Kapitel 20
Pippa hatte keine Ahnung, wie weit sie schon mitgerissen worden war oder wie lange ihre Rutschpartie bereits dauerte. Sie kämpfte wütend und verbissen gegen ihre Erschöpfung an. Das Schicksal konnte unmöglich vorgesehen haben, dass sie kurz vor ihrem vierzigsten Geburtstag in einer französischen Wasserrinne ertrank. Schon allein um den außer Rand und Band geratenen Didier-Bengeln gehörig die Ohren langziehen zu können, mobilisierte sie ihre letzten Kräfte. Dem Steinhagel auszuweichen war schon kein Spaß mehr gewesen, aber dass ausgerechnet jetzt auch noch der Wasserwart das Wehr öffnen musste, ließ sie an ihrer gerade erwachten Sympathie für die Schwarzen Berge zweifeln.
Die donnernden Fluten schleiften sie unbarmherzig weiter durch die Betonrinne, als Pippa sah, dass sie sich einer Brücke näherte.
Jetzt oder nie, dachte sie und streckte die Arme aus. Sie umklammerte den eisernen Brückenpfeiler, und die rasende Rutschpartie stoppte mit einem heftigen Ruck.
»Au, verdammt!«, schrie sie, denn es fühlte sich an, als würden ihr die Arme aus den Schultergelenken gerissen. Die Seitenteile der Eisenpfeiler machten der hiesigen Schmiedekunst alle Ehre, sie waren mit verschnörkelten Rosenblüten, -ranken und -blättern verziert.
Pippa schaffte es, Hände und Füße in die Aussparungen zu stecken, und konnte endlich einen Moment lang verschnaufen, während das Wasser nun vergeblich an ihr zerrte. Um sich eine noch sicherere Position zu verschaffen, schob sie sich langsam zwischen Pfeiler und Rinnenwand und konnte ihre schmerzenden und verkrampften Arme und Beine etwas entlasten.
Minuten dehnten sich zur Ewigkeit, aber endlich floss das Wasser deutlich ruhiger, und sie wagte sich aus ihrer Deckung. Sie benutzte die Verzierungen des Brückenpfeilers, um sich hinaufzuziehen und aus der Rinne zu klettern.
Völlig erschöpft ließ Pippa sich am Ufer auf den Rücken fallen und schloss die Augen. Jetzt schlafen, nur schlafen, dachte sie müde.
Sie spürte, wie sie langsam wegdämmerte, und zwang sich, die Augen wieder zu öffnen. Mittlerweile war es stockfinster geworden, und sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Mühsam rappelte sie sich auf und stand schwankend in der Dunkelheit. Ihre Kleidung war verdreckt und zerrissen, und sie fror am ganzen Körper. Sie musste unbedingt ins Warme, und das so schnell wie möglich.
Langsam setzte sie sich in Bewegung und folgte einfach dem Weg.
Wie ein Automat setzte sie Schritt vor Schritt, noch immer zitternd vor Schock und Angst, aber angetrieben von purem Überlebenswillen. Beinahe glaubte Pippa an eine Halluzination, als sie nach der nächsten Wegbiegung ein Natursteinhaus erblickte, aus dessen Fenster ihr einladendes Licht entgegenschien. Vor Erleichterung kamen ihr die Tränen, als sie das Schild an der kurzen Auffahrt las: Willkommen im Paradies.
Pippa betrat den Hof, als plötzlich mehrere Lampen aufflammten und ihr den Weg wiesen. An der Haustür hing eine alte Schiffsglocke; sie lärmte ohrenbetäubend, als Pippa sie anschlug.
Zweifelnd sah sie an sich hinunter. Ihr Äußeres war nicht gerade vertrauenerweckend: Ihre Kleidung starrte vor Dreck, ihre Haare klebten am Kopf, das linke Hosenbein war zerfetzt und zeigte ein aufgeschürftes, blutiges Knie. Jede Vogelscheuche sah besser aus. Pippa betete, dass man ihr nicht die Tür vor der Nase zuschlagen würde.
Endlich näherten sich Schritte, und die Tür ging auf. Vor Pippa stand Régine, die Hünin mit dem Motorroller.
Sie musterte Pippa schweigend.
Dann sagte sie: »Sieh an, noch eine nasse Katze«, fasste Pippa am Arm und zog sie umstandslos ins Haus.
Die Wirtin stieß einen leisen Pfiff aus, und prompt kam eine Katze angelaufen, der das nasse Fell auf der Haut klebte wie die Kleidung an Pippa.
Régine bugsierte Pippa eine Treppe hinauf in den ersten Stock und schob sie in ein erstaunlich modern eingerichtetes Badezimmer mit groben Natursteinwänden. Während sie die Hähne der Badewanne aufdrehte, um Pippa ein heißes Bad einzulassen, plauderte sie, als wäre Pippa ein ganz normaler Gast und als gäbe es keinerlei andere Fragen: »Ihre Schicksalsgenossin ist meine kleine Blanquette. Cinsault und Clairette treiben sich noch draußen herum! Und dabei heißt es, dass Katzen kein Wasser mögen. Völliger Unsinn, oder?« Sie schüttelte den Kopf. »Und jetzt runter mit den nassen Kleidern und ab in die Wanne.«
Pippa war unendlich froh, dass nichts anderes von ihr erwartet wurde, als sich aufzuwärmen. Sie warf ihrer Gastgeberin einen dankbaren Blick zu und genoss das Wohlwollen, das ihr entgegengebracht wurde. Einfach nur ausruhen, dachte Pippa und streifte sich die nassen Schuhe von den Füßen.
»Ich bin Régine«, sagte die Wirtin, »herzlich willkommen in meinem Paradies.«
»Pippa, Pippa Bolle«, krächzte Pippa.
Régine lächelte. »Das weiß nun wirklich ganz Chantilly-sur-Lac, meine Liebe.«
Die Paradies-Wirtin ließ sie allein, und Pippa zog sich aus und stieg in das dampfend heiße Wasser. Ihr Körper schmerzte, aber die Wärme brachte Erleichterung und Entspannung. Sie schloss die Augen und lag still in der Badewanne. Erst gestern Nacht habe ich ein Bad im warmen See genossen, dachte sie, und vorhin musste ich im eiskalten Wasser der Bergbäche um mein Leben kämpfen …
Als sie die Wanne verließ, entdeckte sie, dass ein großes, weiches Badetuch und ein voluminöser Bademantel bereitlagen. Ihre nasse Kleidung war verschwunden. Régine musste noch einmal im Badezimmer gewesen sein, ohne dass Pippa es mitbekommen hatte.
Régine erwartete sie im mollig warmen Wintergarten. Ein Feuer brannte im Kamin, und das Holz knisterte und knackte. Die Wirtin reichte ihr einen Becher heißer Milch und bat Pippa mit einer Handbewegung auf eine gemütliche Récamière, während sie selbst in einem ausladenden Sessel Platz nahm. Pippa nippte vorsichtig, um sich nicht die Lippen zu verbrennen, obwohl sie das Getränk am liebsten in einem Schluck hinuntergestürzt hätte. Die Milch schmeckte köstlich und wärmte ihren Magen gründlicher durch, als sie es sonst von diesem Getränk gewohnt war. Pippa sah ihre Gastgeberin fragend an.
»Ich koche, ich braue, ich brenne …«, sagte Régine und zuckte mit den Achseln, »hier oben muss man autark sein.« Sie hob ihren Becher und prostete Pippa zu. »Sie werden mit Calvados wesentlich besser schlafen als ohne.«
»Zweifellos«, erwiderte Pippa, »aber zwischen mir und meinem Bett liegen noch etliche Kilometer glitschiger Waldweg.«
Die Wirtin schüttelte energisch den Kopf. »Kommt überhaupt nicht in Frage, heute Nacht gehen Sie nirgends mehr hin. Bis Samstag sind meine drei Zimmer frei. Suchen Sie sich eines aus. Zimmer und Frühstück gehen aufs Haus – aber dafür erzählen Sie mir haarklein, wie Sie in diesem interessanten Zustand bis vor meine Tür gekommen sind.«
Bereitwillig berichtete Pippa von dem Picknick, der Angelstunde am Bergbach und dem, was passiert war, als die Kiemenkerle schon auf dem Weg zurück nach Chantilly waren. Bei der Schilderung der dramatischen Vorfälle wich das Lächeln in Régines Gesicht einer zunehmend ungläubigen Miene.
»Und dann wollte ich den Didier-Jungs ein Schnippchen schlagen und bin in die trockene Rinne, um in ihrer Deckung zum Campingplatz zu gelangen«, schloss Pippa. »Bei meinem sprichwörtlichen Glück musste der Wasserwart natürlich ausgerechnet heute die Wehre öffnen und mir einen Ritt auf den Wellen verschaffen.« Sie schnaubte ärgerlich.
Régine sah aus dem Fenster in den strömenden Regen. Dann sagte sie nachdenklich: »Bei dem bisschen Wasser? Es regnet doch noch gar nicht lange. Das glaube ich nicht. Außerdem – heute ist doch Donnerstag, oder?« Sie vergewisserte sich mit einem Blick auf den Kalender am Kamin. »Heute öffnet niemand die Schleusen.«
Hätte ich eigentlich wissen müssen, dachte Pippa und fragte: »Nur um mich zu vergewissern: Der Wasserwart heißt nicht zufällig Dupont?«
Régine nickte. »Genau. Und der hat heute ganz bestimmt nicht den Befehl zum Ablassen des Wassers gegeben.«
»Stört es Sie nicht, dass der Mann nur jeden zweiten Tag wirklich arbeitet?«
»Nö – wollen wir das nicht alle? Dupont hat eine Möglichkeit gefunden, und dafür zollen wir ihm Tribut.« Régine lächelte. »Okzitanier sind Individualisten – und manche eben … doppelt so viel wie andere.«
Pippa verdrehte die Augen. »Deshalb kommen die Kiemenkerle gerne hierher, die sind auch doppelt so viel wie andere. Von allem.«
Régine setzte sich interessiert auf. »Erzählen Sie doch mal – wie sind die Angler denn so? Wäre da was für mich dabei?«
Auf Pippas überraschten Blick hin fügte sie hinzu: »Ja, was denn? Glauben Sie, ich lebe nur von der Aussicht auf die Landschaft? Ich hätte schon gerne einen, der zupacken kann – und zwar in jeder Hinsicht.«
Pippa musterte die Hünin amüsiert, und prompt fiel ihr die Szene an der Mautstation ein. »Vielleicht ist da wirklich jemand. Er heißt Bruno und ist bärenstark. Allerdings ist er vielleicht ein bisschen jung.«
Régine machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das stört mich nicht – dann bleibt er länger frisch.«
Pippa lachte laut heraus, und die Wirtin stimmte ein. Wie gemütlich es hier ist, dachte Pippa und kuschelte sich selig in den weichen Bademantel. »Ich würde etwas darum geben, hierbleiben zu dürfen. Ich bin völlig erschöpft. Aber im Vent Fou wird man sich Sorgen machen, und ich habe noch eine Verabredung mit Kommissar Schmidt.«
»Unsinn«, sagte Régine bestimmt, »für die ist morgen auch noch Zeit. Sie suchen sich ein Bett und schlafen aus. Ich muss heute ohnehin noch ins Tal, ich habe nämlich auch eine Verabredung. Dabei gehe ich im Vent Fou vorbei und hole Ihnen frische Sachen. Ihrem Kommissar sage ich, dass er Sie hier anrufen darf. Versprochen.« Sie grinste. »Und bei der Gelegenheit sehe ich mir mal den starken Bruno an!«
Mit einem Krachen fiel die Haustür hinter Régine ins Schloss. Sekunden später wurde der Motor des Rollers gestartet, und Pippa hörte ihre Wirtin den Berg hinunterknattern.
Sie streckte sich auf der Récamière aus, und sofort kam die Katze heran, kletterte auf Pippas Bauch und rollte sich dort zusammen. Das Kaminfeuer wärmte Pippas Füße, und sie löschte die kleine Lampe neben sich. Bis auf das flackernde Licht der Flammen lag jetzt das ganze Haus im Dunkeln.
Das monotone Prasseln der Regentropfen auf das Glasdach des Wintergartens wirkte entspannend. Aus den Lautsprechern der Musikanlage kam leise Musik okzitanischer Troubadoure, die Régine eingelegt hatte, bevor sie sich verabschiedete.
Ich sollte mich wirklich ins Bett legen, dachte Pippa, aber dann müsste ich die arme Blanquette wecken … und außerdem ist der Weg nach oben viel zu weit …
Die gemütliche Atmosphäre des Hauses nahm sie völlig gefangen. Alle Räume – soweit Pippa sie bisher gesehen hatte – waren in warmen Farben gestrichen und mit alten, aber keineswegs unmodernen Möbeln eingerichtet. Kein Wunder, dass Tisserand hier so gern Quartier nahm, diese Umgebung musste jeden inspirieren.
Pippa konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so ruhig gewesen war, und freute sich schon darauf, den Blick auf den Lac Chantilly bei Tageslicht zu genießen.
Hier möchte ich meinen Vierzigsten feiern, dachte Pippa, nur so für mich, mit einem guten Buch, auf genau dieser Récamière, und wenn ich hochsehe, fällt mein Blick hinaus aus dem Wintergarten bis zum See und hinüber zum Vent Fou. Alles ist schnell erreichbar, wenn ich es will – aber wenn ich nicht will, habe ich hier meine Ruhe. Ich muss Régine unbedingt fragen, ob sie am 13. Juli noch ein freies Zimmer für mich hat …
Als wenig später das Telefon klingelte, erwachte die Katze und hob den Kopf. Pippa hatte überhaupt keine Lust, den Anruf anzunehmen. Bestimmt war es Schmidt, aber sie wollte jetzt einfach nicht reden.
Leider hörte das Gerät nicht auf zu klingeln, und Pippa seufzte ergeben. Sie setzte die Katze in ihren Korb und ging in den Flur, um das Telefon in den Wintergarten zu holen.
»Hallo, Herr Kommissar«, sagte sie, »bis eben war hier alles so friedlich.«
»Ja, ich freue mich auch, mit dir zu sprechen.« Schmidt versuchte, ironisch zu sein, aber die Aufregung in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Ich war halb verrückt vor Sorge! Wir wollten schon einen Suchtrupp organisieren, als plötzlich dieser Felsbrocken von Frau im Lager auftaucht und herumschreit, dass sie sofort einen Kommissar braucht! Ich habe mich fast nicht aus dem Zelt getraut! Und was sie mir erzählt hat, trug auch nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. Brauchst du einen Arzt?«
Prompt bekam Pippa ein schlechtes Gewissen. »Nein, es ist alles in Ordnung mit mir, wirklich. Ich habe nur ein aufgeschürftes Knie und bin ansonsten wieder trocken und warm. Bitte entschuldige meine zickige Begrüßung, aber ich bin wirklich todmüde und hatte gerade keine Lust auf niemand.«
»Das klingt aber gar nicht nach dir, meine Liebe. Bist du ganz sicher, dass du völlig …«
»Mir fehlt nichts, was ein guter Nachtschlaf nicht wieder geradebiegen könnte.«
Schmidt lachte leise. »Das hat dein Wachhund gerade auch sehr deutlich gemacht. Sie will, dass du ausschläfst, und zwar so lange du willst. Ich darf dich erst morgen Nachmittag besuchen – und muss auf jeden Fall vor dem Dunkelwerden wieder verschwinden.«
»Régine hat dich beeindruckt!« Bei dieser Vorstellung konnte Pippa sich ein Kichern nicht verkneifen.
»Wie bitte? Das ist Régine? Die Régine, die uns die Jean-Didier-Akte besorgen will? Die habe ich mir aber ganz anders vorgestellt. Obwohl: In Gegenwart dieser Frau würde Monsieur Dupont wahrscheinlich lieber selber einen Mord gestehen, als sich Ärger einzuhandeln.«
»Nein, die Gendarm-Dupont-Dompteuse ist eine andere Régine. Régine-Une, sozusagen. Régine-Deux gehört das einsame Haus oben auf dem Berg. Das Paradies.«
»Ach, deshalb konnte sie dich so problemlos unterbringen.«
»Hat sie dir denn nicht die Adresse gegeben?«, fragte Pippa verwirrt.
»Sie wollte wohl ganz sichergehen, dass ich nicht sofort losstürze, um dich zu besuchen. Sie hat lediglich die Telefonnummer rausgerückt.«
»Du meine Güte. Warum macht sie denn so ein Geheimnis daraus?«
»Sag ich doch: Wachhund. Vielleicht wusstest du es noch nicht, aber du hast jetzt offenbar einen Bodyguard, vor dem auch ich mich fürchte. Sie will mich morgen mit ihrer Vespa hier abholen.« Schmidt lachte leise. »Wie soll das gehen? Legt sie mich an die Kette, und ich laufe nebenher? Oder schiebe ich sie und den Roller den Berg hinauf?«
Pippa kicherte. »Jetzt weißt du ja, wo ich bin. Du brauchst ihren Service also nicht in Anspruch zu nehmen.«
»Das stimmt. Zu laufen ist mit Sicherheit die weniger abenteuerliche Variante.«
»Eh ich es vergesse: Hat sie zufällig nach Bruno gefragt?«
»Was heißt hier gefragt?«, gab Schmidt zurück. »Sie hat ihn sich unter den Arm geklemmt und ist mit ihm in die Brasserie abgedampft. Wenn ich das richtig verstanden habe, unter der Androhung, ihm die Speisekarte rauf und runter zu bestellen und sein Schicksal zu deuten.«
Pippa lachte laut auf. »Das ist also die Verabredung, die sie hatte!«
»Wie bitte? Verabredung?«, fragte Schmidt verständnislos.
»Vergiss es, es ist nicht wichtig«, antwortete Pippa, »aber das erinnert mich an etwas anderes. Ich habe am Picknickplatz Geralds Smartphone gefunden.«
»Oh – Gott sei Dank!«, rief Schmidt. »Dann kann er aufhören, unsere Zelte zu durchwühlen. Gerald hat uns schon völlig verrückt gemacht. Er führt sich auf, als hätte er Herztabletten verloren, ohne die er die nächsten zwei Stunden nicht überlebt.«
Pippa stöhnte innerlich. »Auch wenn du ihm jetzt sagen kannst, wo es ist – benutzen kann er es leider nicht mehr.«
»Verstehe: Du bist damit durch die Wasserrinne geschossen. Das erklärst du ihm aber bitte selbst. Du weißt doch, der Überbringer der schlechten Nachrichten …«
»Feigling. Dann sag es Tatjana, wenn du dich nicht traust, dem großen Vorsitzenden selbst entgegenzutreten. Und sag ihr auch noch, dass eine Textnachricht zu lesen war.« Pippa versuchte, sich an den Inhalt der Nachricht zu erinnern. »Es war etwas wie Ergebnis wie schon erwartet. Keine Wiederherstellung möglich. Und dann der Name einer Privatklinik: Hôpital Saint-Georges, Toulouse. Unser Herr Doktor wird bestimmt wissen, was gemeint ist. Genauer kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern.«
»Kein Wunder – bei allem, was du hinter dir hast«, sagte Schmidt. »Ich komme dann morgen Nachmittag vorbei. Nachdem ich bei den Didiers war. Diesmal wirst du mich nicht davon abhalten, den Jungs einen Dämpfer zu verpassen.«
»Du hast recht, diesmal sind sie wirklich weit über das Ziel hinausgeschossen«, erwiderte Pippa und seufzte. »Weder die Steinschleuder noch die Schussfahrt durch die Rigole möchte ich noch mal mitmachen müssen.«
»Das wirst du nicht. Versprochen. Stattdessen werden die Jungs ihren ganz eigenen Voodoozauber erleben. Darauf kannst du Gift nehmen. Ich werde berichten.« Er lachte leise und fuhr fort: »Und nun, liebes Geißlein, warte brav auf deine Mutter – und mach dem bösen Wolf nicht auf.«
Pippa legte auf und blieb einen Moment lang regungslos sitzen. Sie spürte bleierne Müdigkeit und entschied, dass es Zeit war, ins Bett zu gehen.
Im ersten Stock besichtigte sie die zur Verfügung stehenden Zimmer. Sollte sie das mit den lachsroten Wänden wählen, in dem ein verschnörkeltes Metallbett mit einer farblich passenden Tagesdecke wartete? Oder den maigrünen Zwilling dieses Raums? Vielleicht doch lieber das helle Zimmer, das in Eierschalenfarben gestaltet war?
Sie entschied sich für den Traum in Maigrün und kuschelte sich schläfrig ins Bett. Es regnete nicht mehr, und so herrschte tiefe Stille. Wohlig glitt sie dem ersehnten Schlaf entgegen, als plötzlich sämtliche Außenlichter um das Haus aufflammten.
Die Bewegungsmelder haben reagiert, dachte Pippa, aber Régine kann es nicht sein, ihre Vespa hätte ich gehört.
Sie lauschte mit angehaltenem Atem, ob die Haustür vielleicht doch klappte, aber nichts dergleichen geschah. Auf Zehenspitzen schlich sie zum Fenster. Sie zuckte zurück, als sie einen Schatten zu sehen glaubte. Spähte jemand durch die Fenster des Wintergartens?
Ihr Herz klopfte schnell, aber sie beruhigte sich damit, dass es ebenso gut Régines andere Katzen gewesen sein konnten, die das Licht ausgelöst hatten.
Pippa kämpfte noch mit sich, ob sie es wagen sollte, nachzusehen, als sie den Roller heranknattern hörte. Erleichtert atmete sie aus und eilte zur Haustür, um Régine-Deux zu öffnen.
Ihre Gastgeberin schälte sich gelassen aus dem schweren Ölzeug, das sie vor Wind und Regen geschützt hatte. Ihre Wangen waren gerötet, aber sie wirkte völlig entspannt und vermittelte den Eindruck, als wäre eine nächtliche Rollerfahrt durch peitschenden Regen genau nach ihrem Geschmack.
Régine deutete auf einen alten Rucksack, der aussah, als hätte Luis Trenker ihn vor Jahren auf einer Wandertour durch die Montagne Noire vor der Tür stehenlassen. »Schätze, das ist alles, was Sie für die nächsten Tage brauchen.«
Pippa öffnete den Rucksack und musste grinsen: Sie entdeckte ein buntes Sammelsurium ihrer Kleidung, kein Teil passte zum anderen. Auf dem Laufsteg von Vivian Westwood würde ich damit für Furore sorgen, dachte sie. Sie freute sich, dass Régine auch ein paar Arbeitsmappen und den Laptop samt Tasche eingepackt hatte.
»Dieser Bruno ist wirklich brauchbar«, sagte Régine begeistert und strahlte Pippa an. »Und dieser Name: Bruno Brandauer! BB – diese Initialen stehen für Qualität – nur diesmal hat der weibliche Teil der Weltbevölkerung etwas davon.«
Die Parallele zwischen Bruno und Brigitte Bardot sah Pippa zwar nur in den Anfangsbuchstaben, aber sie gönnte Régine ihre Begeisterung.
»Dieser Hotte Kohlberger ist auch nicht zu verachten«, plauderte ihre Gastgeberin weiter und winkte Pippa, ihr in die Küche zu folgen. »Obwohl er mir ein bisschen zu mager vorkommt. Aber nichts leichter, als ihn auf mein Niveau zu bringen.«
Während Pippa vor ihrem geistigen Auge Hotte sah, der wie Hänsel in einem Käfig saß und von Régine gemästet wurde, vermischte die vermeintliche Hexe in einem Topf Calvados mit ein wenig Wasser und Gewürzen und stellte ihn auf den Herd.
»Die Milch lassen wir jetzt mal weg«, sagte sie, und Pippa nickte begeistert.
»Danke für meine Sachen«, sagte Pippa, »das ist genau, was ich brauche, um mich ein paar Tage vor Ferdinands Zorn zu verstecken. Was hat er denn zu seinem lädierten Lieferwagen gesagt?«
Régine stellte den Herd ab und drehte sich zu ihr um. »Nichts«, erwiderte sie und grinste, »er ringt immer noch nach Worten.«
Mit dem heißen Calvados gingen sie in den Wintergarten hinüber. Bevor Régine sich zu Pippa setzte, legte sie Feuerholz nach, um den Kamin noch einmal anzuheizen.
»Vorhin, kurz bevor Sie kamen«, sagte Pippa zögernd, »hatte ich den Eindruck, jemand schleicht ums Haus.«
Régine hob aufmerksam den Kopf. »Haben Sie jemanden gesehen?«
Pippa überlegte. »Nicht wirklich. Es war mehr so ein Gefühl, aber die Lichter gingen an.«
Die Wirtin runzelte die Stirn, und Pippa fand, sie sollte ihre Geschichte etwas entschärfen. Betont leichthin sagte sie: »Ich nehme an, das waren Tick, Trick und Track – oder wie heißen die bei Ihnen? Riri, Fifi und Loulou, oder? Sie sind ja nur noch zu dritt – Cedric macht hoffentlich bei diesen Spielen nicht mehr mit. Aber die anderen lassen sich bekanntlich weder von Wind noch von Wetter abhalten.«
»Sie glauben, die Chaos-Equipe war hier?«
Pippa zuckte mit den Achseln. »Wer sonst?«
»An jedem anderen Tag könnte das sein – aber nicht heute.«
»Und wieso nicht heute? Kennen Sie die Jungs so gut?«
Régine lächelte. »Besser als so manch anderer. Die vier gehen nicht auf den Berg, ohne bei mir vorbeizukommen und hier eine Cola zu schnorren. Ich habe mich nie an der Ausgrenzung der Didiers beteiligt. Die Jungs vertrauen mir.«
»Das mag sein, aber mir nicht.«
Régine schüttelte bestimmt den Kopf. »Ich war nicht nur mit Bruno in der Brasserie. Ich war auch bei den Didiers, ich komme sogar geradewegs aus dem Bonace. Keiner der Jungen war heute unterwegs. Das hätte mich auch gewundert. Heute ist der einzige Tag im Jahr, an dem die Jungen sich benehmen. Immer.« Sie sah Pippa ernst an. »Heute ist der fünfundzwanzigste Jahrestag des Verschwindens von Jean Didier.«