Kapitel 5
Im Haus war kein Laut zu hören, als Pippa bereits hellwach am geöffneten Fenster stand. Noch lagen Nebelschwaden über dem See, und die Farbpalette der Natur beschränkte sich auf Blau- und Grautöne. Sie beschloss, schon vor dem Frühstück spazieren zu gehen. Gegen die morgendliche Kühle zog sie sich eine Strickjacke über, bevor sie leise ihre Wohnung verließ und auf Zehenspitzen zum Notausgang schlich. Leise drückte sie die Verriegelung herunter und stellte einen Turnschuh zwischen Tür und Rahmen, um die schwere Eisentür später von außen wieder öffnen zu können.
Während sie die gewundene Stahltreppe hinunterstieg, ging in der Küche des Restaurants das Licht an. Geschäftiges Geschirrgeklapper erklang, und Pippa fragte sich, ob es wohl Pascal war, der seinen Dienst antrat. Als eine klare Frauenstimme und ein tiefer Bass ein fröhliches Duett anstimmten, von dessen Text Pippa kein Wort verstand, blieb sie stehen, um Ferdinand und Lisette zu lauschen. Das muss Okzitanisch sein, dachte Pippa und stellte mit Erstaunen fest, dass sie die Volksweise bereits aus den Tälern des Piemont kannte, wo sie früher mit Leo die Ferien verbracht hatte. Schon damals hatte diese harmonische Klangmischung aus Italienisch, Spanisch und Französisch ihr professionelles Interesse geweckt.
Sie schlenderte summend am Pool vorbei und über die Hauptstraße bis zum Staudamm, der den See schnurgerade von der dahinterliegenden Landschaft trennte. Linker Hand lag das Wasser, das für alle möglichen Wassersportaktivitäten genutzt wurde. Am Fuß des Dammes, im neuentstandenen Tal, hatte man ein Arboretum angelegt, zu dem ein gewundener Pfad hinunterführte. Pippa nahm sich vor, den Park mit seinen seltenen Baumarten bei einem ihrer nächsten Spaziergänge zu erkunden. Die Dammkrone war angelegt wie ein breiter Spazierweg, der von einer Seite von der steinernen Brüstung begrenzt wurde und von der anderen durch eine niedrige Hecke, die den Blick ins Tal vor der Staumauer kaum beeinträchtigte.
Pippa blieb vor einem großen Findling stehen, der an den Bau des Damms erinnerte. In den drei Jahrhunderten seit seinem Entstehen hatte sich der See so gut in die Landschaft eingepasst, dass er kaum noch als künstlich zu erkennen war. Sie lehnte sich über die Steinbrüstung der Staumauer, blickte in das klare Wasser und sog tief den Duft von Pinien ein, der vom Arboretum heraufwehte. Im Osten bauten sich beinahe drohend die höchsten Gipfel der Schwarzen Berge auf, die im Zwielicht ihrem Namen alle Ehre machten. Auf der Kuppe eines Hügels oberhalb des Campingplatzes thronte in einer Lichtung ein einsames Chalet. Gerade ging hinter diesem Haus die Sonne auf und ließ es einen Augenblick lang aussehen, als wäre es ihr Zentrum. Das musste die Privatpension namens »Paradies« sein, von der Alexandre Tisserand gesprochen hatte.
Pippa spazierte weiter und entdeckte eine Steintreppe, die auf der Landseite des Dammes zu einem Parkplatz führte, der von Besuchern des Arboretums und des Sees gleichermaßen genutzt wurde. Auf dem Parkplatz stand der Bus der Berliner Angler mitsamt Kühlwagen.
Ich fürchte, von denen wird es hier zu jeder Tages- und Nachtzeit wimmeln, dachte Pippa und beobachtete zwei ältere und einen jungen Mann, die der Treppe gegenüber an der Brüstung zum See standen und ins Wasser sahen. Die zwei Älteren hatten Angelruten ausgeworfen, der Jüngere stand daneben, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Er beobachtete jede ihrer Bewegungen, als erwartete er eine Offenbarung. Sie unterhielten sich auf Deutsch.
»Hier ist der Abfluss des Sees«, erklärte einer der Älteren gerade. »Wenn es geregnet hat, öffnet der Wasserwart die Schleusentore etwas weiter, damit mehr Wasser zu Tal fließen kann. Dieser Sog zieht viele Fische an, die nur darauf warten, angelandet zu werden.«
Der jüngere Mann sagte: »Klingt gut, Hotte, aber sind das nicht nur kleine Fische, die in diese Strömung geraten?«
Hotte lachte. »Wir geben dir nur einen kleinen Grundkurs. Heute Morgen geht es nicht um den Pokal, Abel. Heute wollen wir nichts anderes gewinnen als unser Mittagessen. Richtig, Rudi?«
Der Angesprochene, in dem Pippa den Busfahrer von der Mautstelle wiedererkannte, knurrte: »Grundkurs im Quatschen oder was? Sind wir hier, um die Flucht der Fische durch den Abfluss zu kommentieren, oder zum Angeln?«
Pippa spähte über die Brüstung, entdeckte aber statt des erwähnten Abflusses lediglich einen leichten Wasserstrudel, der die Stelle markierte, wo das Wasser in die Öffnung im Inneren des Damms drückte.
Sie grüßte die Angler freundlich, erntete jedoch lediglich ein desinteressiertes Kopfnicken, da in diesem Moment vom Vent Fou her ein Jogger auftauchte.
»Guten Morgen. Ihr seid ja früh auf.« Der Jogger, ein mittelgroßer, schlanker Mann um die vierzig, trabte auf der Stelle und grinste verlegen.
Hotte pfiff durch die Zähne und rief: »Schau an, der Lothar! Hat deine Holde dich aus dem Bettchen geschubst?«
»Ganz egal, wo er gerade ist und was er gerade tut – einem wird er immer untreu. Entweder seiner Frau oder seinem Verein«, setzte Rudi noch eins drauf, als wäre der Jogger gar nicht da.
»Und ich weiß nicht, was schlimmer ist.« Hotte wiegte den Kopf, als würde ihm dieser Umstand wirklich Sorgen bereiten.
Der Jogger stand jetzt still und wand sich unbehaglich. Er hielt eine große Tüte hoch und sagte: »Ich war nur in der Küche des Vent Fou und habe frische Baguettes geholt. Brötchen gab es keine.«
»Der Lothar backt nachts nicht mal kleine Brötchen«, feixte Hotte. »Arme Sissi.«
Hotte und Rudi schlugen sich vor Lachen auf die Schenkel, während der jüngere Mann die Augenbrauen hochzog. Sichtlich verärgert setzte der Jogger seinen Weg fort.
Am Ende der Dammkrone begann der Spazierweg, der in einigem Abstand zum Wasser um den ganzen See führte und dabei auch am Camp Turbulente der Legrands vorbeikam. Lisette hatte erwähnt, dass dieser Abschnitt des Seeufers zum Territorium des Vent Fou gehörte. Pippa beschloss, den Grillplatz des Campingplatzes in Augenschein zu nehmen, um entscheiden zu können, ob es sich lohnte, ihn einmal selbst zu nutzen.
Das einige Meter entfernt liegende Camp, das aus etlichen Zelten unterschiedlicher Größe bestand, war trotz der frühen Stunde bereits belebt. Ein paar Männer deckten einen mit Wachstuch bedeckten Tapeziertisch; ein weiterer hantierte mit einem Gaskocher.
Ein athletischer Mann mit Bürstenhaarschnitt brachte Pippa zum Lächeln: Wichtigtuerisch lief er von einem zum Nächsten und erteilte Befehle, die von den Angesprochenen weitgehend ignoriert wurden.
»Disziplin, Leute«, forderte er herrisch, »sonst ist das Frühstück heute Mittag noch nicht fertig! Wir sind schließlich nicht zum Spaß hier!«
»Doch, Blasko, sind wir«, konterte ein Hüne, der ein Tablett mit einer opulenten Käseauswahl trug.
Pippa erkannte ihn sofort: Er war der Mann, der an der Mautstelle die Schranke abgerissen hatte, als wäre sie ein Streichholz. Das ist also die komplette Angel-Equipe, dachte sie, die Kiemenkerle aus Berlin. Pascal hatte erwähnt, dass der Verein für zwei Wochen nicht nur das Camp, sondern auch die Angelrechte gemietet hatte – und das Leuchten seiner Augen hatte Pippa verraten, dass dies für den Koch ein lukratives Geschäft war.
Sie hob die Hand und winkte dem Riesen einen Gruß zu. Der stellte sofort sein Tablett ab und kam strahlend auf sie zu.
»Das ist aber schön, Sie hier zu treffen«, sagte er überschwänglich und hielt ihr eine riesige Pranke entgegen.
Pippa nahm sie vorsichtig, und der Mann packte zu, indem er seine zweite Hand schützend über die ihre legte.
»Sind Sie auch Anglerin?«, fragte er hoffnungsvoll.
Pippa war sich bewusst, dass sie allgemeine Aufmerksamkeit bei den anderen Männern erregten, als sie lachend erwiderte: »O nein. Vom Fischen habe ich keine Ahnung – nur vom Fisch essen.«
»Das heißt Angeln, Gnädigste«, sagte eine nasale Stimme hinter ihr. »Wann werdet ihr Weiber euch diesen Unterschied endlich merken? Ihr findet euch doch auch blind zwischen zig Gesichtscremes zurecht und merkt euch die Namen von hundert verschiedenen Designern!«
Pippa drehte sich zu der Stimme hinter ihr um. Dich habe ich doch auch schon gesehen, dachte sie. Du bist einer von denen, die zugucken, statt zuzupacken.
Vor ihr stand der leicht untersetzte Enddreißiger, der an der Mautschranke gute Ratschläge erteilt, selbst aber die Hände in den Taschen behalten hatte. Er trug einen strengen blonden Seitenscheitel und wirkte nicht nur neben dem hünenhaften Bruno Brandauer klein.
Das kannst du haben, dachte Pippa und sah ihn langsam von oben bis unten an. Dann sagte sie: »Ich merke es mir in dem Moment, in dem Männer mit Napoleonkomplex es nicht mehr nötig haben, sich wegen Lappalien aufzuplustern.«
Achim Schwätzers Gesicht verfärbte sich scharlachrot. »Was hast du überhaupt hier zu suchen?«, blökte er wütend. »Das ist hier Privatgelände. Von uns gemietet. Du hast hier nichts verloren, Gnädigste. Verschwinde.«
Pippa trat ganz nah an ihn heran und starrte in seine zornfunkelnden Augen. »Auch Ihnen einen schönen guten Morgen und einen friedlichen Tag.«
»Achim, du bist ein echter Idiot«, ereiferte sich der Riese und zog Pippa weg. »Ich bin Bruno Brandauer, und ich möchte mich für meinen Kollegen entschuldigen.«
»Das müssen Sie nicht«, erwiderte Pippa. »Er ist für sein Verhalten ganz allein verantwortlich.«
»Was ist denn hier los?«, fragte Gerald Remmertshausen, den die lauten Stimmen angelockt hatten. In seinem Kielwasser erschien ein älterer rotblonder Mann mit Angelrute. Er blinzelte neugierig durch die dicken Gläser seiner Nickelbrille und stellte sich nach der Begrüßung als Franz Teschke vor.
Pippa hob beschwichtigend die Hände. »Nichts passiert, wir haben nur die Claims abgesteckt.«
»Dann biete ich die Friedenspfeife an. Darf ich Sie mit einer frischen Tasse Kaffee entschädigen?«, fragte Brandauer freundlich.
Sie stimmte zu, und Bruno führte sie um das große Küchenzelt herum. Mit dem Rücken zu ihnen hantierte dort ein großer, blonder Mann mit einer Thermoskanne und füllte Steingutbecher mit dampfendem schwarzem Gebräu.
»Kann ich einen Kaffee für unseren Gast bekommen?«, fragte Bruno.
Der Mann drehte sich um und ließ die Tasse fallen. »Pippa!«, japste er und starrte sie entsetzt an.
Heißer Kaffee ergoss sich über ihre Schuhe und spritzte an die Hose.
»Au, verdammt!«, schrie Pippa. Dann sagte sie leiser: »Die Mordkommission. Guten Morgen, Wolfgang Schmidt.«
Bevor der verblüffte Bruno verstand, was los war, ergriff Schmidt unsanft Pippas Arm und zog sie mit sich in Richtung Wald. Er sprach kein Wort, bis sie außer Hörweite seiner Angelfreunde waren.
Endlich gelang es Pippa, sich aus seinem Griff zu befreien.
»Sie tun mir weh«, beschwerte sie sich und rieb sich die schmerzende Stelle am Oberarm. »Was soll denn das? Es kann doch so schlimm nicht sein, dass auch ich an Ihrem kostbaren See bin. Ich fang Ihnen ja nichts weg. Oder sind Sie undercover hier, und ich bin Gift für Ihre Tarnung?«
Schmidts Blick flog zu seinen Kollegen, die sich neugierig am Rand des Camps versammelt hatten und sie beobachteten. Auch die drei Männer, die Pippa bereits auf dem Staudamm gesehen hatte, gesellten sich zu ihren Freunden.
»Das ist seine Pippa?«, fragte Bruno mit betrübtem Gesicht. »Wie schade. Sie ist so nett. Wirklich so nett.«
»Sie muss ihm hinterhergefahren sein«, sagte Rudi. »Donnerwetter, die liebt ihn wirklich.«
Achim Schwätzer kniff die Augen zusammen. »Bei der hättest du sowieso keine Chance, Bruno. Emanzen wie die da wollen einen Mann mit Intellekt.«
Bruno Brandauer fuhr herum. »Ach ja? Und warum ist sie dann mit Wolle zusammen?«
Abel Hornbusch wirkte panisch. »Und wer bringt mir jetzt das Fischen bei? Wolle hat mir versprochen …«
»Es heißt Angeln«, zischte Schwätzer. »Und Wolle hat behauptet, dass du das schon kannst.«
Vinzenz Beringer wandte sich Schmidts verzweifeltem Schwager zu und sagte ruhig: »Keine Sorge, Abel – ich bringe dir beides bei.«
»Was machen Sie hier?«, blaffte Schmidt.
»Urlaub«, gab Pippa zurück und trat vorsichtshalber einen Schritt zurück.
Schmidt rückte nach. »Unsinn. Hier machen nur Leute Urlaub, die angeln wollen. Sie sind italienischer Strand und Sonnencreme.«
»Ach, und das wissen Sie so genau, weil wir zusammen einen Mordfall gelöst haben?«, fragte Pippa ironisch.
Er schnaubte und schob sie vor sich her in den Wald, bis sie vor den Blicken der anderen Männer geschützt waren. Schweigend liefen sie nebeneinander den Weg entlang.
»Wann reisen Sie wieder ab?«, fragte er schließlich.
»Ich bin gerade erst angekommen. Und ich werde einige Wochen hierbleiben«, schnappte sie beleidigt.
Er wandte sich ab und schlug fluchend mit der Faust gegen einen Baum.
Das wird ja immer schöner, dachte Pippa und sagte: »Ich finde zwar auch, dass wir uns unter denkbar ungünstigen Bedingungen kennengelernt haben, Kommissar Schmidt. Aber Ihre derzeitige Abneigung und Ihre offenkundige Wut über mein Erscheinen gehen mir nun doch etwas zu weit.«
»Das verstehen Sie falsch«, murmelte er.
»Was gibt es daran falsch zu verstehen? Sie zerren mich brutal aus dem Camp, Sie schreien mich an, Sie können kaum erwarten, dass ich wieder verschwinde. Klingt für mich nicht nach Wiedersehensfreude, Herr Kommissar.«
»Jetzt lassen Sie doch mal den Kommissar weg«, bat er und sah sie endlich an.
Pippa zuckte mit den Schultern, aber schwieg.
»Es ist so …«, sagte er verlegen drucksend, »Ihr Erscheinen ist für mich mehr als unangenehm. Sie sind nämlich mein Alibi. Gewesen.«
Auf diese unerwartete Enthüllung konnte Pippa nicht anders reagieren, als mit der Hand ein großes Fragezeichen in die Luft zu malen.
»Das ist jetzt sehr peinlich für mich«, murmelte Wolfgang Schmidt und lief rot an. Dann gab er sich einen Ruck. »Die Kiemenkerle glauben mir einfach nicht, dass ich nur wegen meines Jobs oft überhaupt nicht oder verspätet zum Angeln, zu Vereinsabenden oder zu Sitzungen erscheine. Kein Mensch nimmt mir ab, dass ich so viel arbeite. Besonders Achim Schwätzer reitet ständig darauf herum und behauptet, dass ich stattdessen …«
Er verstummte, aber Pippa ließ nicht locker. »Dass Sie stattdessen was tun?«
»In den Puff gehen«, antwortete er kaum hörbar.
Pippa lachte laut auf und rief: »Das ist das wahre Vereinsleben! Nicht einmal meine Mutter will so genau wissen, wo ich bin und was ich mache! Und schon gar nicht, mit wem.« Sie wurde wieder ernst. »Und was hat das mit mir zu tun?«
Schmidt holte tief Luft. »Nachdem wir uns vor einem Jahr kennengelernt haben, kam mir eine Idee. Um diesen ewigen Diskussionen aus dem Weg zu gehen, benutze ich Sie als Alibi. Immer, wenn ich keine Zeit oder Lust auf den Verein habe, besuche ich … Sie.«
»Sie haben mich als Ihre Freundin ausgegeben!«, sagte Pippa ungläubig.
Er zog den Kopf ein, als rechnete er mit einer Ohrfeige. »Hat problemlos geklappt. Bisher kannte Sie ja niemand.«
»Eines verstehe ich nicht. Sie hätten sich doch einfach jemanden ausdenken können.«
»So viel Phantasie habe ich nicht – und erst recht nicht genug Erinnerungsvermögen, um mir jede meiner Lügen zu merken«, antwortete er betreten. »Ich habe Sie im letzten Jahr einige Male erwähnt, nachdem die Ermittlungen abgeschlossen waren. Und als mich Bruno fragte, ob mit Ihnen was läuft … Sie sind doch nicht etwa verheiratet? Sie … tragen keinen Ehering.«
Pippa zögerte. Eigentlich ging es ihn nichts an, aber immerhin war die Scheidung offiziell eingereicht. »Ich lebe in Trennung«, sagte sie schließlich. »Das wird sich früher oder später ohnehin herumsprechen.«
Sie erreichten eine Wegbiegung mit einer Steinbank, von der aus man über den See bis hinüber zum Dorf schauen konnte. Schmidt ließ sich schwer auf die Bank fallen, und Pippa setzte sich neben ihn.
Der Kommissar stieß einen Seufzer aus. »Jetzt denken natürlich alle, wir hätten uns heimlich hier verabredet. Oder Sie wären mir gefolgt, um mich zu überraschen.«
»Ich bin eben eine treue Seele«, sagte Pippa ironisch und fing wieder an zu lachen. Schließlich stimmte Wolfgang Schmidt ein.
»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte sie, als sie sich wieder beruhigt hatten.
»Ich weiß nicht … Könnten Sie sich vielleicht vorstellen, die nächsten drei Wochen lang mitzuspielen? Nur vor den Jungs natürlich. Wir duzen uns, und ich lege mal den Arm um Ihre Schultern … ganz unverbindlich selbstverständlich.«
»Selbstverständlich«, wiederholte Pippa im Ton einer Sekretärin, die zwar weiß, dass ihr Vorgesetzter Unsinn redet, seine Wünsche aber dennoch ausführt. Sie schmunzelte. »Aber ich bestehe auf einer offenen Beziehung. Ich verbringe meine Zeit, wie es mir passt. Keinerlei Verpflichtungen Ihren Anglerkollegen gegenüber. Ich kann tun und lassen, was ich will.«
»Natürlich. Solange Sie es mit mir tun.«
Seine Stimme war ernst und sein Blick so intensiv, dass Pippa nicht einschätzen konnte, wie er seine letzte Bemerkung gemeint hatte.
Aus Verlegenheit versuchte sie es mit Ironie. »Verstehe – Angler sind eher konservativ.«
»Hm«, brummte er.
Plötzlich kam ihr eine Idee. »Vorschlag: Ich spiele deine Freundin, und wir fangen sofort damit an. Es würde seltsam aussehen, wenn wir uns weiterhin siezen, nicht wahr? Aber ich habe eine Bedingung.«
»Raus damit«, sagte er erleichtert.
Pippa erzählte ihm vom Haus in der Rue Cassoulet und dem damit verbundenen Ermittlungsauftrag. »Du könntest dein kriminalistisches Gespür einsetzen und mir helfen«, schloss sie.
»Sehr gern! Wenn das alles ist. Und die Jungs spanne ich auch ein. So kommen sie in den fangfreien Zeiten nicht auf dumme Gedanken und tun noch ein gutes Werk.«
»Mir oder dir?«
Als sie ins Camp zurückkehrten, hatte Wolfgang den Arm um sie gelegt. Die Männer am Frühstückstisch blickten ihnen neugierig entgegen, und Schmidt stellte sie offiziell als seine Freundin vor.
»Ach herrje«, sagte Franz Teschke, »noch eine mehr, die plappert.«
»Oder abspült«, schlug Achim Schwätzer gallig vor.
Vinzenz Beringer sah gelassen von einem zum andern. »Oder angelt.«
»Bloß nicht«, keuchte Schwätzer entsetzt, gab aber für den Rest des Frühstücks Ruhe.
Pippa und Schmidt meldeten sich freiwillig zum Spüldienst, was am Tisch Gejohle und jede Menge Sprüche auslöste, in denen das Wort »Turteltäubchen« mehrfach vorkam. Dann nahmen die meisten Männer ihr Angelzeug und gingen zum Ufer. Nur Vinzenz Beringer schlenderte am See entlang, die Hände in den Hosentaschen, und blieb ab und zu stehen, um über das Wasser zu blicken.
»Ihr seid eine ziemlich bunt zusammengewürfelte Truppe, oder?«, fragte Pippa.
Schmidt wühlte ungeschickt in der Schüssel mit heißem Wasser und jeder Menge Schaum. Er reichte ihr eine glitschige Tasse nach der anderen. »Sind wir das? Keine Ahnung. Ich kenne sie alle schon seit Urzeiten und habe mich an ihre Eigenheiten längst gewöhnt. Aber auf dich als Außenstehende wirken wir wohl etwas seltsam.«
»Ich habe die meisten erst vor ein paar Minuten kennengelernt, aber euer Bruno ist mir schon an der Mautschranke positiv aufgefallen.«
Schmidt prustete los. »Das war typisch Bruno! Er sieht aus, als würde er Lämmchen bei lebendigem Leib den Kopf abbeißen, ist aber der sanfteste Mann, den ich kenne. Er hat ein Herz aus Gold. Geistig manchmal ein bisschen langsam, aber das macht er durch seine Güte dreimal wett. Er betreut Obdachlose und setzt sich dafür ein, dass sie ein Heim bekommen, in dem ihre Hunde willkommen sind.«
»Bewundernswert. Und dieser verhinderte Kommisskopp?«
»Blasko. Von wegen verhindert. Er ist ein echter Oberfeldwebel und schafft es leider nur selten, seinen Rang zu vergessen.«
Pippa trocknete sich die Hände ab und sah sich um. »Wir sind fertig, oder? Ich zisch dann mal ab. Auf mich warten drei Männer, die mich für mein Erscheinen gut bezahlen.«
Wolfgang Schmidt schnappte unwillkürlich nach Luft und sah sie alarmiert an.
»Professor Archibald Rutledge von der Washington University in Seattle, Professor Benedetto Libri, Universität Venedig, und Professor Ludwig Trapp, Freie Universität Berlin«, erklärte Pippa, um ihn zu erlösen.
Der Kommissar atmete sichtlich erleichtert aus. »Papiertiger – mit denen nehme ich es allemal auf.«
Pippa lachte, denn Wolfgang Schmidt nahm seine Rolle als eifersüchtiger Partner ernster, als sie erwartet hatte. »Und nicht vergessen, du hast versprochen, die Kiemenkerle für den Cassoulet-Fall zu angeln. Ich verlasse mich darauf.«
»Versprochen.«
Pippa wandte sich zum Gehen, als Gerald Remmertshausen, sein Mobiltelefon am Ohr, gerade in einem der Steilwandzelte verschwand. Als sie an dem Zelt vorbeikam, hörte sie seine aufgebrachte Stimme: »Natürlich weiß ich, dass Sie mir keine Erfolgsgarantie geben können – aber ich muss es wenigstens versuchen. Wenn Sie nicht mit mir zusammenarbeiten wollen, suche ich mir eine andere Klinik!«
Manche nehmen ihren Job sogar mit in den Urlaub, dachte Pippa amüsiert. Genau wie ich.