Ist das schön!«, sagte Pippa und bat die Freundin, sich einen Moment zu setzen und das Panorama zu genießen. Ein wenig fühlte Pippa sich an die Cotswolds erinnert, aber die Landschaft war wilder und ungezähmter als die englische Heimat ihrer Mutter.
Aus Chantilly quälte sich ein Rennradfahrer zu ihnen herauf, passierte sie keuchend und stürzte sich dann in rasender Schussfahrt auf der anderen Seite hinunter.
»Todesmutig. Das sind doch mindestens fünfzehn Prozent Gefälle«, sagte Pippa besorgt.
»Wer die Bremse benutzt, ist feige«, erwiderte Pia lachend und zeigte auf vier Jungs auf Mountainbikes, die sich gegenseitig anfeuerten, auf der Steigung nicht schlappzumachen. »Die Didier-Söhne«, sagte sie und verdrehte die Augen. »Wenigstens hört man sie kommen, von unauffälligem Anschleichen verstehen die Bengel nichts.«
Der Erste hatte die Hügelkuppe erreicht und begrüßte den Abhang mit wildem Geheul.
»Das war Eric«, kommentierte Pia und fuhr in schneller Folge fort: »Marc. Franck. Cedric.« Bei jedem Namen flog ein weiterer kräftiger Teenager an ihnen vorbei und verschwand johlend die steile Straße hinunter.
»Runter brauchen sie nur fünf Minuten«, kommentierte Pia, »zurück mindestens eine halbe Stunde. Glückliches Chantilly-sur-Lac – dreißig Minuten Ruhe und Frieden.«
Pippa sah die Freundin forschend von der Seite an. »Es muss doch einen Grund geben, warum du so schlecht auf die Jungs zu sprechen bist. Raus mit der Sprache: Wer von ihnen stellt eurer Bonnie nach?«
»Alle«, sagte Pia grimmig. »Ich bin kurz davor, richtig sauer zu werden.« Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Ich sollte langsam an Toulouse denken. Jochen wird mich schon vermissen. Wollen wir?«
Sie folgten einer Querstraße oberhalb des Ortes und bogen dann in die Rue Millasson ein, die zum See hinunterführte.
»Diesmal gehen wir also durch eine Nachspeise«, sagte Pippa. »Und du hast mir immer noch nicht erzählt, warum.«
»Stimmt, die Straßennamen! Die sind gelebter Eigensinn. Alle Welt hat sich damals an Versailles orientiert. Die Leute hier hielten sich zwar brav an die vorgegebenen Baupläne, lebten ihre anarchische Ader dann aber bei den Namen aus: Alle Nebenstraßen sind nach okzitanischen Nationalgerichten benannt, die großen Straßen nach Weinen von den Südhängen der Gegend.« Sie lachte. »Sie haben ihr eigenes Süppchen gekocht – im wahrsten Sinne des Wortes.«
»Und mit diesen Querköpfen bekomme ich es also jetzt zu tun. Prost Mahlzeit!«
»Tröste dich«, sagte Pia, »Pascal ist Vollblut-Elsässer, und Lisette ist hier nur assimiliert … Sieh mal, dort sitzt sie!«
Sie hatten die Hauptstraße, die Rue Cinsault, wieder erreicht, und Pia zeigte hinüber zur Eisdiele neben der Einfahrt des Vent Fou. Lisette Legrand genoss die warme Spätnachmittagssonne und nippte an einem Espresso. Am Nebentisch saß ein turtelndes, sichtlich verliebtes Paar, in dem Pippa zwei Mitglieder der Anglertruppe wiedererkannte.
Lisette hatte Pia und Pippa entdeckt und winkte sie an ihren Tisch. Zur Erinnerung an Leo und florentinische Eisdielen bestellte Pippa sich einen opulenten Eisbecher, während Pia sich mit einem erfrischenden Eiskaffee begnügte.
»Mögen Sie mir etwas über das Haus in der Rue Cassoulet erzählen, Lisette?«, bat Pippa, aber die Wirtin des Vent Fou winkte ab.
»Meine Liebe, alles, was ich Ihnen erzählen würde, wäre durch meine Sichtweise gefärbt, und das halte ich nicht für hilfreich. Ich habe beschlossen, Sie alles selbst herausfinden zu lassen – nur dann können Sie Ihre eigenen Schlüsse ziehen und werden nicht von mir auf einen Weg geführt, der sich vielleicht als Sackgasse erweist oder Sie blind für neue Erkenntnisse macht. Ganz gleich, was Sie herausfinden – es wird mehr Wahrheit enthalten, als ich Ihnen nach langen Jahren des Nachdenkens offerieren kann. Selbst wenn Sie nur herausfinden, was wir schon wissen, ist Ferdinand und mir mehr geholfen, als Sie ahnen.«
Pippa war überrascht. Auf der einen Seite will Lisette nichts verraten, um mich nicht zu beeinflussen, dachte sie, auf der anderen schlägt Pascal vor, für mich zu dolmetschen – damit könnte er mich aber nicht nur beeinflussen, sondern auch meine sämtlichen Schritte kontrollieren.
Eine höchst interessante Konstellation, die nur bedeuten konnte, dass die beiden völlig unterschiedliche Gründe für den gleichen Auftrag hatten.
»Hat jeder den Aufbauplan zur Hand?«, fragte Blasko Maria Krabbe, aber niemand reagierte. Er stemmte die Hände in die Hüften und sah sich streng um. Dieses unkoordinierte Chaos machte ihn wahnsinnig – wie konnten erwachsene Männer nur derart undiszipliniert sein? Aus seiner Sicht bauten seine Angelfreunde ihre Zelte deutlich zu planlos auf. Wenn seine Männer in der Kaserne sich so konfus aufführen würden, dann würde er sie exerzieren lassen, bis keiner mehr aufrecht stehen konnte.
Er schnaubte ärgerlich. »Haltet euch an meinen Plan, Männer! Kreisförmige, geschlossene Anordnung der Unterkünfte, damit die Sicherheit im Camp gewährleistet ist – nicht einfach durcheinander!«
»Entspann dich, Blasko«, sagte Wolfgang Schmidt, »wir sind schließlich nicht im Krieg.«
»Das ausgerechnet aus deinem Mund, Wolle.« Blasko schnaubte wieder. »Ich möchte dich mal sehen, wenn dein Dezernat …«
»Wir sind im Urlaub, Blasko, Ur-laub«, schaltete Bruno Brandauer sich ein. »Entspannung, keine beruflichen Pflichten und alle Zeit der Welt. Alle Zeit der Welt.«
»Für mich ist das hier alles andere als entspannend«, grollte Krabbe weiter und ging kopfschüttelnd zu Hotte und Rudi. Die beiden hockten kichernd unter ihrem Zelt, das gerade zum zweiten Mal zusammengebrochen war.
»Wer mit wem?«, fragte Achim Schwätzer und richtete sich auf, nachdem er den letzten Hering in den Boden geschlagen hatte.
»Frag Blasko«, gab Schmidt zurück, »ich setze einen Hunderter, dass er auch dafür einen Plan hat.«
Krabbe hatte ihn gehört und rief: »Natürlich habe ich das festgelegt. Moment.«
Aus den Tiefen der Cargotasche an seinem linken Hosenbein zog er ein Blatt Papier. Ehe er es auseinanderfalten konnte, sagte Hotte: »Jetzt mach mal halblang, du Spinner, und fass lieber mit an. Wir sind nicht deine Kompanie oder wie man deine grüne Zombie-Truppe auch immer nennt.«
Blasko Maria Krabbe schnappte empört nach Luft. »Meine Kompanie funktioniert wenigstens reibungslos. Ihr hingegen seid ein Sauhaufen. Ich komme mir vor wie im Kindergarten!«
»Pass auf, was du sagst!« Hottes Augen funkelten angriffslustig.
»Bitte, liebe Freunde! Wir wollen uns doch alle vertragen«, sagte Bruno Brandauer beschwörend und rang die Hände.
»Spitze. Erst lässt Blasko den Vier-Sterne-General raushängen und jetzt Bruno den Sozialarbeiter.« Rudi verdrehte die Augen. »Wenn wir so weitermachen, holt Wolle gleich Handschellen aus seinem Koffer und Doktor Gerald die Beruhigungsspritzen.«
Die gespannte Stimmung löste sich in allgemeinem Gelächter, selbst Krabbe stimmte ein.
»Also: die Zeltverteilung«, fuhr Rudi fort. »Ich teile mein Zelt natürlich mit Hotte. Wolle, du gehst sicher mit deinem Schwager in eins, oder?«
»Auf jeden Fall. Bei uns wäre aber noch Platz für einen Dritten, unser Steilwandzelt ist groß genug. Vinzenz, willst du?«, fragte Schmidt.
Vinzenz Beringer schüttelte den Kopf. »Nicht nötig. Ich hab ein eigenes Zelt dabei. Hat Jan Weber mir geliehen. Das baue ich dort hinten auf.« Er zeigte zum äußersten Rand des Campingplatzes. »Ich schnarche.«
»Dann schlage ich vor, dass sich unsere beiden Ehemänner ein Zelt teilen«, sagte Blasko eilig, um wenigstens noch den Rest der Zelte zuordnen zu können. »Einverstanden, Gerald? Lothar?«
Da kein Einspruch kam, fuhr er fort: »Außerdem Franz und Achim, dann bleiben noch Bruno und ich.«
Keiner hatte Lust, wieder mit Blasko zu streiten, damit war die Verteilung der Zelte beschlossene Sache.
Pippa hatte Pia nachgewunken und dann begonnen, sich in ihrer Wohnung einzurichten. Die Kleidung hing im Schrank oder lag ordentlich gefaltet in der windschiefen Kommode, die Hüte hingen an den einfachen Garderobenhaken, und die Wörterbücher und sonstige Literatur und Unterlagen, die sie für ihren Hemingway-Auftrag benötigte, hatten Platz im Regal gefunden. Gerade hatte sie den WLAN-Schlüssel eingegeben und ihren Computer wieder heruntergefahren, als ihr Blick müßig aus dem Fenster schweifte. Dass sie bei der Arbeit auf den See blicken konnte, war ein willkommenes Geschenk. Die süße Kirsche auf der Sahne, dachte sie.
Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, was am gegenüberliegenden Ufer des Sees vor sich ging. Dort flackerte bereits ein Lagerfeuer, und ein Dutzend Männer baute ein Zeltlager auf. Die Angler haben schon die ersten Fische auf dem Grill, dachte Pippa. Zeit, dass ich mir meine nächste Pascal-Ration hole. Die sollte ich weder anbrennen noch kalt werden lassen.
Ich esse nur einen Happen und gehe dann früh ins Bett, schwor sie sich, als sie die Terrasse vor dem Hotel betrat.
Das verliebte Paar aus der Eisdiele turtelte bereits an einem der Tische. An einem weiteren saß die Frau, die Pascal am Nachmittag auf den Leib gerückt war, zusammen mit einem deutlich älteren Mann. Pippa schlängelte sich an den beiden vorbei, um einen Schattenplatz zu erreichen, als die Frau aufsprang und ihr den Weg versperrte.
»Guten Abend, ich höre, Sie sind aus Berlin und ebenfalls heute angekommen«, sagte sie strahlend und streckte Pippa die Hand hin. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Mein Name ist Tatjana Remmertshausen – das ist Gerald, mein Mann.«
Dein Mann?, dachte Pippa. War er der beste Freund deines Vaters? Sie ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken und schüttelte die angebotene Hand.
»Pippa Bolle«, sagte sie.
»Setzen Sie sich doch bitte zu uns«, fuhr Tatjana Remmertshausen fort. »Ich bitte Pascal, noch ein Gedeck …«
»Die Dame hat einen weiten Weg hinter sich und möchte sicher ihre Ruhe«, meldete ihr Gatte sich zu Wort.
Da will jemand eindeutig keine fremden Leute am Tisch haben, dachte Pippa und zögerte. Einerseits wollte sie Tatjana gegenüber nicht unhöflich sein, andererseits …
Die Entscheidung wurde ihr abgenommen, als eine Hand sie sanft am Ellbogen fasste und eine männliche Stimme sagte: »Entschuldige die Verspätung. Ich habe beim Malen die Zeit vergessen. Kommst du? Wir sitzen dort drüben.«
Vor Verblüffung zu keiner anderen Reaktion fähig ließ Pippa sich von dem Maler, den sie und Pia nachmittags im Pavillon am See getroffen hatten, zu einem romantisch beleuchteten Tisch führen, auf dem bereits eine gut gekühlte Flasche Clairette stand.
Charmant zog er ihren Stuhl zurück und bat sie mit einer Handbewegung, Platz zu nehmen. Dann setzte er sich ihr gegenüber, lächelte sie entwaffnend an und sagte leise: »Vielen Dank, dass Sie mitspielen. Ich habe mich den ganzen Nachmittag gefragt, wie ich Sie ansprechen kann, ohne mir eine Abfuhr zu holen.«
Er erhob sich kurz und verbeugte sich wie ein Gentleman. »Alexandre Tisserand, Auftragsmaler und Restaurator auf Inspirations- und Angelurlaub. Bitte gönnen Sie mir diesen Abend in Ihrer Gesellschaft. Ich habe sonst so selten Gelegenheit, Deutsch zu sprechen.«
»Gern«, sagte Pippa geschmeichelt und fügte hinzu: »Pippa Bolle. Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Von mir aus können wir auch gerne beim Du bleiben.« Sie zwinkerte ihm zu. »Schließlich kennen wir uns schon Urzeiten, nicht wahr?«
Er nickte erfreut, und sie bemerkte aus den Augenwinkeln, dass Tatjana sie nicht nur gespannt beobachtete, sondern seltsamerweise gleichzeitig erleichtert wirkte.
Pippa wandte ihre Aufmerksamkeit ihrem Gegenüber zu. »Bist du zum ersten Mal in Chantilly-sur-Lac, Alexandre?«
»Zum ersten Mal in diesem Hotel. Ich komme seit mehr als zwanzig Jahren hierher – es ist so herrlich nah an Toulouse. Ich wohne normalerweise oben auf dem Hügel im Chambres d’hôtes au Paradis. Wegen des Lichts und wegen der Ruhe. Aber diesmal will ich nicht nur malen, sondern auch angeln. Und beides lässt sich am besten verbinden, wenn ich direkt am See logiere.«
Sofort wurde Pippa hellhörig. »Seit zwanzig Jahren? Dann kennst du hier bestimmt jeden Baum und jeden Strauch.«
»Wenn ich ihn schon mal gemalt habe, ganz sicher.« Sein strahlendes Lächeln enthüllte blendend weiße, ebenmäßige Zähne. »Warum fragst du?«
»Ich möchte hier einige Nachforschungen anstellen«, antwortete Pippa, »aber ich weiß nicht, wie, und auch nicht, wo ich anfangen soll.«
Wieder deutete Tisserand eine Verbeugung an. »Ich bin gerne bereit, mein Wissen mit dir zu teilen. Urlaub ist dazu da, Überraschendes zu tun.«
Erst sehr viel später, als sie bei offenem Fenster in ihrem Bett lag, den Geräuschen der lauen Sommernacht lauschte und den Tag Revue passieren ließ, fiel Pippa auf, dass Alexandre Tisserand an diesem Abend viel von ihr und ihrem Auftrag erfahren hatte. Sie hingegen wusste noch immer nicht, warum er ein so hervorragendes Deutsch sprach. Aber die Erinnerung an Pascals Blick, als er sie zusammen mit dem gutaussehenden Maler am Tisch hatte sitzen sehen, ließ sie lächelnd einschlafen.